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() Günter Netzer "Fußballer des Jahres" 1973
Deutsch reicht nicht mehr!

Sein Lebensstil war eine Provokation, sein Spielgefühl eine Offenbarung, seine Analysen haben Kultstatus. Günter Netzer ist die Autorität im deutschen Fußball. Das Genie der steilen Pässe über deutschen Stil, Jürgen Klinsmann und den kommenden Weltmeister.

Kaum ein Bereich unserer Gesellschaft ist so stark von der Globalisierung geprägt wie der Fußball. Dennoch heißt es, jede Nation pflege ihren eigenen, landestypischen Stil. Stimmt das heute noch, gibt es noch klar erkennbare Nationalstile? Die gibt es selbstverständlich noch. Über die Art und Weise, wie Mannschaften Fußball spielen, lassen sich gewisse landestypische Eigenheiten herleiten. Brasilianer bewegen sich einfach anders als Nordeuropäer, und das erkennt man in der Art und Weise, wie Fußball gespielt wird. Hier die überschäumende Freude, damit verbunden die Fähigkeit, den Ball zu beherrschen und nichts anderes zu wollen, als den Ball zu besitzen, auf der anderen Seite dieser eher doch unterkühlte Fußball nördlicher Regionen, dem andere Dinge wichtig sind. Ich rede hier nicht von Erfolg, aber es sieht einfach anders aus, und da gibt es seit vielen Jahrzehnten Anlehnungen an den Nationalcharakter. Im Fußball kehren die Spieler ihr Innerstes nach außen und präsentieren sich so, wie der Landesstil es zulässt. Aber fast sämtliche Spieler, die bei der WM eine entscheidende Rolle spielen, sind seit langem in Europa aktiv. Spricht das nicht für die Annahme, diese Spieler könnten für verschiedene Nationalstile gewonnen werden? Das ist keineswegs so – und davor muss man auch warnen, wenn man Landestrainer ist. Nehmen Sie die Brasilianer, sie haben ungeheuer davon profitiert, ihre Spieler nach Europa schicken zu können. Die Brasilianer waren teilweise zu verliebt in ihre eigenen Fähigkeiten, sie haben einen Fußball zelebriert, der an der Grenze zum Machbaren war und haben darüber vergessen, effizient zu sein. Die Spieler nun, die nach Europa gingen, sind mit einer anderen Kultur vertraut geworden und haben diese, für den Fußball unbedingt notwendigen, Eigenschaften in ihr eigenes Land transportiert. So entstand ein Fußball, den man nahezu perfekt nennen kann. Im Ausland lernen Spieler dazu, ihre speziellen Eigenheiten aber verlieren sie nicht. Auch die Unarten nicht, sonst müssten afrikanische Mannschaften längst Weltspitze sein. Bei der letzten Europameisterschaft war ein erstaunliches Phänomen zu beobachten. Mannschaften, die wie Portugal und Griechenland von einem ausländischen Trainer trainiert wurden, waren erfolgreich – auch Guus Hiddink mit Südkorea bei der letzten WM. Mannschaften aber, die ihren klassischen Nationalstil spielten und einen einheimischen Trainer hatten, der für diesen Stil stand, waren die großen Enttäuschungen, allen voran Völlers Deutschland und Trappatonis Italien. Offenbar sind kulturelle Kreuzungen auf Trainerebene sehr erfolgreich. Interessant, das ist für mich ein neuer Aspekt. Dennoch würde ich da keine Formel draus machen. Die Qualität eines Trainers liegt darin zu erkennen, was er mit seiner Mannschaft machen kann. Und es gibt einfach Notwendigkeiten, die der Fußball nicht verleugnen kann, das sind nach wie vor Ordnung, Disziplin, Physis, darüber hinaus aber auch Taktik und natürlich die entscheidenden, überragenden Persönlichkeiten, die die Spiele in Einzelaktionen entscheiden, wenn die eigene Mannschaft nicht mehr weiterkommt. Diese Persönlichkeiten braucht man in jedem Fall. Ich würde es als zu weit hergeholt betrachten zu sagen, dass Trainer aus anderen Fußballkulturen erfolgreicher sind. Bleibt die Frage nach dem deutschen Stil. Bei der EM in Portugal hat man im Hinblick auf die deutschen Tugenden durchaus nicht versagt. Sie haben gekämpft, sie waren diszipliniert. Dennoch ist man jämmerlich in der Vorrunde ausgeschieden. Es entstand der Eindruck, der klassische deutsche Stil sei nicht mehr vorzeigbar, schon gar nicht titeltauglich. Völlig richtig. Das unterschreibe ich sofort. Ordnung und Disziplin, Fitness sind wichtige Mosaiksteine, aber das reicht nicht mehr. Das besitzen die anderen mittlerweile auch. Früher führten wir die Entscheidung durch die deutschen Tugenden herbei, weil die anderen irgendwann zusammengebrochen sind, weil wir sie überrollt haben mit unseren Tugenden. Aber die anderen spielen mitt-lerweile einfach besser Fußball und sind körperlich gleichwertig. Deutschland hat also zu lange, bis hin zu Völler, an seinen alten Stilidealen festgehalten? Wir hatten doch gar keine Wahl! Wir haben zu wenige überragende Spieler gehabt, uns fehlten die Persönlichkeiten, die Ausnahmekönner, das ist uns abhanden gekommen, weil wir in der Nachwuchsförderung nicht aufgepasst haben. Ich habe das im Grunde schon 1998 bei der WM in Frankreich gesagt, dass uns viele Nationen rechts und links überholt haben. Nur aufgrund unserer Physis waren wir manchmal noch in der Lage, Spiele zu gewinnen. Die technischen Fähigkeiten waren teilweise verkümmert. Ist der Weg von Klinsmann mit seiner besonderen Betonung der Fitness dann der falsche Zugang? Nein, nein, keineswegs, wir werden auf unsere, ich kann es ja kaum noch aussprechen, typischen deutschen Tugenden zurückgreifen müssen. Das ist unsere Basis auch für diese WM, das ist für uns weiterhin besonders wichtig und unverzichtbar. Und dann müssen wir hoffen, dass sich die jungen Spieler weiterentwickelt haben. Das sind ja großartige Talente, auch mit technischen Fähigkeiten. Was ist mit Michael Ballack? Spielt der deutsch? Ja, sehr deutsch. Sein Torinstinkt, seine Schusskraft, seine Bereitschaft zu arbeiten, das ist deutsch.

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