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picture alliance/Mohammed Saber

Nahostkonflikt - Wie ich auf einen Hamas-Versteher hereinfiel

Was ist journalistische Unabhängigkeit? Sicher nicht, wenn man für einen Bericht über ein Hamas-Massaker eine Stellungnahme aus dem Umfeld der Terroristen kritiklos übernimmt. Und damit scheinbar die Todesstrafe billigt. Geschichte eines Lernprozesses

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Mein heutiger Text ist keine gewöhnliche Kolumne. Sie ist eine Stellungnahme und eine Bitte um Entschuldigung.

Unabhängigkeit, Quellenprüfung und kritische Distanz – das sind die wichtigsten Grundpfeiler der journalistischen Arbeit, wie ich sie in meinen Artikeln immer wieder aufzähle, ersehne, anmahne. Doch offenbar bin ich ihnen selbst nicht gerecht geworden. Ich bin auf einen Mann hereingefallen, der findet, dass die Hinrichtungen der Hamas im Gazastreifen „sehr sozial abgelaufen“ sind. Der sich nicht von der Todesstrafe distanziert. Der Stellungnahmen mutmaßlicher Terroristen kommentar- und kritiklos übernimmt.

Ich habe den Kriegsberichterstatter Martin Lejeune, der mehrere Wochen mitten im Bombenhagel in Gaza ausgeharrt hat, zitiert und lange gegen Anwürfe verteidigt. Zu Unrecht, wie sich nun herausstellt.

Ich war entsetzt, als ich Lejeunes am Dienstag veröffentlichten Blogbeitrag über die brutalen Exekutionen las. Protokollartig, fast im Bürokratendeutsch skizziert der freie Journalist die terroristische Tötungsmaschinerie, wenn er aus einem am Hinrichtungstag zirkulierenden Brief zitiert. Kein Wort der Einordnung oder des Bedauerns. Auf Cicero-Online-Anfrage hat er sich bislang nicht dazu geäußert.

„Es gibt Kriegsberichterstatter. Und schreibende Kombattanten.“


Lejeune schreibt, „ordentliche palästinensische Gerichte“ hätten bereits vor Ausbruch der „Operation Protective Edge“ das Todesurteil über sehr viele der 18 „Kollaborateure“ verhängt. Er hinterfragt nicht, ob diese Gerichte überhaupt legitimiert sind.

Lejeune behauptet, alle Menschen im Gazastreifen seien sich einig, dass „man etwas gegen Kollaborateure tun muss, weil die Kollaborateure wirklich eine Gefahr darstellen für die Sicherheit der Menschen“. Weiter schreibt der Autor unter Bezugnahme auf den Brief: „Um das soziale Miteinander (…) nicht zu gefährden, haben die Behörden weder die Namen der Kollaborateure genannt noch die Fotos der Täter verbreitet. Die (…) Kinder der 18 werden wie die Kinder von Märtyrern behandelt, also finanziell und sozial versorgt. Dies alles ist sehr sozial abgelaufen.“

Der taz-Korrespondent Pascal Beucker, der als erster auf Lejeunes Blogbeitrag aufmerksam machte, schrieb bei Facebook: „Es gibt Journalisten, die als Kriegsberichterstatter arbeiten. Und es gibt schreibende Kombattanten.“ Martin Lejeune gehöre zur letzteren Gruppe.

Der Blog Ruhrbarone nennt den Vorgang ein „Novum in der hiesigen Presselandschaft“.

Ich kenne Israel und den Gazastreifen nur aus der Zeitung. Und doch habe ich mich mit wenigen unbedachten Sätzen mitten hinein in den Nahostkonflikt begeben. „Dass sich die Debatte um journalistische Unabhängigkeit an einem freien Journalisten Bahn bricht, der unter Einsatz seines Lebens von der Front berichtet“ müsse „doch einige Medienkonsumenten zweifeln lassen“, schrieb ich da.

Die Nahostkorrespondenten dementierten


Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts von Lejeunes Haltungen. Es gab in einigen deutschen Medien eine Debatte darüber, ob der freie Autor einen Spendenaufruf für die „Freunde Palästinas“ auf seinem Blog veröffentlichen durfte. Ich war der Ansicht: ja. Lejeune hatte der BBC ein Interview gegeben und schrieb für viele internationale Medien, darunter der „Standard“ aus Wien. Lejeune bloggte, twitterte, stellte Videos ins Netz und sorgte damit für einiges Naserümpfen bei den Etablierten – so mein Eindruck. Auch der Journalist und Moderator Tilo Jung hatte Lejeune für seine Reihe „Jung & naiv“ interviewt.

Im Magazin für Medienkritik und Medienwissenschaft „Vocer“ behauptete Lejeune: „Zwischen dem 7. Juli und dem 3. August [war] kein deutscher Korrespondent außer mir im Gazastreifen (…). Seit dem 4. August sind auch einige deutsche Korrespondenten hier, aber während dieser schweren Zeit davor eben nicht.“

Das Interview datierte vom 11. August. Bis meine Kolumne am 14. August erschien, gab es kein Dementi und auch keine Richtigstellung unter dem Interview. In der Social-Media-Welt sind drei Tage eine Ewigkeit. Deshalb hatte ich keinen Grund, am Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu zweifeln. Im Telefonat bestätigte mir Lejeune erneut diese Daten. Ich eignete mir sie dennoch nicht als „Fakt“ an, sondern formulierte im Konjunktiv. Martin Lejeunes Erfahrung als einziger deutscher Journalist im Bombenhagel jedenfalls schien meine These zu stützen, dass Medien selbst in Krisengebieten nur sehr oberflächlich hinsehen. Auch der Deutschlandradio-Kommunikationschef konnte mir im Gespräch nicht erklären, welches Problem sein Sender, der zuvor kurzfristig ein Interview mit Lejeune abgesagt hatte, konkret mit dem Gaza-Reporter habe.

Erst nach der Veröffentlichung meines Artikels kamen die ersten Dementis von deutschen Nahostkorrespondenten herein. Markus Rosch, ARD-Korrespondent in Tel Aviv, twitterte ein Bild seines Grenzstempels und stellte bei Cicero Online richtig: „Seit Beginn der Luftangriffe waren viele deutsche Journalisten im Gaza-Streifen.“ Neben der ARD seien auch das ZDF, die Deutsche Welle, die Süddeutsche Zeitung und einzelne freie Kollegen dort gewesen. Bei Twitter entspann sich eine Diskussion, ob die betreffenden Korrespondenten auch zum Zeitpunkt des Bombardements länger in Gaza recherchiert hätten. Der ARD-Studioleiter bejahte das. Die „Welt“-Journalistin Vanessa Schneider ergänzte, dass sie knapp sechs Tage dort gewesen sei, die N24-Berichterstatter vier Tage.

Der „Jung & Naiv“-Moderator Tilo Jung distanzierte sich das erste Mal öffentlich von einem Gesprächsgast. Martin Lejeune lasse „journalistische Ethik vermissen und scheint sich stattdessen instrumentalisieren zu lassen“.

Ich hätte prüfender hinschauen müssen


„Vocer“-Redakteur Jan Ewringmann, der das Interview in dem Medienmagazin mit Lejeune geführt hatte, beteuert auf Cicero-Online-Anfrage, dass er den freien Journalisten zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht kannte, aber für seriös hielt: „Die Tatsache, dass er Beiträge in der Frankfurter Rundschau und der taz veröffentlicht hatte, war für mich ein Indiz, dass er ernst zu nehmen war.“

Die alternative Tageszeitung teilte indes bei Twitter mit, dass Lejeune in den vergangenen zehn Monaten nur einen Artikel in dem Blatt veröffentlicht habe.

„Vocer“-Redakteur Ewringmann zeigte sich von Lejeunes jüngstem Blogbeitrag über die Hamas-Hinrichtungen „schockiert“: „Es mangelt darin an kritischer Distanz und irgendeiner Form von Reflexion, die man ganz klar erwarten muss von jemandem, der sich Journalist nennt.“ Der Text lese sich wie eine Stellungnahme der Hamas. „Es erschließt sich nicht, wo hört die Pressemitteilung auf und wo fängt der Kommentar an.“ Der Medienwissenschaftler zeigte sich „verwundert“, dass Martin Lejeune einen solchen Artikel veröffentlichte, obwohl Zweifel an der journalistischen Unabhängigkeit des Reporters doch schon wochenlang thematisiert worden waren.

Eben weil es diese Zweifel gab, ist es mein Versagen, nicht noch prüfender hingeschaut zu haben. Ich hätte früher auf meine Kritiker hören sollen.

Dieser Tage hat ein früherer Nahostkorrespondent der US-Nachrichtenagentur „Associated Press“, Matti Friedman, einen beeindruckenden Artikel über die verzerrte Israel-Berichterstattung verfasst. Er sprach nicht für Deutschland, wo das Verhältnis zu Israel noch ein ganz anderes ist, sondern für Amerika. Doch auch dort werde jeder Fehler in der israelischen Gesellschaft „aggressiv berichtet“. Als der damalige Ministerpräsident Ehud Olmert 2009 den Palästinensern ein wichtiges Friedensangebot unterbreitet habe, sei das nicht berichtet worden, „obwohl das die größte Geschichte des Jahres hätte werden müssen“. Das Narrativ der verantwortlichen AP-Redakteure sei gewesen, „dass die Palästinenser moderat waren und die Israelis widerspenstig und zunehmend extrem. Über das Olmert-Angebot zu berichten – oder zu tief in die Hamas-Thematik einzusteigen – hätte dieses Narrativ als Nonsense entlarvt.“ Die Journalisten hätten den Fakt also mehr als anderthalb Jahre ignoriert.

Nochmals: Friedman berichtete für eine Nachrichtenagentur. Für ein Medienunternehmen also, das Zeitungen, Radio und Fernsehen Rohfakten liefern soll. Meldungen, keine Meinungen. Trotzdem würden viele jener Medienleute, die entscheiden, was die Menschen aus dem Nahen Osten zu lesen und zu sehen bekommen, ihre Rolle nicht als beschreibend, sondern als politisch verstehen, schreibt Friedman. „Berichterstattung ist eine Waffe, die diese Leute je nach Laune ihrer Lieblingsseite überlassen.“

Worte sind der Wirt des Krieges. Sie mästen ihn. Manchmal müssen sie erst verstummen, damit auch der Krieg stirbt.

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Sandra Kreisler | Do., 4. August 2016 - 09:39

Zunächst finde ich es ausgesprochen achtenswert, wenn Sie umdenken und das noch dazu öffentlich zugeben. Umdenken ist schwer - das vor sich selbst zugeben noch schwerer, vor anderen: Ausnahmehaltung! Aber: MIT-denken wäre auch sinnvoll. zB wenn Sie einfach schreiben, dass die Familien der Ermordeten "wie Märtyrer Familien behandelt und finanziell unterstützt werden" Da könnte man schon einen Halbsatz darüber verschwenden, dass Märtyrer in dem Zusammenhang heisst: Selbstmordattentäter, Messerstecher, Zivilistenmörder, deren Taten nicht nur mit Feiern in den Strassen und Bonbonverteilungen geehrt werden, sondern deren Familien eben auch plötzlich regelmässig ziemlich viel Geld bekommen. Was auch ein Motiv der ständigen Attentate gegen israelische Zivilisten ist. Diesen Satz einfach so zu übernehmen führt nämlich ebenfalls zu ziemlich vielen Menschen, die über derlei Fakten weder informiert werden noch nachdenken...