28. September 2022: Gas aus der gesprengten Nord-Stream-2-Pipeline tritt an die Meeresoberfläche / dpa

Meistgelesene Artikel 2023: Februar - Nord Stream 2: Und wenn es doch die USA waren?

Reporterlegende Seymour Hersh berichtet auf seinem Blog, wer nach seinen Recherchen wirklich hinter dem Anschlag auf die deutsch-russische Nord-Stream-Pipeline steht. Sein Text sorgt prompt für Widerspruch. Und scheint dennoch schlüssig zu sein. Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im Februar.

Ralf Hanselle / Antje Berghäuser

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Zum Jahresende blicken wir auf die Themen des Jahres 2023 zurück und rufen die Cicero-Artikel in Erinnerung, die am meisten Interesse fanden. Lesen Sie hier: den meistgelesenen Artikel im Februar.

Sy Hersh ist eine Legende. Was der mittlerweile 85-jährige Investigativjournalist und einstige Autor des Magazins New Yorker sagt oder – noch schlimmer – schreibt, das hat Gewicht. Auch heute noch. Man kann Hershs Rolle für die Selbstreinigungskräfte der amerikanischen Demokratie gar nicht hoch genug einschätzen. Vielleicht ist sie einzig noch vergleichbar mit der von Bob Woodward und Carl Bernstein, den einstigen Watergate-Aufklärern von 1972. 

Seymour Myron Hersh, so der volle Name des 1937 in Chicago geborenen Top-Journalisten, hat mit seinen Essays, Reportagen und Büchern, wie es dann immer so schön heißt, nicht nur Geschichte(n) geschrieben. Er ist selbst Geschichte geworden. Hersh hat zum israelischen Atomwaffenprogramm recherchiert und zum Golfkriegssyndrom geschrieben. Bis heute wirklich legendär aber sind seine Recherchen zum Massaker im vietnamesischen My Lai, die zusammen mit den unvergesslichen Fotos von Nick Ut den Anfang vom Ende des amerikanischen Abenteuers in Indochina markierten. Gegen diese Nachrichten konnte selbst ein harter Hund wie Richard Nixon damals nicht mehr anregieren. 

Und ebenso bahnbrechend wie auch erschütternd seine Artikelserie über das Foltergefängnis Abu Ghraib. 2003 verfasste er diese zunächst für den New Yorker. Ein Jahr später erschienen sie unter dem Titel „Chain of Command“ als Buch und wurden ein Bestseller. Kurz: Es gibt wohl kaum eine Schweinerei in der zweiten Hälfte des einst von Henry Luce so hoch gelobten „amerikanischen Jahrhunderts“, der Hersh nicht irgendwann auf die Schliche gekommen wäre.

Auf Bidens Befehl

Da lässt es aktuell besonders aufhorchen, wenn nun ausgerechnet dieser Sy Hersh am Mittwoch einen Text auf seinem eigenen Blog veröffentlicht, in dem er den USA – genauer gesagt, Tiefseetauchern der U.S. Navy – die unmittelbare Verantwortung für die Sprengung der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream 2 zuschreibt: „Im vergangenen Juni platzierten Taucher der Marine, die unter dem Deckmantel einer breit publizierten Nato-Hochsommerübung namens BALTOPS 22 operierten, den ferngezündeten Sprengstoff, der drei Monate später drei der vier Nord-Stream-Pipelines zerstörte, so eine Quelle mit direkter Kenntnis der operativen Planung“, schreibt Hersh in einer anfangs noch sehr plastisch gehaltenen Reportage über die Hintergründe jenes Anschlags auf die deutsche Energieinfrastruktur, der bis heute zahlreiche Rätsel aufgibt. 

 

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Präsident Biden, der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, Außenminister Tony Blinken und Victoria Nuland, Unterstaatssekretärin für Politik, hatten sich laut Hershs Recherchen zuvor immer wieder klar und deutlich gegen Nord Stream 1 wie Nord Stream 2 ausgesprochen. Beide verlaufen von zwei verschiedenen Häfen im Nordosten Russlands aus nahe der estnischen Grenze 750 Meilen unter der Ostsee in der Nähe der dänischen Insel Bornholm vorbei, bevor sie in Mecklenburg-Vorpommern schließlich wieder an die trockene Oberfläche kommen. 

Laut Hersh soll Bidens Entscheidung, die Pipelines zu sprengen, nach mehr als neun Monaten hochgeheimer Debatten darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei, getroffen worden sein. Dabei soll es gar nicht so sehr um das „Ob“, als um das „Wie“ der späteren Operation gegangen sein. Denn die US-Administration fürchtete laut Hersh von Anfang an, dass Deutschland wie der Rest Europas zunehmend vom billigen russischen Erdgas abhängig werden könnte – während die Abhängigkeit von Amerika abnehmen würde.

Die Zweifel liegen offen zutage

Dieser Artikel schlug ein wie eine Bombe. Und das nicht, weil die Schuldrochade von Russland in Richtung USA publizistisch sonderlich neu gewesen wäre. Bereits im vorigen Dezember war ein aufschlussreicher Artikel in der Washington Post erschienen, der unzählige Hinweise darauf gab, warum es vermutlich nicht die Russen waren, die die Röhren gesprengt hatten. Und selbst die Bundesanwaltschaft hat erst in der letzten Woche erklärt, dass sie keinen Hinweis auf eine russische Täterschaft habe. Nein, was am gestrigen Artikel wirklich für Aufsehen sorgte, das war einzig und allein der Autor selbst: Seymour Myron Hersh. Wusste er wieder mal mehr als die anderen?

In Deutschland scheint das kaum vorstellbar zu sein. Und so überschlagen sich zahlreiche Medien seit gestern auffällig in dem Bemühen, offizielle Stimmen aus den USA zu publizieren, die Zweifel an Hershs Version der Geschichte schüren: Das Weiße Haus, so kann man nun vom Bayerischen Rundfunk über Die Welt bis hin zum Deutschlandfunk hören, habe den Bericht des Investigativreporters zurückgewiesen. Das sei „völlig falsch und eine vollkommene Erfindung“, wird eine Adrienne Watson, Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, in verschiedenen Zeitungen und Online-Medien prominent zitiert. 

Was aussieht, als schriebe hier einer vom anderen ab, ist in Wahrheit aber nur ein Satz aus Hersh eigenem Text. Der nämlich macht überhaupt kein Hehl daraus, dass er als guter Journalist auch das Weiße Haus in einer E-Mail um Stellungnahme gebeten und hernach die oben angeführte Antwort erhalten habe.

 

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Tomas Poth | Do., 28. Dezember 2023 - 16:07

... der Besatzungszeit nach fast 80zig Jahren.
Aber solch vorgehen ist illusorisch, das kann man nicht von unserer sklavisch gefangenen US-Nato orientierten politischen Klasse erwarten.
Die müssen deshalb alles daran setzen, daß die Aufklärung dieses Verbrechens verhindert wird oder rechtssichere Spuren legen, die es ermöglichen andere haftbar zu machen,
Diese Spurenlegung wird immer wieder versucht, zuletzt ein Segelboot aus Rostock mit polnisch/ukrainischer Hintermännern und Besatzung.
In hundert Jahren, wenn die Geheimdokumente vielleicht gelüftet werden, wird man es wissen. Aber dann interessiert dies keinen mehr wirklich, weil niemand mehr haftbar gemacht werden kann. Und sowieso alles Schnee von gestern ist.
Es braucht Zeit die USA in interne Konflikte zu führen, um sie zu schwächen und unsere Freiheit ein Stück für uns zurück zu gewinnen. Um Angriffe dieser Art auf unser Land gegen den Aggressor auch abstrafen zu können.

Tomas Poth | Do., 28. Dezember 2023 - 16:07

Ich gehe einfach davon aus das es so ist,
was Sey Hersh uns sagt.
Was bedeutet das?
Ich ziehe da als vergleichendes Beispiel den russischen Einmarsch in die Ukraine heran.
In beiden Fällen geht es um die eigenen Interessen der jeweiligen Großmacht!
Rußland will sich die Nato vom Hals halten und sein Einflussgebiet Ukraine sichern.
Die Ukrainer können sich dagegen wehren und werden von der Nato in ihrem Bemühen unterstützt!
Die USA wollen verhindern, daß Deutschland mit seinen günstigen Gaseinkäufen a) Rußland einen wirtschaftlichen und strategischen Erfolg ermöglicht (Finanzierung der russischen Rüstung durch Gasverkäufe an Deutschland)
und b) Deutschland als internationaler Wettbewerber geschwächt wird.
Deutschland kann sich nicht dagegen wehren, es müßte ja die USA angreifen, einen bündnisinternen Krieg führen, zu dem es gar nicht in der Lage wäre.
Gut man könnte sämtliche amerikanischen Stützpunkte auf deutschem Boden umstellen, entwaffnen und zum Abzug zwingen. Beendigung der ...

Christa Wallau | Do., 28. Dezember 2023 - 17:58

Das ist immer die wichtigste Frage, wenn es darum geht, einen Anschlag oder ein Verbrechen aufzuklären.
Wer hat den Nutzen davon?

Zweifellos sind es die USA und ihre engsten Verbündeten im Geiste, welche das größte Interesse daran hatten, die Pipeline von Rußland nach Deutschland zu sprengen, die ihnen von Anfang an ein Dorn im Auge war.
Daher ist es für mich plausibel, Herrn Hershs Aussagen Glauben zu schenken.

Ich traue der amerikanischen Regierung die gleichen Geheimoperationen und Lügen zu wie jeder anderen Regierung, die über ähnliche
technische Möglichkeiten und Dienste verfügt, wie z. B. China und Rußland.
Die Methoden mögen unterschiedlich sein, die kriminelle Energie dahinter ist dieselbe.
Wo es um schiere Macht und ungeheuer viel Geld geht, hat jede Moral ausgedient - in den USA genauso wie anderswo.

Stefan Jarzombek | Do., 28. Dezember 2023 - 23:58

Bestimmen die Deutschen ihre Politik selbst oder nur im Kontext der Siegermächte von 1945 ?
Ich bin mir da nicht so ganz sicher.War die kommunistische Sowjetunion nicht auch eine Siegermacht und schlimmer als Putin? 🤔
Hat jemand eine Antwort auf diese Frage? 🤔
"Wo es um schiere Macht und ungeheuer viel Geld geht, hat jede Moral ausgedient - in den USA genauso wie anderswo."
Asche auf unser Haupt bis zum erbrechen? 🤔
Wer hat welchen Vorteil und wovon?
Was wäre passiert, wenn Deutschland die Sanktionen gegen Russland nicht mitgetragen hätte? 🤔
Was ist eigentlich die Souveränität eines Staates? 🤔
Ach, lassen wir das. Der Sieger dominiert und die Interessen überwiegen...
ABHÄNGIGKEIT...
nicht nur von Öl und Gas ist hier die Frage, sondern von dem WOHLWOLLEN anderer Staaten.
Wenn ein Staat erst nix mehr zu geben hat ...
Vielleicht lässt man ihn dann ja laufen. 😉
Harren wir der Dinge die noch kommen werden.

Ernst-Günther Konrad | Fr., 29. Dezember 2023 - 10:59

Wie meine Mitforisten auch fragt man sich automatisch, wer hat da welchen nutzen, will welches Ziel erreichen? Man hat inzwischen bewusst verschiedene Hintergründe geliefert um an am Ende Variante, die der Wahrheit am nächsten kommt als Verschwörungstheorie abzutun.
Auch ich bin der Theorie und Analyseergebnissen von Simon Hersh sehr nah und halte deshalb den Versuch ihn zu einen Verschwörer zu erklären für jetzt schon als misslungen. Aber wie bei vielen Vorgängen auch, bei denen die USA die Finger im Spiel hat, werden wir die Wahrheit nie, in Scheibchen oder erst nach Jahrzehnten erfahren. Solange wird aus allen Richtungen über die Vorgänge spekuliert und immer neue Theorien oder "Details" hinzugesponnen, das wir am Ende wieder einmal, wie bei vielen anderen Vorkommnissen den Überblick verlieren sollen. Es ist die übliche Taktik durch viele Informationen und angebliche "wahre" Äußerungen, einen Schleier über die Geschehnisse zu decken.

Urban Will | Fr., 29. Dezember 2023 - 11:50

In der PK vom 07.02.22, kurz vor Kriegsbeginn, sagte Biden, während Scholz neben ihm stand, sinngemäß: Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird es kein NS 2 mehr geben. Auf Nachfrage, wie man es anstelle, sagte er (sinngemäß): Ich verspreche Ihnen, wer werden es schaffen.
Wer es also gemacht hat, ist meiner Meinung nach ziemlich klar, die Frage ist, ob es in direkter Absprache mit der Bundesregierung geschah, diese also alles wusste.
NS 2 ist, bzw. war geplant als eine unserer Hauptenergiequellen.
Eine umfängliche Aufklärung wäre das Mindeste, was man erwarten könnte.
Dass dies nicht geschieht, spricht Bände. Niemand hat ein größeres Interesse am Ende von NS als die USA.
Denn: egal wann und wie der Krieg endet, gerade wir Deutschen sollten mit Blick auf 1945 aufhören, ein Land für alle Zeiten zu verdammen und daher wäre es wichtig, diese Röhren zu erhalten für Zeiten, wo wir wieder mit Russland gute Beziehungen pflegen.
Und genau das will Sam nicht.