Henry Kissinger und Helmut Schmidt 1974 / picture alliance

Nachruf auf Henry Kissinger - Ein Glücksfall für Deutschland

Zeit seines politischen Lebens zeichnete sich der ehemalige amerikanische Außenminister und Friedensnobelpreisträger durch seinen schonungslosen Realismus, seinen gründlichen Intellekt und seine Verbundenheit zu Deutschland aus.

Ulrich Schlie

Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Gestern, am 29. November, entschlief im Alter von 100 Jahren in seinem Haus in Connecticut Henry Kissinger. Geboren wurde Alfred Heinz Kissinger am 27. Mai 1923 als Sohn der Eheleute Paula und Louis Kissinger im fränkischen Fürth; 1938 floh die jüdische Familie vor den Nazis in die Vereinigten Staaten. Henry – wie er sich in Amerika nannte – Kissingers Leben war ein Jahrhundertleben. Er war ein Mann (und Zeuge) dieses Jahrhunderts. 

Von 1969 bis 1977 war er zunächst Nationaler Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und ab 1973 zeitweise in Personalunion Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister, und schließlich diente er unter Präsident Gerald Ford bis 1977 weiterhin als Außenminister. Diese weit zurückliegenden Stationen beschrieben nur unvollkommen seine historische Bedeutung. Kissinger hat seit Präsident John F. Kennedy alle amerikanischen Präsidenten beraten und ist bis zum Schluss gefragter Ratgeber auf der ganzen Welt geblieben.

Einer der ganz großen Diplomaten des 20. Jahrhunderts

Es gibt wohl niemanden, der ähnlich gründlich über die Weltpolitik in ihren historischen Bezügen nachgedacht hat und der mit seinen ungezählten Interviews, seinen zahlreichen Büchern und Aufsätzen die Weltlage in ihren historischen Bezügen immer wieder auf den Punkt zu bringen verstand. Sein letztes Buch über die Staatskunst ist eine Hommage an die Klassiker der Großen Politik von Truman bis Reagan, von Adenauer und de Gaulle bis Thatcher. Er war selbst einer der ganz großen Diplomaten des 20. Jahrhunderts. 

In seiner Zeit als Außenminister hat er die Aussöhnung zwischen den Vereinigten Staaten und China mit seiner Pendeldiplomatie auf den Weg gebracht, und er hat unablässig für Amerikas europäische Verbündete um Verständnis geworben und die atlantische Gemeinschaft gestärkt. Im Zusammenhang mit der Beendigung des Vietnamkriegs war er freilich auch eine kontroverse Figur und hat viele der gegen die amerikanische Politik gerichteten Pfeile auf sich gezogen. Als ihm 1973 gemeinsam mit dem nordvietnamesischen Chefunterhändler Le Duc Tho der Friedensnobelpreis verleihen wurde, hat er auf die persönliche Entgegennahme verzichtet.

Seine eigentliche Bedeutung hat er freilich erst nach seiner Amtszeit vollumfänglich entfalten können. Wie nur ganz wenige hat er dabei über Diplomatie und Staatskunst aus dem großen Fundus seiner persönlichen Erfahrungen schöpfen können. Und Kissinger war immer ein Interpret seiner selbst. Die Erinnerungen an seine achtjährige Amtszeit als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister in Washington in den Jahren 1969 bis 1977 umfasst drei Bände und knapp 4000 Seiten.

Kissinger war immer hellwach, neugierig, nie arrogant

Vor allem für Deutschland war Henry Kissinger ein Glücksfall. Denn es gibt in den letzten 50, 60 Jahren wohl keinen einflussreicheren amerikanischen Politiker, der ein ähnlich tiefes Verständnis für Deutschland aufgebracht hat, auch niemanden, der sich ähnlich umfassend für Deutschland interessiert hätte. Henry Kissinger ist für deutsche Kanzler und Amerikabesucher bis zuletzt ein besonders geschätzter Gesprächspartner gewesen. Franz Josef Strauß, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker, nicht zu vergessen Marion Gräfin Dönhoff – sie alle hatten einen persönlichen Draht zu ihm. Und umgekehrt gab es wohl niemanden, der in Washington für deutsche Positionen besser werben konnte als er. Burden sharing in der Nordatlantischen Allianz, größere internationale Verantwortung, Deutschland als europäische Macht – dies sind die Themen, mit denen er sich zeitlebens beschäftigt hat.

 

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Kissinger war im persönlichen Umgang immer hellwach, neugierig, nie arrogant. Er verstand es, seine jeweiligen Gesprächspartner mit Fragen zu Aussagen zu bringen, die er messerscharf in sein großes analytisches Gesamtgebilde einzupassen verstand. Diese Fähigkeit, Interesse zu erwecken, seine nie versiegende Neugier und die Zugewandtheit zu ganz unterschiedlichen Menschen haben ihn in der Diplomatie und Politik zu einer Ausnahmeerscheinung gemacht.

Sein Rat wird fehlen

Henry Kissinger hat seiner Vaterstadt Fürth bis zuletzt die Treue gehalten. Noch im Juni hat er bei einer großen Veranstaltung vermächtnishafte Sätze mit auf den Weg gegeben. In Fürth hat er bis zu Hitlers Machtergreifung die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht. Im April 1938 gelang ihm mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Walter die Emigration in die Vereinigten Staaten. Die unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus erschlossen sich ihm in ihrer ganzen abgründigen Dimension erst, als er bei Kriegsende als amerikanischer Staatsbürger und Soldat nach Deutschland zurückkehrte. 

Er hätte allen Grund gehabt, den Deutschen Hitlers Ermöglichung und den Zivilisationsbruch der Schoa nachzutragen. Stattdessen hat er als Idealist und Realist zugleich alles getan, damit Deutschland nach dem verlorenen Krieg eine zweite Chance bekommen sollte. In den letzten Jahren hat seine Sorge um Deutschlands Kurs in einer veränderten Weltlage zugenommen. Zur Zuversicht kamen Töne der Skepsis hinzu. Sein Rat wird fehlen, sein Vermächtnis, die Sorge und Verantwortung um den Frieden in der Welt, sein Einsatz für Demokratie und Freiheit, bleiben.

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Stefan Jarzombek | Do., 30. November 2023 - 14:23

"Zeit seines politischen Lebens zeichnete sich der ehemalige amerikanische Außenminister und Friedensnobelpreisträger durch seinen schonungslosen Realismus, seinen gründlichen Intellekt und seine Verbundenheit zu Deutschland aus."
Und nun schauen wir einmal wie es heutzutage um das Außenministerium und die Sicherheitspolitik bestellt ist.
Ich sage blos Annalena Baerbock und Nancy Faeser in Deutschland.
Kissinger hat es vorgemacht. Beispielsweise Vietnamkrieg, Regierung Nixon, das war sicherlich nicht einfach. Gemeistert mit Bravour.
Im Gegensatz zu den USA im Vietnamkrieg, ist die BRD lediglich ein Statist im Bezug auf den Konflikt in der Ukraine. Diplomatische Klugheit war auch bei der UN Abstimmung kürzlich zu vermissen.
"Die Vereinten Nationen stimmen gegen Israel ab – und Deutschland duckt sich wieder weg!" (Quelle BILD).
Kissinger hätte sicherlich ein Rezept gefunden womit jeder gut leben kann,vielleicht sogar auch ein Joschka Fischer. Heute anstatt Genscher eben-TOTALAUSFÄLLE

Naumanna | Do., 30. November 2023 - 14:36

Vielleicht ist Kissinger der letzte seiner Art. Wie können wir es schaffen, dass wieder Menschen seines Schlages in die Regierungsverantwortung kommen.
Schaut euch doch einmal die Versagerin auf ganzer Linie , Baerbock , dagegen an.

Henri Lassalle | Do., 30. November 2023 - 15:17

Mit Recht. Damit meinte er wohl die kurzsichtige, wenn nicht folgenschwere naive Haltung der deutschen Regierung gegenüber Russland.

Kissinger mit mit seinem beinahe krudem Realismus legiert mit Pragmatismus bräuchte auch Deutschland, Europa. Aber man sollte insbesondere hierzulande nicht zuviel verlangen.
Dass er trotz allem mit Deutschland verbunden blieb (auch zuweilen erkennbar am leichten fränkischen Akzent) ist ihm hoch anzurechnen.
Ein dunkler Punkt in seiner Karriere bleibt allerdings sein Wirken während des Vietnamkrieges.

Werter Hr. Lassalle. Jeder hat doch dunkle Punkte. Bei manchen kann man sie nicht einmal mehr zählen. Für mich als Franke, der lange in Fürth lebte und dort arbeitete, war ich immer Stolz auf den Sohn dieser Stadt und Fan des Kleeblatts (Bronzestatue steht im Ronhof). Auch in seinen Reden hörte man immer einen gewissen Stolz, auf seine alte Heimatstadt und dem Land (und das in fränkisch)
Das hatte er vielen, unserer links grünen Mafia voraus, die mit Deutschland nichts anfangen können.
Ein Großer Weltbürger ist von uns geschieden!

Fritz Elvers | Do., 30. November 2023 - 17:33

Allerdings nicht unbedingt für Napalm- und Giftopfer in Vietnam, Kambotscha, Laos und amerikanische Soldaten.

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Heidemarie Heim | Do., 30. November 2023 - 17:45

Aber der Staatsmann und Mensch Herr Dr. Kissinger war unter den damaligen wie heutigen Gegebenheiten aus politischer und zwischenmenschlicher Sicht wohl nah dran. Denn er besaß nicht nur das Vertrauen der verschiedensten Oberhäupter unserer Welt, sondern auch das zahlreicher Bevölkerungen, für deren Wohl und Frieden er sich oft rastlos in diplomatischer Art und Weise engagierte ohne je seine Wurzeln zu vergessen. Seine durch ein langes Leben erworbene Weisheit und Rat werden der Welt fehlen. RIP

Erich Becker | Do., 30. November 2023 - 18:50

Die USA-Regierungen haben über Vietnam, Kambodscha und Laos (beides neutrale Länder) mehr als 7 Millionen Tonnen Bomben abgeworfen, Napalm verwendet, Agent Orange-Gift. Mit dem Chile-Putsch wurde der Wille der chilenischen Bevölkerung missachtet und völkerrechtswidrig sich von Washington aus eingemischt. Usw.( Osttimor Invasion, Bangladesh, Argentinien-Krieg)
Für all diese genannten Kriege, Regieme Chanches - mit den furchtbaren Zerstörungen, Folterungen und Tötungen - war Kissinger politisch mitverantwortlich, wenn nicht gar hauptverantwortlich. - Entschuldigt werden kann dies nicht mit den furchtbaren Verbrechen an den Juden zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, was er als in Deutschland geborener und dann geflüchteter Jude selbst erlebte. Kissinger war also kein "großer Staatsmann", sondern ein Kriegsverbrecher - wie es sein Mitarbeiter Roger Morris auch benannte!

Ich würde eher sagen, er hat den USA gedient und war ihnen verpflichtet.
Kriegsverbrechen?
Ein großes Wort.
Nennen sie mir einen einzigen Krieg indem es keine solche gibt oder gab.
Nach Regeln wie beim Fußball läuft und lief keiner ab.
Dresden Februar 1945, der Krieg war fast vorbei, die Stadt voller Flüchtlinge. Dann fielen die Bomben.
Wie gesagt Kriegsverbrechen ist ein großes Wort. Der Sieger kriegt die Braut.
So war es schon immer. 😉

Karla Vetter | Do., 30. November 2023 - 20:03

wurde in ihrem Artikel sehr zutreffend charakterisiert. In seiner Heimatstadt Fürth war ich längere Zeit in der Kommunalpolitik tätig. Seine Person war nicht unumstritten, von ganz links und aus dem antiamerikanischen/antikapitalistischen Lager kam ständig Kritik. Vor allem wenn eine Ehrung vorgeschlagen wurde. Dennoch sind wir stolz auf den Sohn unserer Stadt, der nie vergas wo er herkam. Die erste Frage wenn er einen Besuch abstattete :"Wie hat die Spielvereinigung Fürth gespielt." Fußball war seine Leidenschaft, zum Leidwesen seiner gebildeten Eltern. Die hätten ihn lieber öfter in unserem schönen Stadttheater bei einer Opernaufführung gesehen.

Ernst-Günther Konrad | Fr., 1. Dezember 2023 - 07:58

Sicher einerseits ein großer Diplomat, keine Frage. Dass er sich bemühte und viel versuchte will ich ihm nicht in Abrede stellen. Aber eben auch ein Diplomat der knallhart amerikanische Interessen vertrat, der Vietnam zu bombte und anderseits Parallel-Friedensgespräche führte. Der unter verschiedenen Präsidenten etliche Kriege "betreute" und wir werden wohl nie erfahren, welche Schweinereien auch er zu verantworten hat, um geopolitische Interessen seiner USA zu wahren. Er war mir durchaus sympathisch und seine deutsche Herkunft ließ er wann immer es angesagt war auch durchblicken, trotz seiner leidvollen Vergangenheit. Dennoch. Er war Diener seiner Zeit und durchaus ein Diplomat mit allen Wassern gewaschen, mehr in der Luft unterwegs, wenn es darum ging, international zu wirken. Ob er wirklich geerdet war? Jedenfalls der letzte Diplomat alter Schule.