- Wählen bis in den Tod
Die nationalkonservative Regierung in Polen zeigt sich im Kampf gegen das Coronavirus entschlossen. Trotzdem hält sie an den für den 10. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen fest. Dafür ist sie auch bereit, die Verfassung zu brechen.
Eines kann man der polnischen Regierung im Kampf gegen Covid-19 nicht vorwerfen: Untätigkeit. Bereits eine Woche, bevor sich hierzulande die Bundesländer zu der Schließung von Kindergärten und Schulen entschlossen haben, mussten in Polen die Kinder wegen des Coronavirus zu Hause bleiben. Da gab es zwischen Oder und Bug gerade mal offiziell 25 Covid-19-Patienten. Es folgten die Schließung der Grenzen, die seit dem Freitag auch Berufspendler nicht mehr passieren dürfen, falls diese nicht in eine 14-tägige Quarantäne wollen, die Ausrufung des epidemischen Notfalls und am letzten Dienstag eine weitere Verschärfung der Bestimmungen im Kampf gegen das Coronavirus.
Es sind in den Zeiten der Coronavirus-Pandemie das öffentliche Leben verändernde Maßnahmen, welche die Durchführung von Wahlen unmöglich erscheinen lassen. Doch ausgerechnet an den für den 10. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen hält die PiS mit aller Macht fest. Und dies, obwohl selbst Gesundheitsminister Łukasz Szumowski betont, dass bezüglich des Coronavirus Polen (Stand Dienstag: 2215 Erkrankte, 32 Tote) das Schlimmste noch bevorstehe.„Man darf bitte nicht vergessen, dass wir das Recht, vor allem aber die Verfassung beachten müssen“, erklärte vergangene Woche der allmächtige PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński in einem Radiointerview.
Die Regierung pocht plötzlich auf die Verfassung
Tatsächlich sieht die polnische Verfassung eine Verlegung von Wahlen nur in Ausnahmesituationen vor, wie der Ausrufung des Ausnahmezustands. Gleichzeitig ist es verwunderlich, wie sich die PiS momentan auf die Verfassung beruft. In den vergangenen fünf Jahren hatte sie jedenfalls kein Problem damit, bei der Durchsetzung ihrer sogenannten Justizreform diese mit ihren Gesetzen auszuhebeln oder gar zu missachten.
Und auch in den Zeiten des Coronavirus ist die PiS offenbar bereit, es notfalls nicht so genau mit dem Recht zu nehmen. Bis in die samstäglichen Morgenstunden stimmte das polnische Parlament über ein Antikrisenpaket ab, in das die regierenden Nationalkonservativen mitten in der Nacht noch Veränderungen des Wahlgesetzes eingebaut haben. Diese sahen unter anderem die Einführung der Briefwahl für ab 60-Jährige, einer Wählergruppe, bei der sich die PiS besonders großer Beliebtheit erfreut, und Personen in der Quarantäne vor. Von der Briefwahl ausgeschlossen wären dagegen die im Ausland lebenden Polen, die zufälligerweise wiederum vorwiegend der Opposition ihre Stimme geben.
Bürgermeister weigern sich, die Wahl durchzuführen
Pläne, die von Montag auf Dienstag in einer nächtlichen Sitzung des Senats, der Zweiten Kammer des Parlaments, in dem die Opposition eine knappe Mehrheit hat, abgewiesen wurden. Doch auch auf diesen Widerstand haben die Nationalkonservativen offenbar eine Antwort gefunden. Wie das Nachrichtenportal Onet gestern erfahren haben will, will die PiS nun allen interessierten Bürgern die Briefwahl ermöglichen. Zudem sollen die Nationalkonservativen offenbar planen, in den Wahlkommissionen Polizei und Militär einzusetzen. Dies soll eine Antwort auf den Widerstand der Kommunen sein, die laut Verfassung für die organisatorische Durchführung von Wahlen verantwortlich sein. Viele Oberbürgermeister weigern sich, wegen des Coronavirus unter anderem die Gesundheit von Wählern und Wahlhelfern zu gefährden.
Doch egal ob die Briefwahl nun für alle Bürger oder bestimmte Gruppen gelten soll, verfassungskonform ist diese nicht. „Dieser Schritt verstößt in jeder Hinsicht gegen die Verfassung und das Wahlrecht. Man muss es ganz klar unterstreichen: Sechs Monate vor einer Wahl darf man keine Veränderungen am Wahlrecht mehr vornehmen“, kritisierte beispielsweise Andrzej Zoll, der von 1994 bis 1997 Präsident des polnischen Verfassungsgerichts war.
Im Ausland lebende Briefwähler werden benachteiligt
Die von der PiS-Mehrheit eingebrachten Änderungen des Wahlgesetzes sind jedoch nicht nur aus rechtlichen Gründen fragwürdig. Noch 2017 schafften die Nationalkonservativen die Briefwahl quasi ab, weil sie in dieser eine Möglichkeit für Wahlfälschungen sahen. Lediglich Bürger mit anerkannter Behinderung durften nach Protesten noch per Briefwahl ihre Stimme abgeben. Von der nun wieder eingeführten Briefwahl sind im Ausland lebende Polen jedoch ausgeschlossen.
Sollten also in Deutschland, Großbritannien oder in Frankreich die Anti-Corona-Bestimmungen bis zum 10. Mai nicht gelockert worden sein, haben die dort lebenden Polen nicht die Möglichkeit, ihre Stimme bei den Präsidentschaftswahlen abzugeben. Was noch aus anderer Hinsicht einen faden Beigeschmack hat, auch wenn die Auslandspolen bei den Wahlen kein Zünglein an der Waage sind. Bis auf die in den USA lebenden Polen geben die meisten der im Ausland lebenden Polen ihre Stimme der Opposition.
Pokern um die meisten Stimmen
Auf die Frage, warum die PiS bei ihren ansonsten sehr entschlossenen Maßnahmen gegen das Coronavirus an dem 10. Mai als Wahltermin festhält, meint die Gazeta Wyborcza, eine Antwort gefunden zu haben. Laut einer von ihr in Auftrag gegebenen Umfrage würde Staatspräsident Andrzej Duda die Wahl mit 65 Prozent bereits im 1. Wahlgang für sich entscheiden. Dies aber bei einer Wahlbeteiligung von nur 31 Prozent. Würde die Wahl nach der Pandemie abgehalten werden, bekäme Duda im 1. Wahlgang 44 Prozent der Stimmen. Dafür würde aber wiederum die Wahlbeteiligung auf 61 Prozent steigen.
Inwieweit die Zahlen der liberalen Tageszeitung aussagekräftig sind, lässt sich schwer sagen. Dass sich das Traditionsblatt seit Jahren eine Privatfehde mit den Nationalkonservativen liefert und selbst schon längst ein politischer Akteur ist, ist jedenfalls kein Geheimnis. Fakt ist aber auch, dass bei noch Anfang März durchgeführten Umfragen, die einen zweiten entscheidenden Wahlgang prognostizierten, die Bereitschaft an den Wahlen teilzunehmen bei knapp über 60 Prozent lag. Laut einer am Montag von der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita veröffentlichten Meinungsumfrage sprechen sich nun aber 77 Prozent der Polen für eine Verlegung der Präsidentschaftswahlen aus.
Beten für das „Vaterland“
Eine nicht unerhebliche Rolle, warum Duda und die PiS trotz der Pandemie an dem umstrittenen Wahltermin festhalten, dürfte in der Chance liegen, die das Coronavirus den Nationalkonservativen bietet. Während die Oppositionskandidaten aufgrund der Bestimmungen keinen Wahlkampf führen können, inszeniert sich Duda als fürsorgliches Staatsoberhaupt. Er wendet sich nicht nur per Fernsehen uregelmäßig an die Polen, sondern besucht in Uniformähnlicher Kleidung geschlossene Grenzübergänge und Krankenhäuser.
Seine jüngsten Coups: Nachdem er zuerst am Dienstag in einem Telefongespräch mit Chinas Staatspräsident Xi Jinping Lieferungen medizinischer Hilfsgüter aus dem Reich der Mitte vereinbarte, die kurz darauf auch in Polen ankamen, reiste er am Donnerstag nach Tschenstochau, dem bedeutendsten Wallfahrtsort des Landes. Dort betete er vor der „Schwarzen Madonna“ für das „Vaterland und die Landsleute“.
Kritiker des Corona-Kurses der PiS werden suspendiert
Keinen Platz gibt es bei dieser Selbstdarstellung für kritische Töne aus den eigenen Reihen. Nachdem Bernadeta Krynicka, bis zum Herbst Abgeordnete der PiS und heute Abteilungsleiterin in einem Krankenhaus im nordöstlichen Łomża, bei Facebook beklagte, dass ihr Krankenhaus für den Kampf gegen Covid-19 weder materiell noch personell ausgestattet ist, wurde ihre Parteimitgliedschaft von Kaczyński persönlich suspendiert.
Doch so einflussreich Kaczyński auch sein mag. Zumindest bei den Partnern der PiS, die zusammen mit den Nationalkonservativen die Regierung der „Vereinigten Rechten“ bildet, werden die Bedenken an dem 10. Mai als Wahltermin immer lauter. „Ich habe keine Zweifel daran, dass man über etwas streitet, was leider überhaupt nicht stattfinden wird“, erklärte Wojciech Maksymowicz, studierter Arzt und Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, am Montagmorgen in einem Fernsehinterview. Bereits am Freitag brachte sein Chef Jarosław Gowin als erstes Regierungsmitglied überhaupt eine Verlegung der Präsidentschaftswahlen ins Spiel.
Zerstrittene Opposition
Fürchten müssen Duda und die PiS eine Verlegung der Wahlen aber nicht. Nicht nur wegen ihrer zurzeit guten Umfragewerte, sondern auch wegen dem Zustand der Opposition. Als am Wochenende Małgorzata Kidawa-Błońska, Präsidentschaftskandidatin der von der Bürgerplattform dominierten Bürgerlichen Koalition, ihre oppositionellen Mitbewerber zu einem Boykott der Wahlen am 10. Mai aufrief, stieß sie bei denen nur auf taube Ohren. Ihr Parteifreund Grzegorz Schetyna, bis zum Januar Vorsitzender der Bürgerplattform, hatte wiederum nichts besseres zu tun, als laut über eine Absetzung von Kidawa-Błońska als Präsidentschaftskandidatin nachzudenken, falls die Wahlen verschoben werden sollten
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
" Sechs Monate vor einer Wahl darf man keine Veränderungen am Wahlrecht mehr vornehmen“
Das sehe ich genauso. Wenn das alles so stimmt wie Sie es schreiben, ist auch Briefwahlsplitterung aus meiner Sicht nicht rechtsstaatlich.
Ich kenne das polnische Verfassungsrecht nicht. Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, die Verschiebung der Wahl bis nach Corona, wann immer es die Polen für möglich halten zu verschieben. Solange kann Kaczyński das Amt kommissarisch weiterführen. Sowohl die polnischen Wähler als auch die beteiligten Parteien haben doch wohl die Möglichkeit, so wie Sie es schreiben, die Wahlen verlegen zu lassen.
Das alles ist aber Sache der Polen. Uns steht das recht nicht zu, moralisierend die dortigen Akteure zu beurteilen. Jedes Volk gibt sich die Regierung, die es mehrheitlich wählt und verdient.
Wir Deutschen leiden ja auch seit 2005 bis heute unter Merkel, weil einige Wähler bis zum heutigen Tage im Merkeldornröschenschlaf liegen. Nach Corona ist auch in D Wahlen.
1. Es geht nicht darum, dass die Wahlen nicht verschoben werden könnten, sondern man will unbedingt wählen, da der derzeitige Präsident im Moment deutlich vorne liegt und den Vorsprung täglich mit den von Herrn Dudek beschriebenen Möglichkeiten weiter ausbaut, während den übrigen Kandidaten der Wahlkampf aufgrund des Versammlungsverbots praktisch verboten ist.
2. Nicht Kaczyński ist amtierender Präsident, sondern Andrzej Duda, der das Amt im Fall der Verschiebung kommissarisch leiten würde. Kaczyński ist ein einfacher Abgeordneter ohne Regierungsamt, der jedoch alle politisch relevanten Entscheidungen allein trifft. Präsident und Regierungsmitglieder sind nur ausführende Figuren.
3. "Wir Deutschen" leiden nicht unter Merkel, es sind wohl nicht einmal ein Drittel der Deutschen, die Sie mit Ihrer Ansicht unterstützen. Das ist aber hier nicht das Thema.
zu 1.
Sie haben recht. Der Artikel wurde von mir falsch verstanden in diesem Punkt.
Ich stimme Ihren Ausführungen zu. Danke für diesen Hinweis.
zu 2.
Sie haben recht, habe die Namen verwechselt.
zu 3.
Die nächsten Bundestagswahlen werden zeigen, wie die Wähler Frau Merkels Politik
beurteilen, ob sie nun tatsächlich abtritt, was ich persönlich weiterhin glaube oder nicht. Wir beide, wissen natürlich nicht, wie viele Menschen tatsächlich AM noch zugewandt sind. Ich persönlich bin überzeugt, dass über die Hälfte der Menschen in D die Nase voll haben. Ob ich mich irre? Weiß ich letztlich nicht. Meine Einschätzung ist Ergebnis einer Befragung meines Freundes- und Bekanntenkreises. Keiner ist in einer Partei, so wie ich auch nicht. Wir werden sehen.
Danke nochmals für Ihre sachliche Kritik. Vorbildlich in aufgeregten Tagen. Bleiben Sie alle gesund.
In Polen sollen Brief-Wahlen jetzt schlimm sein. In Bayern fand die zweite Runde der Kommunalwahlen am letzten Sonntag ausschließlich als Briefwahl statt. Man hat keine Klagen gehört. Warum ist etwas ('Briefwahlen'), was in Bayern normal ist und ohne jede Aufregung stattfindet, in Polen plötzlich ein 'Verfassungsbruch'? Natürlich können Briefwahlen Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung haben - überall.
Vielen Leuten paßt es nicht, daß die Polen seit Jahren nationalkonservativ wählen. Vielen Leuten paßt es nicht, daß auch der Sieger der nächsten Präsidentschaftswahlen vermutlich wieder ein National-Konservativer sein wird.
Deshalb wird die polnische Regierung von ihren innenpolitischen Gegnern im Verbund mit (angeblich) 'liberalen Europäern' an den Pranger gestellt. (Im DLF war die bekannt 'Polen-Expertin' Gesine Schwan einfach nur 'empört') .
Die ständige Stimmungsmache gegen freigewählte Regierungen (Polens, Ungarns, Israels, Englands, US - Trump) zeigt die hässlichen Deutschen!
Herr Düring, sie haben vollkommen recht. Hierzulande zeigt man mit dem Finger auf andere Länder, obwohl es hier mindestens ähnlich läuft.
Die Wahlen wurden in Bayern ebenso kritiklos vollzogen.
läßt erkennen, wo Ihre Sympathien liegen.
Daher erstaunt auch nicht, dass Sie dem launigen Umgang der Regierenden mit dem Recht auf Briefwahl keine Bedeutung schenken.
Zu offensichtlich erscheint, dass das reaktivierte Recht zur Briefwahl in der Gunst der Stunde dem Kandidaten der Rechtskonservativen eine erneute Mehrheit sichern soll.
Ein Schelm, der denken könnte, der Ausschluss der Auslandspolen von eben dieser Briefwahl könnte politische Gründe haben. Oder dass man gezielt bestimmte Wählerschichten ansprechen könnte, deren Abstimmungsverhalten man zu kennen glaubt.
Und natürlich sehen Sie wieder ausschliesslich die übliche Populistenriege - von Orban bis Trump - als Opfer medialer Verachtung.
So einfach ist das.
es notfalls nicht so genau mit dem Recht zu nehmen. Damit ist die poln. Regierung ganz sicher kein Ausnahmefall. Recht und Gesetz zum eigenen Vorteil umzudeuten ist doch mittlerweile überall etabliertes System. Genauso wie die Bestrafung von Kritikern oder auch von Funktionären, die zu falschen, unerwünschten Wahlergebnissen gratuliert haben, durch Amtsenthebung. So what?
Wie haben denn die bisher im Ausland lebenden Polen ihre Stimmen abgegeben? Sind die alle immer nach Hause gefahren oder haben sie einfach nicht gewählt? Im übrigen: auch vor Wahllokalen kann man einen entsprechenden Abstand halten. Und eines sollten sich die Polen unter allen Umständen erhalten: das Recht, ein Vaterland zu haben.
Treffender hötte ich das mit weniger verwendeten Zeichen als 1000 nicht formulieren können. Bravon Herr Latell und bleiben Sie, wie alle anderen auch gesund und frei im Geist.