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Rettungspolitik - Die Krise hat Europa undemokratischer gemacht

In der Eurokrise hat die EU immer mehr Macht erhalten. Gleichzeitig nahm die demokratische Kontrolle ab, da nationale Parlamente an Einfluss verloren haben. Der Politikforscher Dirk Jörke spricht daher von Postdemokratie in Europa

Autoreninfo

Dirk Jörke ist Politikwissenschaftler an der Greifswalder Ernst-Moritz-Arndt-Universität und beschäftigt sich mit der Geschichte des politischen Denkens sowie mit postdemokratischen Tendenzen der westlichen Systeme.

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In Frankreich wurde 2012 mit François Hollande nach vielen Jahren wieder ein Sozialist zum Präsidenten gewählt, verbunden mit der Hoffnung vieler seiner Wähler nach mehr „sozialer Gerechtigkeit“ und einer Verminderung der Arbeitslosigkeit. Diese Hoffnungen sind mittlerweile massiv enttäuscht worden. Hollandes Popularität hat einen historischen Tiefpunkt erreicht. Zugleich wächst die Unterstützung von Marine Le Pen und ihres rechtspopulistischen Front National.

Anfang des Jahres ist Hollande die Flucht nach vorn angetreten und hat umfangreiche Reformen angekündigt. Diese sehen insbesondere erhebliche Abgabenkürzungen für die Wirtschaft vor; auf diese Weise sollen die Unternehmer zu Neueinstellungen verleitet werden. Hollande vollzieht damit einen Schwenk in Richtung Angebotspolitik, für die die Agenda 2010 Gerhard Schröders unverkennbar eine Vorbildfunktion hat. Doch es ist nicht nur die wirtschaftsliberale Agenda, die der französische Präsident übernimmt. Mit dem ehemaligen deutschen Kanzler teilt er auch, dass er die Wahlen mit einem ganz anderen Versprechen gewonnen hat, nämlich die „sozialen Härten“ der Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Eine klassische sozialdemokratische Umverteilungspolitik scheint in Europa Anfang des 21. Jahrhunderts jedoch nicht mehr möglich zu sein. Das Wahlvolk mag sich noch so sehr auf die Hinterbeine stellen und „mehr soziale Gerechtigkeit“ einfordern, die politischen Parteien mögen ihnen in Wahlkampfzeiten noch so sehr versprechen, diese Wünsche zu erfüllen – die Wirklichkeit des Regierens sieht anders aus.

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Postdemokratie-Begriff hat Karriere gemacht


Die gegenwärtige Situation in Frankreich ist jedoch nur das aktuellste Beispiel einer Situation in den westlichen Demokratien, die in der politikwissenschaftlichen Diskussion und zunehmend auch in der breiteren Öffentlichkeit als postdemokratisch bezeichnet wird. Der Begriff der Postdemokratie hat in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere gehabt. War er zu Beginn des neuen Jahrhunderts nur wenigen professionellen Beobachtern der politischen Theorie vertraut, so ist er seit der Übersetzung des gleichnamigen schmalen Bandes von Colin Crouch (2008) allgegenwärtig. Als postdemokratisch bezeichnet Crouch eine Situation, in der demokratische Institutionen wie Wahlen, Parteien und Parlamente zwar weiterhin existieren, diese Mechanismen einer Politikgestaltung „von unten“ aber zugleich erheblich an Bedeutung verloren haben, und zwar zu Lasten von intransparenten Elitenetzwerken, die vornehmlich die Interessen wirtschaftlich starker Akteure bedienen. Dieser Begriff der Postdemokratie scheint ein weit verbreitetes Unbehagen an der demokratischen Realität westlicher Gesellschaften zu bündeln.

Bedenkliche Strukturreformen


Allerdings ist die Diagnose der Postdemokratie nicht unwidersprochen geblieben. Zu Recht wird etwa kritisiert, dass Crouch die Situation der 50er und 60er Jahre, in der er die Blütephase der Demokratie verortet, verklären würde. Moniert wird auch ein gewisser Defätismus, der die Errungenschaften westlicher Demokratien, etwa hinsichtlich des Minderheitenschutzes und der Meinungsfreiheit, klein reden würde. Schließlich würde die Rede von der Postdemokratie Gefahr laufen, zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden, insofern sie zur Resignation statt zu einer demokratischen Aufbruchstimmung, etwa mit Blick auf die Europäische Union, verleite.

All diese Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Insbesondere darf der Postdemokratiebegriff nicht als normatives Ideal missverstanden werden. Als kritische Diagnose der Gegenwart hat er seit dem Ausbruch der „Eurokrise“ jedoch deutlich an Plausibilität gewonnen, und zwar nicht so sehr aufgrund der Geschwindigkeit, mit der die diversen Rettungsmaßnahmen durch die politischen Institutionen gepeitscht worden sind; das mag in der Tat dem akuten Notstand geschuldet gewesen sein. Aus demokratietheoretischer Sicht viel bedenklicher sind die Weichenstellungen und Strukturreformen, die dabei getroffen worden sind. Diese haben nämlich den schon zuvor existierenden Trend der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die supranationale Ebene und in Expertengremien erheblich beschleunigt.

Beginnend mit dem Maastricht-Vertrag über den Vertrag von Lissabon bis hin zu den diversen Rettungspaketen und Fiskalpakten, mit denen die finanzielle Stabilität gewahrt werden soll, ist der Handlungsspielraum nationaler Regierungen und Parlamente immer mehr eingeschränkt worden. Die entsprechenden Instanzen, die über die Einhaltung der beschlossenen Regeln wachen, unterliegen – wenn überhaupt – nur einer sehr dünnen demokratischen Kontrolle. Das EU-Parlament spielte bei all dem und auch in der aktuellen „Rettungspolitik“ nur eine Nebenrolle; es ist etwa kein Mitglied der „Troika“. Die tagespolitischen Maßnahmen wie auch die grundlegenden Strukturentscheidungen werden vom Europäischen Rat, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission getroffen; bisweilen auf einer äußerst fragwürdigen rechtlichen Grundlage.

So ist der Europäische Stabilitätsmechanismus streng genommen gar keine Institutionen der Europäischen Union, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Staaten der Eurozone. Darin ist etwa vorgesehen, dass die Mitarbeiter des ESM juristische Immunität genießen und nur sehr bedingt rechenschaftspflichtig sind. Doch selbst wenn diese und andere Institutionen wie die Europäische Zentralbank durch das Europäische Parlament kontrolliert werden würden, geht damit keine demokratische Legitimation einher. Weder existiert eine europäische Öffentlichkeit, noch europäische Parteien. Auch das gegenwärtige Wahlrecht zum Europäischen Parlament ist nur bedingt demokratisch zu nennen. Insbesondere die immensen Unterschiede in der Gewichtung der einzelnen Wahlstimmen, etwa zwischen Deutschland und Malta, widersprechen grundlegenden demokratischen Normen.

Diktat der Haushaltsdisziplin


Was bedeutet all dies für die nationalstaatliche Ebene? Dort zeigt sich in besonders drastischer Weise, wie stark der demokratische Entscheidungsspielraum durch die internationalen Finanzmärkte im Konzert mit der supranationalen Ebene der Europäischen Union inzwischen eingeschnürt worden ist: nicht nur aufgrund einer vermeintlichen Alternativlosigkeit der getroffenen Entscheidungen zur Eurorettung, sondern auch mit Blick auf die haushaltspolitischen Konsequenzen, die die finanziellen Garantien bei den Geberländern zeitigen werden. Angesichts einer inzwischen endemischen Haushaltskrise, nicht zuletzt auf kommunaler und regionaler Ebene, steht zu befürchten, dass der Gestaltungsspielraum demokratisch legitimierter Parlamente weiter schrumpfen wird.

Schon heute sind viele der so genannten freiwilligen Leistungen etwa der Kommunen dem Diktat der Haushaltsdisziplin geopfert worden. Welche Folge die jüngsten Kreditbürgschaften zusammen mit den verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremsen für die Politik der nächsten Jahrzehnte haben wird, mag man sich lieber erst gar nicht vorstellen. Denn wo Haushaltslöcher einen vermeintlichen Sparzwang erzeugen, bleibt für demokratische Politik, die ja Gesellschaft immer auch gestalten möchte, kaum Raum.

Zunehmende Wahlverweigerung und Politikverdrossenheit

Werfen wir abschließend einen Blick auf die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger auf diese Prozesse einer Postdemokratisierung, so sehen wir uns seit mehreren Jahren mit einer insgesamt zunehmenden Wahlverweigerung und Politikverdrossenheit konfrontiert. Dabei handelt es sich um Entwicklungen, die sich in nahezu sämtlichen OECD-Staaten, aber auch in vielen der neuen Demokratien Osteuropas beobachten lassen. Ist die empirische Politikforschung bislang davon ausgegangen, dass es sich dabei nicht um eine zunehmende Ablehnung demokratischer Ideale, sondern nur der jeweiligen politischen Eliten handelt, so zeigen neuere Erhebungen nun auch eine wachsende Unzufriedenheit mit der liberalen Demokratie als solcher.

Dabei ist zu beachten, dass dieser Demokratieverdruss besonders stark bei einkommens- und bildungsschwachen Schichten ausgeprägt ist, also jenen Menschen, die sich von den ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zunehmend an den Rand gedrängt fühlen. Es sind auch diese Schichten, die im deutlich höheren Maße den Gang zur Wahlurne verweigern, oder zur Wahl von rechtspopulistischen Parteien neigen. Es ist mehr als wohlfeil und wenig hilfreich, deren Wahlverhalten moralisch zu verurteilen. Erforderlich ist vielmehr eine Politik, die die Sorgen der Menschen vor sozialem Statusverlust wieder ernst nimmt.

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