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Gesine Schwan - „Europa ist mein Lebensthema“

Am 25. Mai sind die Deutschen aufgerufen, das Europäische Parlament zu wählen. Gesine Schwan über die Grundvoraussetzungen für eine europäische Öffentlichkeit, Volksentscheide und die Defizite des europäischen Parlamentarismus'

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Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Frau Schwan, der Europawahlkampf hat begonnen. Schaut man sich aber die Plakate an, kommt man nicht unbedingt sofort darauf, was hier eigentlich zur Wahl steht. Die CDU wirbt mit Angela Merkel, die Linke mit Gregor Gysi. Wo sind die europäischen Köpfe und Themen?

 

Das Problem ist, dass die Öffentlichkeitsarbeit über die Europäische Union weitgehend über die nationalen Exekutiven läuft. Und zwar deswegen, weil in den letzten Jahren im Zuge der Finanzkrise der Europäische Rat das Heft des Handelns in die Hand genommen und auch die Kommunikation organisiert hat. Und diese Kommunikation und damit die Herstellung der Öffentlichkeit wurden unter nationalen Gesichtspunkten gestaltet, weil die Exekutiven ihre Macht national herleiten. Machtpolitisch gab es für die nationalen Oberhäupter also keinen Grund, die europäischen Probleme als solche darzustellen. Infolgedessen ist die nationale Perspektive vorrangig gewesen und so kommen dann auch die Bilder zustande.

Sie sprechen die nationalen Exekutiven an. Nun wird aber die Legislative gewählt...

Aber die Öffentlichkeit wurde in den letzten Jahren immer über die Exekutive informiert. Das Parlament dringt nicht durch. Öffentlichkeit entsteht durch Macht oder durch Kontroversen. Konflikte wurden aber nicht als Konflikte innerhalb Europas mit verschieden Positionen innerhalb des Parlaments kommuniziert, sondern als Konflikte zwischen den Ländern. Das hat wenig mit einer europäischen Öffentlichkeit zu tun.

Wie lässt sich dann eine europäische Öffentlichkeit herstellen?

Das geht nur, indem nationale und europäische Interessen verschränkt werden. Das funktioniert am besten durch gemeinsame Themen – zum Beispiel die europäischen Haushaltsberatungen – und durch eine kontroverse Behandlung dieser Themen. Und das ist bisher nicht der Fall.

Ist dieser national geführte Europawahlkampf nicht auch ein bisschen Sinnbild dafür, woran Europa grundsätzlich krankt? Warum Europa für viele Menschen so weit weg ist, ein Projekt der Eliten?

Nicht der Eliten, sondern der Exekutiven. Der Versuch, beispielsweise von Martin Schulz, eine europäische Politisierung herzustellen, indem deutlich gemacht wird, dass es grundsätzlich unterschiedliche Politiken zwischen Konservativen, Sozialisten oder Liberalen auf der europäischen Ebene gibt, dringt nur schwer durch. Zwar hat das Europäische Parlament durch den Lissabon-Vertrag eine Aufwertung erfahren, indem es jetzt den Kommissionspräsidenten wählen darf. Aber das Vorschlagsrecht bleibt beim Europäischen Rat. Es ist nicht wie in Deutschland, wo der Kanzler aus einer Parlamentsmehrheit hervorgeht. Wer die parlamentarische Mehrheit hat, bestimmt auf europäischer Ebene zudem nicht die Richtlinien der Politik, weil er die Europäische Kommission nicht politisch bestimmt.

Messen wir vielleicht bei der Diskussion um all die Defizite der EU mit dem falschen Maß? Weil wir die  Besonderheit des EU-Systems nicht berücksichtigen, das auf Konkordanz beruht und nicht auf klassische parteipolitische Mehrheiten? In einem solchen System wird über alle wichtigen Entscheidungen so lange verhandelt, bis alle zustimmen können. Das wiederum hat neben der integrierenden Wirkung zur Folge, dass zwar die Zusammenarbeit zwischen den Eliten gut funktioniert, die Bürger aber gleichzeitig wenig Möglichkeiten haben, politisch Einfluss zu nehmen.

Wir messen in der aktuellen Situation mit dem falschen Maß und leider auch mit Blick auf falsche mögliche Zielvorstellungen, weil es eigentlich immer nur die sterile Alternative zwischen Renationalisierung und einer Europäischen Union als einem erweiterten Nationalstaat gibt. Beides führt nicht zu einer demokratischen europäischen Integration. Unsere führenden demokratischen Politikerinnen und Politiker  zeigen nicht genügend Energie, Fantasie und Nachhaltigkeit, sich konsequent auszudenken, wie man in Europa zu einer besseren demokratischen Legitimation kommt. Das wird nur gelingen, wenn aus der Zivilgesellschaft heraus Verständigungsprozesse entstehen, die dann den repräsentativ Gewählten die Chance bieten, grenzüberschreitend gute europäische Politiken umzusetzen, nicht nur im einzelstaatlichen Interesse. Von „oben“, durch die Kommission oder den Europäischen Rat  wird das nicht gelingen. Das ist aber ein generelles Problem globaler Politik. Die Exekutiven schaffen es nicht mehr, gesellschaftliche Interessen zu integrieren.

Wie will man das Defizit geringer Bürgerbeteiligung ausgleichen? Durch Volksabstimmungen?

Nein, ich bin nicht für Volksentscheide. Ich bin für mehr zivilgesellschaftliche Aktivität. Sie müssen mit den verschiedensten Akteuren Gespräche organisieren, nicht allein auf exekutiver Ebene, nicht nur zwischen den Behörden, sondern auf Basis organisierter Zivilgesellschaft,  Unternehmen, begleitet von Wissenschaft und Medien, um die homogenen Blöcke, als die die Nationalstaaten mit ihren Regierungen in Europa gegeneinander antreten, zu enthomogenisieren. Wir nennen das in unserer Humboldt-Viadrina School of Governance Trialoge. Das sind langfristige Prozesse, der Fortschritt kommt langsam.

Das heißt: Damit eine echte europäische Öffentlichkeit entstehen kann, braucht es eine dauerhafte Sichtbarkeit europäischer Themen.

Es braucht eine grenzüberschreitende Sichtbarkeit mit Kontroversen und grenzüberschreitende Akteure. Nicht die Deutschen gegen die Polen, sondern z.B. deutsche, polnische oder französische zivilgesellschaftliche Akteure in Auseinandersetzung mit Wirtschaftsvertretern in der Klimafrage. Dann merkt man ganz schnell, dass es grenzübergreifend ganz ähnliche Problemstellungen bei den unterschiedlichsten Themen gibt. Sei es in der Umwelt- oder in der Familienpolitik.

Die Probleme sind ähnlich, aber fehlt es Europa dann nicht an einer gemeinsamen Sprache, an gemeinsamen Medien, einer gemeinsamen europäischen Perspektive und gemeinsamen Parteien?

Wenn es gelingt, ein Bewusstsein für gemeinsame Probleme zu schaffen, grenzüberschreitend zu argumentieren, dann kommen die Medien auch hinterher. Aber sie müssen das aktivieren. Sie müssen öffentliche Veranstaltungen hinkriegen, mit grenzüberschreitenden Diskussionen, damit die Gesellschaft merkt: Wir haben grenzüberschreitende Probleme.

Lässt sich an der fehlenden europäischen Öffentlichkeit nicht auch ein grundsätzliches Strukturdefizit der Europäischen Union ablesen? Ein Defizit, dass seit Beginn der Europäischen Integration besteht: Wir schaffen erst die Struktur, die Institutionen, und die Demokratie wird dann schon kommen…

Ja, ähnliche Probleme konnte man aber auch in den Transformationsländern beobachten. Sie können relativ schnell Parteien gründen, eine Verfassung verabschieden, aber das mit demokratischem Leben zu füllen, ist eine andere Sache. In Europa ist es natürlich noch schwieriger, weil die Tradition von Nationalstaaten und nationaler Demokratie sehr stark verwurzelt ist. Wir brauchen gemeinsame Projekte, gemeinsamen Streit. Wir haben bisher keine grenzüberschreitenden Konflikte ausgetragen, weil die Akteure in erster Linie national organisiert und ausgerichtet sind.

Und die Eurokrise? War das kein grenzüberschreitender Konflikt? Gab und gibt es im Zuge der Krise nicht zum ersten Mal so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit?

Nein. Auch in der Eurokrise wurde nur national taktiert. In Deutschland wurde sie als Staatschuldenkrise interpretiert. Nicht als eine gesamteuropäische, sondern als Krise einzelner Nationalstaaten. Gerade die Deutschen haben das als ein Problem der anderen Länder kommuniziert. Die Probleme wurden nationalisiert.

Die Frage nach einer gemeinsamen Öffentlichkeit ist wiederum eng gekoppelt an die Frage nach einer kollektiven Identität.

Gegenfrage: Haben wir eine kollektive Identität in Deutschland? Wodurch entsteht Identität, ein Zusammengehörigkeitsgefühl? Durch gemeinsame Projekte, mit denen man sich identifiziert. Gemeinsamkeit entsteht aber weder durch gemeinsame Herkunft noch dadurch, dass der Wohlfahrtsstaat alle mit Geld bedenkt, sondern dadurch, dass man sich für eine gemeinsame Sache gemeinsam einsetzt und anstrengt. Und solange wir solche gesamteuropäischen Projekte so gut wie nicht haben, solange kann es keine gemeinsame Identität geben. Warum machen wir beispielsweise aus der Energiefrage nicht ein gemeinsames Projekt? Bei dem wir nicht national nach Autarkie streben, sondern grenzüberschreitend nach Lösungen suchen. Selbiges gilt für Bildung und Arbeitsmarktpolitik. Statt Schuldenbonds brauchen wir gemeinsame Investitionsbonds. Ich glaube, dass praktizierte Solidarität verbindet. Aber uns fehlen die Plattformen, wo kontinuierlich grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf den Weg gebracht wird.

Ein solcher Ort sollte doch eigentlich das Parlament sein. Ist das Europäische Parlament zu brav?

Das Parlament ist inzwischen notwendig machtkalkulatorisch und die Parlamentarier müssen alle gucken: Werde ich wieder aufgestellt? Wer steht hinter mir? Darf ich das sagen? Während Sie, wenn Sie aus der Zivilgesellschaft kommen, erst einmal so sprechen können, wie Sie wirklich denken. Das Parlament, Europa braucht die Zivilgesellschaft. Sie muss in die Verantwortung genommen werden. Die unternehmerischen Akteure agieren bereits auf der nationalen Ebene und auch auf der europäischen Ebene. Die können beide Ebenen souverän bespielen. Noch dazu nicht sehr transparent.

Dann brauche ich gar nicht wählen zu gehen, sondern gründe lieber einen Verein, dem im Grunde – wie den unternehmerischen Akteuren auch – die Legitimation fehlt?

Wählen muss man trotzdem, denn ich sag nicht, dass diese Initiativen die repräsentativen Organe ersetzen können. Ich bin anders als mein Parteivorsitzender nicht für eine Multiplizierung von Volksentscheiden. Im Gegenteil: Wir müssen virulent aus der Gesellschaft heraus arbeiten, nicht allein als pressure group, sondern wir müssen uns miteinander darüber verständigen, was wir eigentlich wollen. Die Entscheidung darüber muss die repräsentative Politik fällen. Ein Beispiel: Manuela Schwesig hat für ihren Vorschlag zu Vereinbarkeit von Beruf und Familie, dass junge Eltern weniger arbeiten sollen, sofort Prügel bekommen  von der Kanzlerin, von Unternehmen, von medialer Seite usw. In der Frankfurter Allgemeinen lese ich jetzt plötzlich, dass die Deutsche Industrie- und Handelskammer, also Unternehmer, diesen Vorschlag doch gutheißen. Das wundert mich nicht, denn das Konzept haben wir in einem Trialog über vier Jahre vorbereitet: Wir haben es gut abgesichert, haben überparteilich daran gearbeitet, Verbände miteinbezogen, geduldig die unterschiedlichsten Perspektiven eingebracht und miteinander Lösungen gesucht. Jetzt merken die Gegner langsam, es gibt sehr viele junge Eltern, Väter und Mütter, die wollen Familien- und Berufsarbeit   miteinander vereinbaren. So ist es auch mit anderen Themen. Der öffentliche Diskurs in den bisherigen Institutionen ist einfach zu machtverschränkt. Unvermeidlich.  Das ist keine moralische Frage.

Inwiefern?

Ich kenne sehr viele Parlamentarier, die engagieren sich von morgens bis abends, die wollen etwas Gutes zustande bringen. Es ist aber einfach ohne die Hilfe zivilgesellschaftlicher Vorverständigung nicht zu schaffen. Wir müssen von uns aus die Probleme gemeinsam angehen. Klug, organisiert und kenntnisreich, zusammen mit einer Wissenschaft, die nicht nur Gutachten abliefert und fragt, wann kriege ich den nächsten Auftrag, sondern sich in die Auseinandersetzungen der Gesellschaft begibt. Mein Traum ist es, dass auch auf europäischer Ebene zu machen. Europa und Demokratie sind mein Lebensthema. Doch wenn man dabei daran glaubt, dass es doch gute Lösungen gibt, dann wird einem sehr schnell Naivität vorgeworfen.  

Sie sind ja ein fürchterlicher Gutmensch, Frau Schwan.

Dann bin ich eben ein Gutmensch. Jedenfalls bemühe ich mich um das Gute.

Fraun Schwan, vielen Dank für das Gespräch.

 

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