
- Weniger Geburten für weniger Radikalisierung
Anis Amri war offenbar ein klassischer Wirtschaftsflüchtling. Er entstammt einer Generation in einer Region, die ohne Aussicht auf Wohlstand oder gesellschaftliche Teilhabe ist. Eine Geburtenkontrolle wäre die nachhaltigste Lösung
Nach allem, was bisher über den dringend tatverdächtighen Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt bekannt ist, hatte Anis Amri schon lange vor seinem Anschlag eine kriminelle Karriere gemacht. Die ihm zur Last gelegten Delikte reichten von Drogenkonsum über Diebstahl, Raub und Körperverletzung bis hin zu versuchter Brandstiftung. Wegen letzterer verbrachte er vier Jahre in einem italienischen Gefängnis. Erst dort soll er sich, so heißt es, in einen radikalen Islamisten verwandelt haben. Die Mutation von einem gewöhnlichen Kriminellen in einen religiös motivierten Terroristen hätte somit erst stattgefunden, nachdem Anis Amri im Jahr 2011 mit einem Flüchtlingsboot von Tunesien aus nach Lampedusa übergesetzt war.
Sollte sich diese Geschichte tatsächlich so zugetragen haben, wofür einiges spricht: Welche Rückschlüsse ließen sich daraus ziehen? Hätte die Radikalisierung Amris bei besserer Betreuung auf europäischem Boden verhindert und damit letztendlich das Leben von 12 Menschen gerettet werden können? Trägt „der Westen“ also letztlich eine Mitverantwortung für die Schreckenstat des 24 Jahre alten Tunesiers? Auch solche Fragen werden jetzt wieder, landauf, landab, diskutiert werden. Neben den üblichen Debatten über kriminelle Flüchtlinge, Abschiebungen, sichere Herkunftsstaaten und so weiter und so fort.
Ein klassischer Wirtschaftsflüchtling
Vielleicht sollte man besser das Augenmerk auf die Herkunft des späteren Attentäters richten. Anis Amri stammte aus einer ärmlichen Familie im Norden Tunesiens und hatte insgesamt sieben Geschwister. Der Vater war Landarbeiter und musste mithin acht Kinder versorgen. Damit ist erst einmal nichts über den späteren Weg des einen Sohnes in die Kriminalität gesagt. Aber sehr viel darüber, warum Anis Amri vor sechs Jahren überhaupt die Reise nach Europa antrat. Weder wurde er politisch verfolgt, noch herrschte in Tunesien Bürgerkrieg. Anis Amri kam als klassischer Wirtschaftsflüchtling in Italien an. Und das hat sehr viel mit dessen Familienverhältnissen zu tun, genauer gesagt mit den sieben Geschwistern.
In der Oktoberausgabe von Cicero hat Hartmut Dießenbacher, emeritierter Professor für demografische Bürgerkriegsforschung, den Zusammenhang zwischen Überbevölkerung, Gewalt und daraus resultierenden Migrationsbewegungen sehr klar beschrieben. Er betrifft praktisch alle Länder Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens – mit Ausnahmen wie etwa Iran, wo Ende der neunziger Jahre die Geburtenkontrolle vorangetrieben wurde. So lag die Zahl der Kinder pro gebärfähiger Frau in den neunziger Jahren in Tunesien bei durchschnittlich 3,6, in Libyen bei 6,5, in Algerien bei 5,0, in Ägypten bei 4,2, in Marokko bei 4,5, im Irak bei 6,7 und in Afghanistan bei 6,9.
Bevölkerungszuwachs bei sinkendem Bruttosozialprodukt
Dieser drastische Bevölkerungszuwachs vollzog sich vor dem Hintergrund eines sinkenden Bruttosozialprodukts in 17 von 22 arabischen Staaten. Die Folge: Es wächst eine Generation heran, die ohne Aussicht auf Wohlstand oder gesellschaftliche Teilhabe ist. Sie bildet den Humus für jene Bürgerkriege, die als „arabischer Frühling“ begannen und nun ganze Regionen ins Chaos stürzen. Dießenbacher nennt die Migranten aus den betroffenen Ländern deshalb „Überbevölkerungsflüchtlinge“. Das ist übrigens keine Wertung, sondern eine Feststellung. Und Dießenbacher erinnert daran, dass 86 Prozent aller Flüchtlinge und 90 Prozent aller (fluchtauslösenden) Kriege ihren Ursprung haben in Ländern mit hohen Reproduktionsraten, die in keinem Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung stehen.
Wenn man davon ausgeht, dass Radikalisierung und wirtschaftliche beziehungsweise gesellschaftliche Perspektivlosigkeit in einem Kausalzusammenhang stehen, wäre eine Geburtenkontrolle in den betroffenen Ländern mit Sicherheit die nachhaltigste Lösung, um der Gewalt, den Verteilungskämpfen und letztlich auch dem Terrorismus Herr zu werden. Natürlich wird auch das nicht alle Probleme lösen. Aber wer ständig davon redet, es müssten Fluchtursachen bekämpft werden, um die Flüchtlingskrise zu beenden, der wird diesen Aspekt nicht ausblenden können. Denn er ist eine der wichtigsten Wurzeln des Übels.