
- Was von der Sowjetunion blieb
Heute vor 25 Jahren begann mit der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) die Auflösung der Sowjetunion. So mancher Russe trauert ihr hinterher, wirklich zurück will aber kaum jemand. Eine Zustandsbeschreibung der russischen Seele
1994 fuhr ich zum ersten Mal zum Schüleraustausch nach St. Petersburg – da war die Sowjetunion schon Geschichte. Dieses Land kenne ich deshalb nur aus Erzählungen russischer Freunde und Verwandten. Wenn sie erzählen, dann geht es selten um Stalin, um den Gulag oder politische Repressionen. Meist sind es Erzählungen von einer anstrengenden, aber auch einer sehr stabilen Welt. *
Da sind die Erzählungen von Verwandten, denen der Staat in den siebziger Jahren nicht mehr als ein muffiges Zimmer in einer „Kommunalka“ bieten konnte, durch die Mäuse huschten. Es wird von harter Arbeit in Fabriken erzählt, von übervollen Trollejbussen, von der übersichtlichen Warenwelt, von der Doppelbelastung der Frauen, die malochten und dann zu Hause noch den Haushalt besorgen mussten, ohne Spül- und Waschmaschine. Aber in den Erzählungen geht es auch um sehr enge menschliche Beziehungen im „Kollektiv“, ob im Studentenwohnheim, in der Schule oder in der Fabrik. Man traf sich, oft auf sehr engem Raum in der Plattenbauwohnung, zum Singen, Trinken und Tanzen. Man liebte die Beatles und Adriano Celentano.
Nostalgie und Stalin-Verdrängung
Natürlich ist da auch noch die Gruppe der Dissidenten, für die die Sowjetunion in erster Linie politische Repression bedeutete, und die sich heute angesichts der staatlichen Propaganda und der Stigmatisierung von „Volksfeinden“ an sowjetische Verhältnisse erinnern. Aber auch wenn fast jeder Russe der älteren Generation weiß, wer Andrej Sacharow war – unter politischen Repressionen gelitten haben die wenigsten. Man arrangierte sich.
Bei den Jüngeren hingegen sind nur noch Fotos in Sepia übrig, die sie in regelmäßigen Flashmobs auf Facebook und im russischen Netzwerk VK teilen: Man sieht darauf adrett gekleidete Jungs und Mädchen mit hübschen Schleifchen im Haar.
Und wo ist Stalin? Er erscheint wie ein böser Traum, wie ein Unwetter, das über das Land gezogen ist, ein Unwetter, das aber vor ihm seinen Anfang nahm. Das mit Revolution und Bürgerkrieg begann, sich mit der Kollektivierung und den großen Säuberungen, dann dem „Großen Vaterländischen Krieg“ fortsetzte und mit Stalins Tod 1953 endete. Kaum jemand bezweifelt die Ausmaße dieser Tragödie. Aber weder bei der Führung noch bei der Mehrheit der Bevölkerung war jemals der Wille da, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen: Wer war schuld, wer Täter und wer Opfer? Nürnberger Prozesse oder „Gulag-Prozesse“ gab es in Russland nie und wird es auch nicht mehr geben.
Eine vergiftete Ellbogengesellschaft
Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger war das Interesse groß für all die Ungeheuerlichkeiten, die der Staat einem verschwiegen hatte und die man nun plötzlich in Büchern lesen und im Fernsehen sehen konnte. Aber das Interesse an dieser doch schon fernen Geschichte versiegte schnell, weil es in der nun beginnenden Ära plötzlich für sehr viele Menschen ums reine Überleben ging. Der Ende 1991 politisch vollzogene Zerfall der Sowjetunion setzte sich in einem weiteren Jahrzehnt des gesellschaftlichen und staatlichen Verfalls fort. Die Russen wurden zu einer von Zynismus vergifteten Ellbogengesellschaft, wie man es sich hierzulande kaum vorstellen kann. Bei uns mag der Ehrliche dann und wann der Dumme sein, in den russischen neunziger Jahren war der Ehrliche der Arme.
Welchen Raum nimmt die Sowjetunion heute im kollektiven Bewusstsein ein? Ich wage eine steile These: Sie ist Heimat. Das kulturelle Gedächtnis der Russen baut bis heute weitgehend auf Spielfilmen, Zeichentrickfilmen, auch Musik auf, die aus der Sowjetunion stammen. Auch wenn sich die Gesellschaft inzwischen ausdifferenziert hat – der eine hört Radiohead, der andere indische Mönchsgesänge, man ist Monarchist, Liberaler oder Putin-Anhänger – wenn in einem Club der Titelsong aus dem Zeichentrickfilm „Bremer Stadtmusikanten“ gespielt wird, liegen sich alle in den Armen.
Man erinnert sich mit Wohl und Weh an jene Zeit zurück. Die besten Witze stammen bis heute aus der Sowjetunion – über das allgegenwärtige Warendefizit und das gerontokratische Politbüro, allen voran Leonid Breschnew. Aber heißt das auch, dass man dorthin zurück will?
Rehabilitierung unter Putin
Das bekannte Meinungsforschungsinstitut Lewada hat dazu soeben die Russen befragt. Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte bedauert den Zerfall der UdSSR. Aber nur jeder zehnte wünscht sich die Sowjetunion zurück.
Und fragt ihr mich, was Wladimir Putin damit zu tun hat? In keinem westlichen Putin-Text darf schließlich sein Zitat darüber fehlen, dass „der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Kein Wunder: Für den Geheimdienstler, der am Anfang einer glänzenden Karriere in den „Organen“ stand, war das Ereignis eine Katastrophe ohne Vergleich. Als eine Grundfeste seines Regimes wird scheinbar folgerichtig eine „Rehabilitierung“ der Sowjetunion beschrieben.
Aber schauen wir uns die Lewada-Umfrage einmal genauer an: Im Jahr 2000, zu Putins Amtsantritt, bedauerten drei Viertel der Russen den Zusammenbruch der Sowjetunion. Das sind etwa 20 Prozent mehr als heute. Selbst wenn Putin und seine Medien mit der Sowjetnostalgie spielen – zurück in die Sowjetunion will heute kaum mehr ein Russe.
Eine Großmacht wäre man schon gerne wieder
Niemand will zurück in die Defizitwirtschaft, niemand mehr die Shopping-Zentren missen, den eigenen Wagen vor der Haustür, den Flachbildfernseher, westliche Marken, die Freiheit, ins Ausland zu fahren. In überhaupt keinem Widerspruch dazu steht gleichzeitig die Sehnsucht der Russen, zu einer Weltmacht zu gehören: Fast die Hälfte der Russen bedauert heute den Zerfall der Sowjetunion gerade aus dem Verlust dieses Gefühls. „Putinmacht – das ist Wiederaufstieg zur Großmacht plus stabiler Wohlstand der Bevölkerung“ – um die Leninsche Definition des Kommunismus zu zitieren.
Übrigens: Selbst in Kiew, der Hauptstadt des Landes, das sich in den vergangenen Jahren radikal vom sowjetischen Erbe trennen will, floriert bis heute mit zwölf Filialen die Restaurantkette „Katjuscha“: Von früh bis spät sitzen hier zwischen alten Fernsehern und Agitprop-Plakaten die Kiewer und lassen sich von sowjetischer Musik beschallen. Allein der Standard von Essen und Bedienung, der ist alles andere als sowjetisch.
* Offenlegung: Um den Vorwurf vorwegzunehmen, postfaktische Geschichtsklitterung zu betreiben – ich bin Osteuropahistoriker und kenne mich deshalb in der Geschichte der Sowjetunion von Revolution bis Perestroika bestens aus. In diesem Text geht es aber um die heutige Wahrnehmung dieser Zeit.