
- Deutschland hat nicht an allem Schuld
Für das britische Votum gegen die EU wird auch die Bundesrepublik in Haftung genommen. Wahlweise werden die Energiewende, die Eurorettung oder die Flüchtlingspolitik angeführt. Doch diese Argumente sind nicht plausibel
Seit dem Brexit blüht das Geschäft der Ursachensuche. Politiker, Journalisten und Experten wollen allerlei Gründe ausgemacht haben, warum dieser oder jener Brite in dem Referendum für „Leave“ gestimmt haben möge. Wenn es um eine vermeintliche Mitschuld von Deutschland geht, hat aber manches davon eher mit Para- denn mit Sozialwissenschaften zu tun.
Welche Argumente gibt es?
Schuld ist die deutsche Energiewende
Erstaunlich ist etwa die Analyse von EU-Digital- und Ex-Energiekommissar Günther Oettinger. Der CDU-Politiker sagte am Montagmorgen im Deutschlandfunk: „Deutschland hat natürlich mit zwei, drei Maßnahmen ein bisschen eigenwillig gehandelt, ich schließe da auch die Energiewende ein, und so die Nachbarn nicht gerade mitgenommen oder gar überzeugt.“
Ernsthaft? Die Briten sollen tatsächlich für den Austritt aus der EU votiert haben, weil die Bayern gegen den Trassenausbau revoltieren, sich der Rotmilan durch Windkraftanlagen gestört fühlt oder weil die norddeutsche Heide verspargelt wird?
Dass die Energiewende mittlerweile auch Schattenseiten hat – das ist richtig. Weil Wind- und Solarenergie massiv ausgebaut wurden, ist oft zu viel Strom im Netz, der dann ins Ausland abfließt. Dort verstopft er die Leitungen. Allerdings zahlt Deutschland dafür noch drauf, damit die Nachbarn den Strom abnehmen. Negative Energiepreise werden immer wieder an der Strombörse beobachtet. Für das Ausland also eher eine Einnahmequelle.
Das Problem betrifft Großbritannien aber ohnehin nicht: Auf die Insel verirrt sich kaum eine deutsche Trasse. Zudem hat sich das Vereinigte Königreich klar zu den Pariser Klimazielen bekannt. Bei der Menge der neu installierten Solarleistung liegt das verregnete Großbritannien inzwischen sogar noch vor der Bundesrepublik, die zuletzt nur auf Platz sechs weltweit landete. Bei Offshore-Windkraftanlagen sind die Briten sogar führend.
Andererseits setzt das Land massiv auf Kernenergie – ein Konflikt, der sich mit dem Brexit noch verschärft hat. Der Klimaskeptiker Boris Johnson will das geplante Atomkraftwerk Hinkley Point C durchsetzen, und laut einem Strategiepapier der EU-Kommission, das Spiegel Online vorliegt, sind dort auch zahlreiche Mini-Reaktoren geplant.
Wäre hier vielleicht der Vorwurf gerechtfertigt, Deutschland habe wegen des eigenen Ausstiegsbeschlusses die Atombefürworter in Großbritannien ausgebremst oder gemaßregelt?
Mitnichten. Erstens hat Deutschland gar kein Mitspracherecht – und auch nicht die EU-Kommission. Die Atomfrage ist laut Forschungskommissar Carlos Moedas einzig und allein eine der Mitgliedsstaaten.
Mehr noch: Indirekt unterstützt Merkel das britische Atomkraftwerk Hinkley Point C sogar. Die Grünen hatten sie im Oktober 2014 in einem Antrag aufgefordert, gegen einen EU-Beschluss, der britische Subventionen für das geplante Atomkraftwerk billigte, beim Gerichtshof der Europäischen Union zu klagen. Die Große Koalition stimmte dagegen. Die listige Begründung: Österreich würde ja schon klagen.
Hinzu kommt: Über den Euratom-Vertrag, der zu den Gründungsakten der EU gehört und der unkündbar ist, fördert die Bundesrepublik auch weiterhin den Ausbau der Atomkraft in ganz Europa. Somit auch Hinkley Point C.
Der Brexit könnte die Briten beim Atomausbau sogar zurückwerfen: Denn nach Ansicht des Präsidenten der Energy Watch Group, Hans-Josef Fell, müsste das Land dann auch aus dem Euratom-Vertrag aussteigen und auf erhebliche Subventionen verzichten. Die Folge: Hickley Point C wäre am Ende, vielleicht auch die acht weiteren geplanten Nuklearreaktoren.
Käme es tatsächlich so, hätten britischen Atomkraftbefürworter, die in vermeintlicher Ablehnung der deutschen Energiewende für den „Brexit“ stimmten, genau das Gegenteil ihres Ziels erreicht. Ein klassisches Eigentor. Auch für Oettinger.
Schuld ist die deutsche Euro-Krisenpolitik
Diese Behauptung ist besonders beliebt, sowohl bei linken Kapitalismuskritikern als auch bei Vertretern des Neoliberalismus. Den einen war der Sparkurs zu hart, den anderen zu weich. Beide vergessen meist darauf hinzuweisen, dass Großbritannien das Pfund hat und somit von den meisten Maßnahmen der Eurokrise nie direkt betroffen war.
Den linken Kritikern sei zu entgegnen: Großbritannien war nie am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beteiligt. Britische Steuerzahler hafteten höchstens sehr indirekt über den Internationalen Währungsfonds (IWF). Ein verhältnismäßig überschaubarer Anteil. Beim Euro-Rettungsschirm EFSF dagegen hatte sich das Vereinigte Königreich zusichern lassen, dass bei Krediten für Krisenländer lediglich die Eurostaaten haften. Einzige Ausnahme war Irland: Als dieses Land Ende 2010 unter den EFSF kroch, beteiligte sich auch Großbritannien an der Hilfe – freiwillig. 2013 verließ Irland den EFSF. Es gilt heute als Euro-Musterschüler. Indirekt hat auch der Nachbar Großbritannien vom keltischen Aufschwung profitiert.
Die neoliberale Erzählung, die etwa FDP-Chef Christian Lindner verbreitet, geht dabei so: Deutschland habe durch „die neuerliche Aufweichung des Euro-Stabilitätspakts“ eine Stimmung befördert, die Populisten nutzen konnten. Auch hier muss man ein Fragezeichen setzen. Denn das massive Anleihekaufprogramm geht zunächst auf die EZB zurück. Und dieses hat das Bundesverfassungsgericht gerade erst abgenickt. Trotzdem ist Kritik an der Eurorettung erlaubt und nötig – insbesondere, was die mangelnde Transparenz des Prozesses betrifft. Kontrolle jedenfalls gab es: Jedes Griechenlandpaket wurde im Bundestag abgestimmt.
Nun gibt es noch das Argument, die Politik – und damit Angela Merkel –, würden das Handeln der EZB überlassen, statt selbst einzugreifen.
Das zumindest ist richtig, aber der Weg zu mehr politischem Handeln ist so leicht auch nicht: Erstens genießt die EZB Unabhängigkeit. Zweitens kann ein politischer Prozess nicht im Alleingang von Deutschland erzwungen werden – da wären die EU-Kommission und der Ministerrat einzubeziehen. Genau da wird es, drittens, hochkomplex: So waren die osteuropäischen Mitgliedsstaaten meist besonders erpicht darauf, den Krisenstaaten harte Bedingungen zu diktieren. Wie also das Dilemma lösen?
Genau: Großbritannien hat da als Nicht-Euroland wenig zu sagen – und wollte es auch nicht. Das britische Pfund war neben dem Euro sehr stabil. Es verlor erst mit dem Brexit drastisch an Wert.
Schuld ist die deutsche Flüchtlingspolitik
Diese Behauptung hat sich in konservativen Kreisen durchgesetzt. Die Briten hätten sich vor den ungezügelten Migrationsströmen und einem von Angela Merkel heraufbeschworenen „Chaos“ gefürchtet.
An dieser Deutung ist so ziemlich alles zu hinterfragen.Zunächst ist da die Behauptung, Angela Merkel habe die Flüchtlinge „gerufen“, als sie im August/September 2015 die „Grenzen öffnete“. Abgesehen davon, dass diese Grenzen da schon offen oder zumindest porös waren, erlaubte die Kanzlerin lediglich in einer singulären Situation Sonderzüge für die Menschen in Budapest. Es war ein humanitärer Akt. Die Flüchtlinge waren bereits unterwegs, und der Grund dafür war nicht Merkels Ruf, sondern der Krieg in Syrien, Irak und Afghanistan. Schon in den Monaten vorher waren unzählige Schlauchboote aufs Mittelmeer gefahren. Möglicherweise orientierten sich die Menschen bei der Wahl ihres Ziellandes neu. Aber das wiederum hätte lediglich ein Land belastet, die anderen eher entlastet.
Und was ist mit der britischen Angst vor dem Islam? Schließlich kamen da überwiegend muslimische Flüchtlinge.
Großbritannien hat wegen des Commonwealth seit Jahrzehnten Erfahrung mit Zuwanderung aus islamischen Ländern. Es leben längst Millionen Muslime im Land.
Und die neuen kamen nie bis nach Großbritannien. Das Flüchtlingslager im französischen Calais wurde im März aufgelöst. Zuvor war fast jeder Versuch von Betroffenen, auf Eurotunnel-Züge aufzuspringen, von Polizisten und Grenzbeamten verhindert worden. Verstärkten Migrationsdruck in Richtung Dover hat wohl erst der Brexit ausgelöst. Das sagte der Chef des Eurotunnels in einem Interview: Die Aussicht, dass sich das Vereinigte Königreich bald noch mehr abschotte, könne kurzfristig zu einem vermehrten Zustrom von Flüchtlingen führen.
David Cameron hatte andere Sorgen: die Zuwanderung von Osteueropäern und besonders von Polen nach Großbritannien. Im Zuge seiner „Remain“-Kampagne hatte er der EU noch einen Deal bei den Sozialleistungen abgerungen. Großbritannien darf seitdem das Kindergeld, das in andere EU-Länder überwiesen wird, an die dortigen Lebenshaltungskosten anpassen.
In der Asylpolitik kündigte er im vergangenen September an, bis zu 15.000 Flüchtlinge direkt aus Syrien aufzunehmen. Zudem erklärte sich das Land bereit, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unbegrenzt aufzunehmen.
Vor allem die Schotten waren dafür: In einer World-Vision-Umfrage vom Mai unterstützen 59 Prozent der Befragten diese Entscheidung. Anfang Juni forderte die Erste Ministerin Nicola Sturgeon sogar noch mehr Engagement. „Wir in Schottland möchten unseren fairen Anteil an Flüchtlingen übernehmen“, sagte sie in Brüssel.
Mit gutem Willen könnte man es auch so interpretieren: Das schottische Votum richtete sich gerade nicht gegen Merkels Flüchtlingspolitik – sondern gegen die Abschottungspolitik.