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(picture alliance) Deutschland sucht Indikatoren zur Messung von Wohlstand und Lebensqualität

Lebensqualität statt Wirtschaftswachstum - Wie messen wir Glück?

Das Bruttoinlandsprodukt ist als Messgröße für das Wirtschaftswachstum nicht mehr zeitgemäß, aber ein neuer Indikator ist noch nicht verfügbar

Seit dem Beginn der Finanzmarktkrise diskutieren Politik und Gesellschaft wieder eifrig über Möglichkeiten einer statistischen Messung von Wohlstand und Lebensqualität – jenseits des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Eine ähnliche Debatte über „Sozialindikatoren“ verlief in den siebziger Jahren im Sande.

Nun steht die alternative Wohlstandsmessung wieder als erstrebenswertes politisches Ziel im Raum. Auch auf internationaler Ebene: Der französische Präsident Nicolas Sarkozy ließ eine Sachverständigenkommission von den Wirtschaftsnobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen leiten. In Großbritannien gab die liberal-konservative Regierung die Messung von „Lebenszufriedenheit und Glück“ in Auftrag. Und in Deutschland hat der Bundestag eine Enquetekommission für die Erarbeitung von Konzepten für die bessere Messung von „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ eingesetzt.

Weitestgehende Einigkeit besteht darüber, dass das traditionelle BIP kein umfassender Wohlstandsindikator ist. Das BIP wurde nach der Weltwirtschaftskrise 1930 im Auftrag des amerikanischen Kongresses von dem Ökonomen Simon Kuznets zur Messung der Konjunktur entwickelt. Es erfasst nur Produkte und Dienstleistungen, die am Markt gehandelt werden, was heute nicht mehr ausreicht, wenn man Wohlstand und Lebensqualität messen will. Noch nicht einmal die Verteilung von Gütern und Diensten hat das BIP im Blick. Die Nachhaltigkeit unserer Lebensweise wird völlig ausgeblendet. Sofern Katastrophen wie der Wirbelsturm Katrina in New Orleans oder die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko für Umsatz sorgen, gehen sie sogar positiv in das BIP ein.

Die Suche nach alternativen Indikatoren wirft aber nicht nur Wert- und Ethikfragen auf, sondern auch ganz praktische Probleme, über die sich die wenigsten Menschen Gedanken machen: Auf Grundlage welcher Statistiken könnten solche Indikatoren überhaupt entstehen? Kann man die ausgewählten Messwerte überhaupt zeitnah liefern? Welche Rolle sollen die Statistischen Ämter dabei spielen? Wie sollen sie geführt werden?

Bessere, politisch relevante Indikatoren müssen auch mit einer Verbesserung der statistischen Erhebungen einhergehen. Denn die exakteste statistische Messung nützt nichts, wenn sie erst mit einer Verzögerung von zwei, drei Jahren vorliegt. Die neuen Indikatoren wären also unweigerlich mit einem Ausbau der „Bürokratie“ (denn dazu werden statistische Ämter gemeinhin gezählt) verbunden.

Was immer man von der Konjunkturmessung durch das BIP hält: Die Ergebnisse werden vierteljährlich vorgelegt und ermöglichen eine zeitnahe politische Reaktion. Wer allerdings nur das quantitative Wachstum zählt, wird höchstwahrscheinlich falsche wirtschaftspolitische Prioritäten setzen.

Die einzige Steuerungsgröße, die ähnlich schnell zur Verfügung steht wie das BIP, sind die Arbeitslosenzahlen, die sogar monatlich veröffentlicht werden. Arbeitslosigkeit beziehungsweise Erwerbstätigkeit haben ohne Zweifel entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden jedes Einzelnen, aber auch der Gesellschaft. Sie ergänzen daher als eigene Kennzahl das BIP schon seit langem.

Ein weiterer wichtiger Lebensbereich ist die Einkommensverteilung. Mit Gesetzen für Steuern und Transfers versucht die Politik im Grunde permanent die Einkommensverteilung zu verändern. Je nach politischer Couleur dreht sie dabei an unterschiedlichen Stellschrauben: Liberale wollen die Einkommen im oberen Bereich anheben, Linke hingegen im unteren Bereich. Aber alle sind sich darüber einig, dass die Einkommensverteilung ein wichtiges politisches Ziel ist. Leider gibt es keinerlei auch nur halbwegs aktuelle Statistik zur Einkommensverteilung in Deutschland.

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Da sie statistisch nur mühsam zu erfassen ist, sind die Zahlen dazu oft zwei Jahre alt, wenn sie die politische Diskussion erreichen. Internationale Vergleichsstatistiken, die auf nationale Nachzügler bei der Datenlieferung warten müssen, liegen oft noch weiter vom aktuellen Rand entfernt. In Deutschland wird die wichtige Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) nur alle fünf Jahre erhoben. Wollte man die Einkommensverteilung zu einem unmittelbar politisch relevanten Indikator machen, könnte man den monatlich durchgeführten amtlichen Mikrozensus so modifizieren, dass er zumindest vierteljährliche Statistiken zur Einkommensverteilung und Armutsgefährdung ermöglicht. Methodisch-technisch ist das ziemlich einfach. Statistik, Wissenschaft und Politik müssen dafür freilich in einen konstruktiven Dialog kommen, der bislang fehlt.

Noch gravierender ist das Problem der Aktualität bei der Messung der Nachhaltigkeit. Hier reicht es noch nicht einmal, zum Beispiel den CO-Ausstoß am aktuellen Stand zu messen. Man will nämlich wissen, wie sich Änderungen im Umweltschutz langfristig auswirken – ist also auf Prognosen mit teilweise sehr langer Laufzeit angewiesen. Wir brauchen Simulationsstudien für die ferne Zukunft, um Fragen zu Klima und Umwelt heute handlungsrelevant zu beantworten. Wenn in diesem Bereich Indikatoren amtlichen Charakter haben sollen, muss man sich auf standardisierte Simulationsverfahren einigen und sich gleichzeitig darüber im Klaren sein, dass es permanent eine Diskussion um die Qualität und die Verbesserungen dieser Simulationen geben wird. Auf diese Art von Streit sind die hohe Politik und die breite Öffentlichkeit noch keineswegs vorbereitet. Das ist aber notwendig, denn streng genommen interessiert auch bei der Arbeitslosigkeit und den Einkommen (oder dem BIP) nicht das Heute, sondern nur die Zukunft.

Schon jetzt wird viel über die „Schönfärberei“ von amtlichen Statistiken diskutiert. Neue Arbeitsmarktmaßnahmen, so ein gern erhobener Vorwurf, sollen vor allem oder zumindest auch dazu dienen, Arbeitslose in andere Kategorien als „Arbeitslosigkeit“ zu befördern, um Fortschritte vorzutäuschen, die in Wirklichkeit gar keine sind. Wie würde das nun aussehen, wenn sich die Politik jetzt auch noch von harten Zahlen entfernen und stattdessen auf der Grundlage von Simulationen und „weichen Faktoren“ wie Glück und Zufriedenheit steuern würde?

Klar ist: Ein stärkerer Fokus der Politik auf statistische Indikatoren ist notwendig, macht es aber erforderlich, dass Politik und Öffentlichkeit sich viel mehr als bislang mit den methodischen Feinheiten der Erhebung und Berechnung dieser Indikatoren beschäftigen. Denn kein Indikator ist konzeptionell unumstritten. Überdies kann nie vollkommen fehlerfrei gemessen werden. Zuletzt hat die Revision von Armutsquoten durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin deutlich gemacht, dass es noch vielfältiger Veränderungen der Diskussionskultur bedarf, bevor komplexe Indikatoren unmittelbar für politische Steuerung eingesetzt werden sollten. Die regelmäßigen Diskussionen um die Aussagekraft der Pisa-Ergebnisse und der Zahlen des International Social Survey Programms zum Weltklima belegen dies ebenfalls.

Amtliche Statistiken werden in Deutschland gewiss nicht von der Politik manipuliert. Aber die Statistischen Ämter sind bisher nachgeordnete Behörden der Innenministerien oder der Staatskanzleien, die nicht frei entscheiden können, was sie erheben und wie sie messen. Damit ist die „professionelle Unabhängigkeit“ nicht voll gewährleistet, und vor allem gehört eigenständige Forschung bislang auch nicht zu den Aufgaben der amtlichen Statistik. Sollen die Indikatoren jedoch an Gewicht gewinnen, so müssen auch die Statistischen Ämter – um die nötige Glaubwürdigkeit zu erlangen – unabhängiger werden. Der Status der Bundesbank bietet sich als Vorbild an. Die Bereitstellung guter Daten muss finanziell besser gefördert werden, damit Indikatoren, Statistiken und Simulationen zu Lebensqualität und Nachhaltigkeit jeweils so aktuell wie möglich vorliegen.

Integraler Bestandteil einer solchen Politiksteuerung mithilfe statistischer Indikatoren sollte ein Sachverständigenrat sein, der die Zahlen interpretieren und – noch wichtiger – immer wieder infrage stellen kann. Zu klären sind dabei die üblichen institutionellen Fragen: Wer sollte ihn besetzen? Wer sollte ihn kontrollieren? Auf jeden Fall müssten alle amtlichen Daten und Simulationen sofort und unmittelbar auch der Wissenschaft zur Verfügung stehen, damit kritisch und unabhängig gegengeprüft werden kann. Solange eine solche Unabhängigkeit der amtlichen Statistik und eine solche Diskurskultur nicht erreicht sind, ist eine Steuerung von Politik auf Grundlage von Indikatoren im bestenfalls nicht empfehlenswert, im schlimmsten Falle sogar gefährlich. Wer nach Indikatoren jenseits des BIP sucht, darf die solide Verankerung in einem statistischen Fundament und einer ausgereiften Diskurskultur nicht vergessen.

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