Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Tschechischer Ökonom Sedlácek: - „Ich bin für einen Länderfinanzausgleich in Europa“

Der tschechische Starökonom Tomas Sedlacek lobt den Euro, fordert eine Abkehr von der Ideologie des ewigen Wachstums und träumt von einem Kapitän Europa. Die Griechen hält er für eine „ökonomische Avantgarde“

Autoreninfo

Tomas Sacher ist ein tschechischer Journalist. Er leitete das Wirtschaftsressort des Magazins „Respekt“ und moderiert Debatten zur Politik und Wirtschaft. Er lebt in Berlin und Prag

So erreichen Sie Tomas Sacher:

 

Im April platzierte Griechenland zum ersten Mal seit vier Jahren wieder Staatsanleihen an den Finanzmärkten. In dieser Woche sagte der Ministerpräsident Antonis Samaras bei seinem Berlin-Besuch, dass sein Land kein neues Hilfspaket brauche.

 

Herr Sedlacek, sind die Griechen jetzt gerettet?

Tomas Sedlacek: Es ist eine Rettung für uns alle, weil wir damit endlich auch den Mythos „Fauler Süden versus fleißiger Norden“ zu Grabe tragen können. Ich würde sogar noch weiter gehen: Griechenland liegt nicht hinter uns, Griechenland ist uns voraus. Die Griechen sind die ökonomische Avantgarde.

Ist das Ihr Ernst?
Die meisten europäischen Länder werden aufgrund ihrer überschuldeten Staatshaushalte in etwa 20 Jahren wie Griechenland enden, wenn wir nicht unser Wirtschaftssystem ändern. Außerdem sind Krisen wie Karussells, in der Europäischen Union wird es zwangsläufig immer ein Land geben, dem es am besten geht, und eines, das gerade in der Krise steckt. Vor 13 Jahren war Deutschland der kranke Mann Europas, uns Tschechen ging es Anfang der Neunziger nicht gut. Finnland, Frankreich, Großbritannien, alle haben Krisen erlebt und sind gestärkt daraus hervorgegangen.

Machen Sie es sich da nicht etwas zu einfach? In der Eurokrise stand die europäische Währungsunion kurz vor dem Zusammenbruch.

Ja, aber die Linie, die zwischen dem „problematischen“ Süden und dem „erfolgreichen“ Norden gezogen wurde, war von Anfang an falsch. Irland gehört ja nicht zu Südeuropa. Wir neigen außerdem dazu, Kausalität und Korrelation zu verwechseln. Aktuell wird uns eingeredet, dass die Krise zum Wiedererstarken des Nationalismus führt.

Aber genau diese Entwicklung haben wir doch in Griechenland gesehen.
Ja, aber es gab auch schon vor der Krise Jörg Haider in Österreich, in der Slowakei saßen extreme Nationalisten in der Regierung, in Tschechien hetzten die Republikaner gegen die Roma. Es gibt verschiedene Gründe für solche Phänomene in den einzelnen Ländern. Aber anders als in den dreißiger Jahren hat die Wirtschaftskrise nicht zum Wiedererstarken des Nationalismus geführt.

[gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]

Woran machen Sie das fest?
Stellen Sie sich doch mal vor, Griechenland wäre vor zwei Generationen in eine solche Situation geraten. Soll ich Ihnen sagen, was dann damals in den europäischen Hauptstädten diskutiert worden wäre? Man hätte überlegt, ob man das Land besetzen, aufteilen oder gleich annektieren soll. Heute spannt man einen Rettungsschirm auf. Alle haben sich gewünscht, dass Griechenland sich wieder erholt. Europäische Nachbarn wünschen sich gegenseitig Wohlstand. Das ist doch wundervoll!

Aber der Bail-out der Griechen, der Iren und der Portugiesen war doch kein rein altruistischer Akt?
Nein, es ging mit Sicherheit auch darum, die eigenen Banken zu retten. Aber das ist ja eines der Hauptphänomene der Globalisierung, dass die Probleme der anderen zu unseren eigenen Problemen werden können. Das ist genial, weil der Anreiz fehlt, gegeneinander Krieg zu führen: Wir haben den alten Fetisch des geografischen Wachstums durch den Fetisch des Wirtschaftswachstums ersetzt.

Die Griechen leiden aber noch immer unter enorm hohen Staatsschulden. Und einige Ökonomen fordern weiterhin den Ausschluss der Griechen aus dem Euro oder plädieren für einen kontrollierten Staatsbankrott.
Diese Diskussion ist hysterisch. Bei uns in Tschechien gibt es das Märchen vom dummen Hans, der mit seiner Leiter auf einen Baum klettern will. Da die Leiter zu lang ist, sägt er eine Sprosse ab, aber es passt wieder nicht perfekt. Er sägt so lange Sprossen ab, bis die Leiter völlig unbrauchbar ist.

Was heißt das für die EU?
Wenn wir anfangen, die Länder, die in Schwierigkeiten geraten, abzusägen, ist am Ende niemand mehr in der EU. Die aktuelle Finanzkrise hat in den USA begonnen. Sie hat dort verheerende soziale Auswirkungen gehabt, weil die Sozialsysteme viel schwächer ausgebaut sind als in Europa. Trotzdem käme kein vernünftiger Amerikaner auf die Idee, eine Auflösung der Vereinigten Staaten zu fordern. Das Gleiche gilt für Japan trotz seiner seit Jahren anhaltenden Krise. Dieses „Brecht die EU auseinander!“, so eine kontraproduktive Forderung kann nur von uns Europäern kommen.

Aber wir leben eben nicht in den Vereinigten Staaten von Europa.
Ich habe kürzlich im Kino den zweiten Teil von Captain America gesehen. Der Superheld ist groß, muskulär, ein blonder Superman. Die Amerikaner lieben ihn. Wir in Europa haben keinen Kapitän Europa, sondern höchstens Kafka. Diesen amerikanischen Enthusiasmus werden wir in Europa nie teilen. Wir werden uns immer Kafka näher fühlen, mit unserer ewigen Skepsis und Kritik. Trotzdem ist Europa unser gemeinsames Haus.

Sind die Europäer durch die Krise doch näher zusammengerückt?
Ja, wir wachsen zu einer Familie zusammen. So einfach ist das. Und wenn die Griechen unsere Brüder und Schwestern sind, dann müssen wir ihnen helfen, wenn sie sich ein Bein gebrochen haben, und nicht fragen, wie viel es kosten wird. Deswegen bin ich für die Einführung eines Länderfinanzausgleichs in Europa. Das funktioniert doch innerhalb einzelner Mitgliedstaaten auch.

Warum ist Europa so instabil?
Wir haben eine Tendenz dazu, alles auf die Spitze zu treiben, alles zu maximieren, alles zu übertreiben. Die Idee der wirtschaftlichen Integration Europas ist richtig. Aber wir haben uns dabei in die Idee des ständigen Wirtschaftswachstums verliebt. Die Krise hat gezeigt, dass es uns genauso zerstören kann wie unser alter Fetisch des geografischen Wachstums.

Aber Wirtschaft und Politik setzen doch weiterhin auf Wachstum.
Das Argument lautet immer: Wir müssen uns jetzt höher verschulden, um die Wirtschaft anzuregen, damit wir später unsere Schulden einfacher abtragen können. Schulden mit noch mehr Schulden zu bekämpfen hat etwas Manisches. Das ist ungefähr so, als wenn Sie für einen Alkoholiker, der mit seinem Kater kämpft, ein wirksameres Schmerzmittel entwickeln. Kurzfristig helfen Sie ihm mit der Medizin, aber langfristig wird sein Alkoholproblem noch schlimmer.

Aber kann der Kapitalismus ohne Wachstum funktionieren?
Wir müssen aufhören, uns in die Tasche zu lügen. Wenn die Neuverschuldung der USA bei 7 Prozent des BIP liegt, die Wirtschaft aber nur um 1,5 Prozent wächst, kann ich das doch nicht ernsthaft als Wachstum bezeichnen. Die Krise hat gezeigt, dass wir mit unserer Verschuldungspolitik schon seit Jahren selbst in die Segel unseres Schiffes pusten, aber kein Wind weht. Wir haben unsere Stabilität verkauft, um ökonomisches Wachstum zu erzeugen. Aber dieser Wachstumskapitalismus ist ein sehr fragiles System. Nur eine kleine Störung reicht aus, um alles zusammenbrechen zu lassen.

Wie bekommen wir wieder mehr Stabilität ins System?
Indem wir jetzt das Gegenteil machen: Auf Wachstum verzichten und Schulden abbauen. Länder wie Spanien, Finnland und Belgien haben ihre Schuldenstände schon deutlich gesenkt.

Kritiker einer solchen Sparpolitik warnen schon vor der Gefahr einer Deflation. Selbst EZB-Chef Mario Draghi achtet peinlich darauf, das Wort gar nicht erst in den Mund zu nehmen, und spricht, wenn überhaupt, vom D-Wort.
Die Gefahr einer Deflation sehe ich aktuell nicht. Wir Ökonomen wissen auch gar nicht so genau, was heute bei einer Deflation passieren würde, weil das Thema nicht hinreichend untersucht ist. Nach der Theorie werden die Waren billiger, das kann dazu führen, dass Kunden ihre Einkäufe hinauszögern, weil sie auf noch weiter sinkende Preise hoffen. Ein mögliches Ergebnis wäre ein Abwärtsstrudel, wie wir ihn in den USA Anfang der dreißiger Jahre erlebt haben. Heute reagieren Konsumenten auf niedrige Preise aber eher mit Einkaufslust – nicht mit Kaufzurückhaltung. Momentan fände ich eine leichte Deflation eigentlich angenehmer, weil der Wert meines Geldes und meine Kaufkraft dabei steigen. Sie macht mich reicher, während mich eine hohe Inflation verarmen ließe.

Ist der Verzicht auf Wachstum auch gleichbedeutend mit dem Ende der Gier?
Nein, Gier ist eine der Ureigenschaften der Menschen. Sie ist immer gleichzeitig Motor des Fortschritts, aber auch Ursache des Absturzes. Insofern ist sie auch eng mit dem Kapitalismus verbunden. Aber wenn man die klassische Ökonomie betrachtet, wird das Bild schon differenzierter. Heute werden Befürworter einer wachstumsorientierten Wirtschaft eher rechts der politischen Mitte eingeordnet. Mich amüsiert das immer, weil eigentlich der Kommunismus das System war, das immer wachsen und wetteifern wollte. Jeder Fünf-Jahres-Plan sah Wachstum vor, die Leistung jedes Arbeiters wurde gemessen. In der klassischen Ökonomie war der größte Gewinn des Reichtums der Müßiggang. Kapitalisten arbeiteten also, um faul sein zu können. Ein historischer Treppenwitz, dass die Griechen heute für ihre Faulheit beschimpft werden. Das liegt aber auch daran, dass heute alle, die nicht von früh bis spät arbeiten wollen, sofort als eher links eingeordnet werden. Aber das kann sich auch wieder ändern, eine stärkere Tendenz zu Teilzeitjobs zeichnet sich in einigen europäischen Ländern schon ab.

Sie arbeiten selbst aber auch von früh bis spät, wollten ursprünglich Historiker werden, aber Ihr Vater hat Sie überzeugt, Ökonomie zu studieren. In Ihrer Arbeit sind Sie ein Grenzgänger, beschäftigen sich mit Philosophie, Geschichte und Ökonomie, gleichzeitig arbeiten Sie als Berater für eine der größten Banken Tschechiens. Wie passt all das zusammen?
Genau so, anders könnte ich gar nicht arbeiten. Ich mag es nicht, wenn man die Welt nur durch die Augen eines Bankers, eines Philosophen oder eines Künstlers sieht. Ich möchte Brücken bauen zwischen den verschiedenen Fächern. Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit allem, was mir Spaß macht: Film, Literatur, Ökonomie, Philosophie und Geschichte. Das ist ein Ansatz aus der Renaissance. Als das Wissen der Menschheit zu groß wurde, haben wir es aufgeteilt, damit wir es gemeinsam wieder zusammenfügen können. Das passiert aber nicht mehr. Stattdessen sind wir eine Gesellschaft von Fachidioten geworden, die die Welt nicht mehr verstehen.

Teilen Ihre Kollegen bei der Bank diesen Renaissance-Ansatz?
Es ist wie bei einem Tischler, der tagsüber rechteckige Tische mit vier Beinen baut. Abends kommt er nach Hause, trinkt ein Glas Wein und beginnt herumzuphilosophieren: Brauchen Tische unbedingt vier Beine? Warum sitzen die Menschen in Asien gerne auf dem Boden? Und eines Tages fängt er an, Tische mit einem Bein zu bauen oder solche, die unter der Decke hängen. Für die Bank baue ich noch rechteckige, klassische Tische, aber es werden weniger. Und Fortschritte erzielen wir nur, wenn wir neue Sachen ausprobieren.

Der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek wurde 2012 mit seinem Best­seller „Die Ökonomie von Gut und Böse“ weltweit bekannt. Der 37-Jährige lehrt heute an der Karls-Universität in Prag Wirtschaftsgeschichte und -philosophie. Gleichzeitig ist er als Makroökonom der tschechischen Bank CSOB tätig. Von 2001 bis 2003 arbeitete Sedlacek als wirtschaftspolitischer Berater des damaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.