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Jan Rieckhoff

Systemkritik - Macht uns der Kapitalismus unglücklich?

24 Stunden bei der Arbeit, zeitlos, ortlos: Unser Wirtschaftssystem überdreht. Das ewige Streben nach mehr kennt nur Verlierer – Erkenntnisse eines Geläuterten

Autoreninfo

Max A. Höfer ist freier Journalist und lebt in Berlin. Zuvor leitete er das Politikressort von Capital und war anschließend bis 2009 Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

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[[{"fid":"58961","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":951,"width":693,"style":"width: 110px; height: 151px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der September-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
„Vierzig bis 50 Stunden kannst du gut und gerne arbeiten“, riet der Arzt dem Brandenburger Ministerpräsidenten, „aber 80 – vergiss es.“ Ohne seinen Schlaganfall würde Matthias Platzeck also immer noch jenseits des Belastungslimits schuften. Wie beinahe alle Spitzenpolitiker, denn wer im Haifischbecken Schwächen zeigt, wird schnell gefressen.

Okay, das ist die Politik, könnte man einwenden, die war immer schon unerbittlich. Aber der Arbeitsdruck hat auch in der Wirtschaft massiv zugenommen. Das demonstriert schon die Leistungsdisziplin der Spitzenmanager. Sie verströmen einen Korpsgeist, der alles dem Erfolg unterordnet, und sie signalisieren damit, dass sie das ohnehin schon immense Veränderungstempo noch steigern können: Wir erhöhen Rendite und Effizienz, wir optimieren alles – sogar uns selbst. Neuerdings unterzieht sich die Leistungselite einem stählenden Fitnesstraining. Den 14-Stunden-Arbeitstag eröffnen sie mit Joggen oder einem Workout.

Es fällt auf, wie schlank die Dax-Konzernchefs mittlerweile sind. Zigarre und dicker Bauch, das war einmal. Der zeitgemäße Kapitalismus ist fit und gesund. Er trinkt stilles Mineralwasser. Perfekte Performance ist alles, auch bei der Figur. Die Unternehmenskennzahlen müssen stetig nach oben weisen, das ist ohnehin klar, aber auch im Privatleben muss alles stimmen.

Der Workaholic von heute muss nicht nur hart arbeiten können, er muss dabei auch noch glücklich sein

„Happy Workaholics“, nennt Managerberater Reinhard Sprenger diese Marathon-Männer, weil sie „fast erotisch angezogen werden von dem, was sie tun“, und den Preis, der dafür zu zahlen ist, „den zahlen sie gern“. Alles, was der Mensch normalerweise zum Glücklichsein braucht, Familie, Freunde, Muße, Hobbys, Gelassenheit, wird dem Beruf geopfert. Die atemlose Getriebenheit darf aber nicht asketisch rüberkommen, obwohl sie genau das ist. Es soll nicht so aussehen, als ob sich die Topmanager aufopfern. Das würde zu sehr an alte soldatische Tugenden erinnern, wie sie noch im Titel CEO anklingen: exekutierender Offizier. Der happy Workaholic muss so tun, als ob er seinen Job liebt und sich darin selbst verwirklicht, bei gleichzeitigem Schlafentzug, um noch mehr Sitzungen abhalten zu können.

Der kalifornische hat den rheinischen Kapitalismus abgelöst: Glücklichsein wird zur Pflicht. Obwohl die Manager also länger arbeiten und verfügbarer sind als je zuvor, soll alles ganz easy aussehen. Der Zwang, als Workaholic auch noch Happiness vortäuschen zu müssen, ist vielleicht das Perfideste an dieser Entwicklung.

Zumal in den Niederungen des Arbeitsalltags die Überforderung regiert. Ich will den Fall des Swisscom-Chefs Carsten Schloter, der sich vor kurzem das Leben nahm, gewiss nicht strapazieren, aber Schloter selbst klagte kurz vor seinem Tod über seine Totalverpflichtung, über sein vernachlässigtes Privatleben und dass er sein Smartphone nicht mehr abschalten könne. Ein eigenes Büro hatte er nicht mehr, er arbeitete von überall. Er war ortlos geworden, zeitlos im Dienst, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

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Der flexible Mensch, jederzeit und überall einsetzbar, abrufbereit und projektbezogen, in wechselnden Räumen und Teams – das ist gerade bei Google, Microsoft und Apple Ziel der Unternehmensorganisation. Ein Menetekel ist France Télécom, die ihre Führungskräfte unter dem Slogan „Time to move“ alle drei Jahre zwangsversetzte. So sollten sie flexibel und kreativ bleiben und eine zu enge Verbindung mit Personal und Routinen vermeiden. Die Selbstmordrate im Unternehmen nahm derart zu, bis schließlich die französische Justiz ermittelte. Hier artete der Steigerungskapitalismus zweifellos aus, aber seine Logik ist intakt.

Es wundert daher nicht, dass der Kapitalismus auch heute nur wenige Freunde hat. Bei den meisten überwiegt das Unbehagen, dass das System ungesund und unsicher ist, und die Erwartungen an ein gutes Leben nicht erfüllt. Die Menschen fürchten vielmehr, dass der Stress und die Arbeitsverdichtung im Job weiter zunehmen und dass es nichts bringt, wenn sie immer mehr in der gleichen Zeit leisten. Denn den wachsenden Anforderungen stehen nur marginale Reallohngewinne gegenüber. 14 verschiedene Geruchsrichtungen für WC-Spüler oder 30 neue Joghurt­sorten sind auch kein schlagkräftiges Argument für mehr Zufriedenheit.

Unserem Wirtschaftssystem gelingt es immer weniger, die Vorteile von technischem Fortschritt und Produktivität in „glückbringenden“ Wohlstand umzusetzen. Wir laufen in einem Hamsterrad und wissen es auch. Für ein glückliches Leben dreht sich das Hamsterrad zu schnell, für Politik und Wirtschaft dreht es sich aber immer noch zu langsam. Jeder Gedanke an Entschleunigung oder an eine Verlangsamung der Tretmühle grenzt schon an Meuterei. Wirtschaftsminister Philipp Rösler sieht uns gegenüber China und den USA in einer „Aufholjagd, die in den Kitas und in der Grundschule beginnen muss“.

Wir produzieren immer mehr, glücklicher werden wir dadurch dennoch nicht

Warum aber kann das System nicht innehalten? Wir verfügen heute über das sechsfache Bruttoinlandsprodukt von 1960, und die Welt soll zusammenbrechen, wenn wir das Tempo nicht weiter erhöhen? Vom IWF über die OECD bis zur Euro-Troika wird für die Entfesselung von Wachstums­kräften getrommelt und sei es auf Pump.

Offenbar haben wir das Ziel aus den Augen verloren. Dieses Gefühl beschlich mich, als ich als Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, der INSM, für mehr Marktwirtschaft warb. Weder meine Hinweise auf ihre beispiellose Erfolgsgeschichte noch Appelle an die segensreiche Wirkung von Markt und Wettbewerb konnten unbefangene Zustimmung auslösen. Selbst junge Menschen mit guten Karrierechancen sagten mir, dass sie die Vorstellung, demnächst auch im Hamsterrad zu laufen, wenig motiviere. Mein Lob der Warenvielfalt rief bei ihnen eher ein Gähnen hervor und provozierte Fragen nach den ökologischen Grenzen.

Die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft müssen sich eingestehen, dass unser Wirtschaftssystem in einer Akzeptanzkrise steckt, die vor allem darin besteht, dass sie dem dominanten Steigerungskapitalismus nur noch wenig entgegenzusetzen haben. Umfragen zeigen, dass die Menschen gern weniger arbeiten würden und mehr Zeit mit der Familie und mit Freunden verbringen möchten. Angesichts der erreichten Produktivität müsste das leicht möglich sein, es scheint aber immer unmöglicher zu werden. Wir produzieren immer mehr, aber offenbar nicht das, was uns zufrieden macht. Lohnt es sich, dafür länger und härter zu arbeiten? Auf diese Zielkonflikte hat die Wirtschaft keine Antwort.

Wenn das Ziel fragwürdig ist, lohnt der Blick zu den Wurzeln. Max Weber hat vor 100 Jahren die Entstehungsgeschichte des modernen Kapitalismus beschrieben. An seiner Wiege standen die Puritaner. Sie machten aus den Menschen, die „von Natur aus einfach leben wollen, wie sie zu leben gewohnt sind, und nur so viel erwerben, wie dazu erforderlich ist“, Berufsmenschen, die den Sinn ihres Lebens in der Optimierung ihrer Arbeitsleistung sehen.

Der protestantische „Geist des Kapitalismus“ hat die Mentalität der westlichen Industrienationen geformt, und er hat dabei, trotz einiger Metamorphosen, seinen Kerngedanken nie verändert, wie ihn Weber eindringlich beschrieb: „Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens.“ Von Glück war nie die Rede. Der Berufsmensch sollte nutzenorientiert, kalt, ordentlich, fleißig und produktiv sein. Der Mensch sollte leben um zu arbeiten, und nicht, wie in allen anderen Kulturen davor, arbeiten, um gut zu leben.

Die neoklassische Ökonomie hat das puritanische Prinzip der Nutzenmaximierung übernommen und radikalisiert: Mehr ist besser als weniger, lautet die Grundregel. Sie ist die Formel zur unbegrenzten Steigerung. In der Ökonomie gibt es keinen „guten“ oder „schlechten“ Konsum, sie hat auch keinen Begriff vom „guten Leben“. Ob eine Gesellschaft geschlossen bei McDonald’s isst oder Slow Food genießt, das eine ist ihr so richtig wie das andere. Ob die Schüler ihr Pausenbrot verzehren oder Crack rauchen – es ist ihre Entscheidung, und ökonomisch betrachtet gilt für beide: Mehr ist besser als weniger.

Mit dieser Denkweise werden wir niemanden für die Marktwirtschaft begeistern, da bin ich mir sicher. Denn was die Menschen heute bewegt, das sind Fragen nach dem guten Leben, nach den qualitativen Bedingungen für Wohlbefinden und wie wir die natürlichen Ressourcen dafür erhalten können. Unsere „protestantische Arbeitsethik“ hat uns weit gebracht, aber im Steigerungskapitalismus überdreht sie und wird gefährlich.

Warum tun wir uns aber so schwer, damit aufzuhören? Wie konnte der Puritaner in uns so lange überleben? Warum rebellieren wir nicht gegen die Dauerbetriebsamkeit und konsumieren unablässig weiter, obwohl es uns nicht glücklicher macht?

Yuppies und Hippies? Schon längst kein Gegensatz mehr...

Geht man dem „puritanischen Geist des Kapitalismus“ bis in unsere Tage nach und sucht nach den Gründen für unsere Wehrlosigkeit, stößt man auf eine Auferstehungsgeschichte. Denn in den sechziger Jahren schienen Webers Puritaner am Ende, entmachtet von Konsum, Spaß und Rebellion. Daniel Bell sagte damals voraus, dass die protestantische Arbeitsmoral an der hedonistischen Freizeitkultur zugrunde gehen werde.

Falscher hätte er nicht liegen können: Yuppies und Hippies passen mittlerweile wunderbar zueinander. Der kalifornische Kapitalismus, der unser Leben derzeit durchdigitalisiert und weiter beschleunigt, ist das Ergebnis dieser Verbindung. Die Gegenkultur hat die alten Arbeitstugenden der Pflicht und Leistung mit den Idealen der Autonomie, der Kreativität und Flexibilität angereichert. Die Konzerne suchen heute genau diesen Typus: intrinsisch motiviert, spontan, disponibel, unkonventionell, dabei kompetent und gut ausgebildet. Heutige Mitarbeiter leisten ohne Murren Überstunden, sie identifizieren sich mit ihren Projekten, für sie ist die Anerkennung im Job der größte Sinn ihres Lebens. Und gerade weil wir der Arbeit zu viel Bedeutung in unserem Leben geben, weil wir unseren Selbstwert zu stark daraus ableiten, kommen wir nicht von ihr los, sondern vernachlässigen die anderen Quellen des Glückes, also Familie, Freunde, Hobbys. Geld und Erfolg haben heute noch mehr Bedeutung als zu Webers Zeiten.

Die Unternehmer wird diese Analyse nicht beunruhigen, sondern erfreuen. Aber wenn sie es ehrlich mit den Menschen und mit sich selber meinen, müssen sie sich eingestehen, dass das Steigerungsspiel nicht zu gewinnen ist: Längere Arbeitszeiten und höhere Arbeitsproduktivität erzeugen höhere Einkommen für noch mehr Konsum und Wachstum, damit die Umsatz- und Erlösziele erreicht werden und uns der ganze Laden nicht um die Ohren fliegt. Nein, wir können uns Sisyphos nicht als glücklichen Menschen vorstellen.

Als der Casino-Kapitalismus 2008 zuerst in den USA explodierte, casteten wir bei der INSM einen US-Schauspieler, der wie Ludwig Erhard aussah. Mit Anzug, Krawatte und Zigarre stellten wir ihn an die Wall Street. Dort verteilte der „lebendige“ Erhard an die vorübergehenden Börsianer sein Buch „Wohlstand für alle“. Die verdutzten Banker konnten darin lesen, dass Erhard für eine Gesellschaft plädiert, in der das Kapital im Dienste des Menschen steht. Vielleicht sollten wir ihn heute vor die Konzernzentralen und das Bundeswirtschaftsministerium stellen. 

 

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