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Systemfehler Kapitalismus - Wie viel Markt steckt im Menschen?

Lange wurde der Kapitalismus als selbstverständlich hingenommen. Doch in der Krise muss er sich wieder erklären, weshalb sich rennommierte deutsche Kapitalismus-Forscher in Dresden trafen. Von unsagbarer Gier und dem Nimmersatt Investmentbank

Autoreninfo

ist Journalist und Buchautor. Er hat Politikwissenschaft, Journalistik und Neuere Geschichte studiert und ist Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule. Am 1. März erscheint im freiraum-verlag sein Roman "Vorhofflimmern", der von der Gewöhnung an rechte Gewalt in Ostdeutschland erzählt.

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Wenn der Soziobiologe Eckart Voland zeigen will, dass Marktverhalten einen biologischen, weit vor der Menschheit fußenden Ursprung hat, greift er tief in die tierische Beispielkiste. Dann wirft er Fotos von einem prächtigen Pfauengefieder an die Wand, das seinen Besitzer zwar flugunfähig macht, aber in all seiner protzenden Überflüssigkeit zum signaltragenden Selbstdarsteller der besten Gene. Der größte Blender kriegt auf dem tierischen Markt der Eitelkeiten das beste Weibchen. Drastischer noch das Verhalten männlicher Kröten, die beim hemmungslosen, kollektiven Besteigungsversuch des Krötenweibchens dieses schon mal erdrücken können. Voland führt dazu aus, dass jede Kröte, die sich aufgrund eines sozialen Impulses hinten anstellen würde, im Wettkampf um die Verteilung der eigenen Gene gnadenlos gegen die rücksichtslosen Egoisten verlieren würde. Die Botschaft: Gier ist natürlich. Auf den biologischen Märkten setzt sich der Stärkste durch.

Lange Zeit war die von Voland suggerierte Quasi-Naturgesetzlichkeit von Gier, Marktverhalten und rücksichtslosem Wettbewerb eine Art internationaler common sense. Untermalt wurde dies von Francis Fukuyamas apodiktischem Wort vom „Ende der Geschichte“ nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Geglaubt nicht nur von kapitalistischen Marktschreiern, sondern hingenommen von fast allen. Es hat schließlich auch keinen Sinn, gegen das Wetter aufzubegehren.

Löwen sind irgendwann satt, Investment-Banker nicht

Nun provoziert Volands Dia-Show natürlich den reflexhaften Widerspruch aller, die den Menschen nicht als biologistisch ferngesteuert betrachten. Menschen sind weder Pfauen noch Kröten noch Schleimtiere, was auch Voland nicht behauptet, auch wenn Zyniker bisweilen Ähnlichkeiten ausmachen. Letztlich scheitern die Gier-Analogien aus dem Tierreich daran, dass der Reichtum der Natur gar nicht ausreicht, um etwa die Gier moderner Finanzmärkte zu beschreiben. Der Löwe frisst und frisst, bis er nicht mehr kann. Aber dann hört er auf. Ein Gefühl der Sättigung stellt sich ein. Anders das Verhalten an den modernen Finanzmärkten. Greg Smith, ehemaliger Investmentbanker von Goldman Sachs, beschreibt in seinem Buch „Die Unersättlichen“ auf verstörende Weise, dass die systematische Gier nach immer neuen Gewinnen nie gestillt werden kann, dass sie im Internetzeitalter nur radikal beschleunigt ist. Ein enthemmter Wettlauf, in Teilen von computergenerierten Algorithmen gesteuert, der mit der nostalgischen Vorstellung eines Marktes nichts mehr zu tun hat.

[video:Meyers Monolog: Ist der Kapitalismus am Ende?]

Im Dresdner Hygiene-Museum trafen sich jetzt, auf Einladung u.a. der Bundeszentrale für politische Bildung, Deutschlands führende Kapitalismus-Forscher, um Grundlagen, Entwicklungen und Zustand des modernen Kapitalismus zu erörtern. Folgt man ihren Beschreibungen, haben wir es mit einem fehleranfälligen, ambivalenten und irreparablen Erfolgsmodell zu tun. Wie ein roter Faden zog sich die Erkenntnis durch die Vorträge von Kritikern wie Befürwortern, dass die Dynamik der kapitalistischen Weltwirtschaft weder von Regierungen, noch von supranationalen Organisationen, noch von wertegeleiteten sozialen Bewegungen wie Occupy zu steuern, geschweige denn zu regulieren oder zu begrenzen ist. Diese weltweite Regulierungskrise ist ein Paradoxon. Dem System, das größtmögliche Freiheit und unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeit des Einzelnen postuliert, stehen vermeintlich machtvolle Akteure wie Staaten und sogar Staatengemeinschaften ziemlich macht- und ratlos gegenüber.

Traditionelle Korrektur-Instrumente wie der Sozialstaat werden mehr und mehr zur Effizienzsteigerung eingesetzt, um die Gesellschaften noch marktkonformer zu machen. Für die Kinder in den Kitas gibt es Frühförderung und Fremdsprachen-Unterricht, damit sie früh, vor allen imaginären Konkurrenten, für den globalen Wettbewerb gewappnet sind. Nicht mal die Alten lässt man zur Ruhe kommen, weil auch die keine Rentner mehr sein dürfen, sondern eine wertvolle „Human-Ressource“ zu sein haben. So werden alle zu Marktteilnehmern. Von der Windel bis zur Bahre.

Nicht Gier treibt viele an, sondern Angst

Der Soziologe Hartmut Rosa macht für diesen von früh bis spät in Bewegung gesetzten Menschen einen ganz anderen Antreiber als die mantrahaft beschworene Gier aus: nämlich Angst. Angst zurückzufallen. Angst, nicht mehr mithalten zu können. In psychosomatischen Kliniken kann man ausgebrannte Bankangestellte bei dem Versuch zusehen, nach dem psychischen Totalschaden mühsam wieder ins Leben zurück zu finden. Nicht eigene Unersättlichkeit hat sie hierher gebracht, sondern die unerreichbaren, nie ausreichenden Vorgaben, Abschlüsse liefern zu müssen. Das eigene Unbehagen, den Kunden unsinnige Finanzprodukte verkaufen zu müssen. Nicht um Kunden zufriedenzustellen, sondern um Renditeziele zu erreichen. Gegen die eigene Überzeugung, über alle Kraft- und Moralgrenzen hinweg.

Rosa hat ein feines Gespür für das grassierende Unbehagen an diesen kapitalistischen Zuständen. Bei seinen Vorträgen wird er gefeiert wie ein Pop-Star, wenn er diesem Kapitalismus, in dem man immer schneller laufen muss, nur um den Status Quo halten zu können, zuruft: „Weg damit!“ Wenn sich Rosa in Rage redet, bezeichnet er den Kapitalismus gar als totalitäres System, das alle Lebensbereiche durchdringt und dem man sich nur um den Preis entziehen kann, völlig auszuscheiden und als abgehängter Außenseiter eine Randexistenz zu führen. Seine Abrechnung artikuliert eine kollektiv geteilte Abneigung gegen die Ansprüche der modernen Arbeitswelt und die Sehnsucht nach dem, was Rosa das „gute Leben“ nennt.

Aber was ist mit denen, die wirklich glücklich sind mit ihren Smartphones, Sportwagen und Designer-Schuhen? Das kapitalistische Belohnungssystem ist ja in den allermeisten Momenten kein Martyrium, sondern das pure Vergnügen. Das ist der Grund, warum Appelle nach Enthaltsamkeit und Verzicht bei der Mehrheit ins Leere laufen. Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt hat feinsinnig darauf hingewiesen, dass gut gemeinte Selbstbeschränkungs-Appelle bei einem Inder, der vom Aufstieg und Umzug in ein Steinhaus träumt, nicht eben auf Begeisterung stoßen werden.

Blasen und Krisen gehören zum System

Selbst Frontalkritiker wie Rosa müssen einräumen: Der Kapitalismus ist eine starke und bleibende Realität, Alternativen sind nicht in Sicht, weder neo-sozialistische noch irgendwie geartete Modelle eines dritten Weges. Doch genauso unstrittig ist die Tatsache, dass die Erfahrungen von Banken-, Staaten- und Finanzkrisen der letzten Jahre nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind.

Der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Werner Plumpe hält Wirtschaftskrisen und Spekulationsblasen für systemimmanent und unvermeidlich. Als Beleg reicht ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte. Vom Eisenbahn-Bau im 19. Jahrhundert über den Automobil-Boom bis zur Internet-Blase hat sich die Wirtschaft weltweit immer zwischen rasanten Wachstumsphasen und grausamen Talfahrten bewegt. Eingriffe nach den großen Weltwirtschaftskrisen etwa zur Zähmung der Banken und Börsen blieben historisch betrachtet Rohrkrepierer.

Nun kann das demjenigen egal sein, der in Jahrhunderten denkt und auf diese Weise zeigen kann, dass das kapitalistische System auch nach den schlimmsten Abstürzen wieder zu neuen Höhenflügen ansetzt. Auch dem Markt-Teilnehmer, der anders als seine Konkurrenten überlebt oder von der Krise sogar profitiert, kann das große Ganze egal sein. Dummerweise stürzen in den großen Krisen aber auch ganze Demokratien, bisweilen steigen mörderische Diktaturen auf und zetteln Kriege an. Da wird dann schon mal ein Hitler zum Reichskanzler, greift die Nachbarländer an, bringt millionenfachen Tod und versucht, ein ganzes Volk auszurotten. Demokratischen Gesellschaften können die Folgen eines Wirtschaftssystems nicht egal sein, sie dürfen es nicht mal. Selbst wenn gerade kein Hitler in Sicht ist.

Ökonomen werben auch nach den globalen Erschütterungen weiter dafür, die Märkte ausschließlich mit einem festen Regelwerk auszustatten und ansonsten sich selbst zu überlassen. Sie argumentieren mit idealen Märkten, wo jeder Teilnehmer freien Zugang und gleiche Informationen besitzt.

Politikwissenschaftler Patzelt weist darauf hin, dass die meisten Märkte jedoch nicht ideal, sondern verzerrt sind. Vielen ist der Zugang zu ihnen versperrt. Oligopole und Monopole bilden sich. Märkte, die sich selbst überlassen werden, zerstören sich selbst. Am Ende stehen alles beherrschende Giganten wettbewerbslos allein da wie etwa Apple und Samsung auf dem „Markt“ für moderne Mobilfunkanbieter. Dem real existierenden Sozialismus ist völlig zu Recht seine desaströse Realität um die Ohren gehauen worden. Der real existierende Kapitalismus, dessen idealtypische Markt-Prämissen in vielen Bereichen nicht ansatzweise eingelöst sind, wird von seinen Verteidigern mit einem Schulterzucken hingenommen. Nach dem Motto: Weiter so, ist eben so…

Marktkonforme Demokratie oder demokratiekonforme Märkte?

Den westlichen Demokratien fällt es zusehends schwerer, ihre Interessen gegen die Ansprüche der kapitalistischen Weltwirtschaft zu behaupten. Politische Korrekturversuche werden mit dem Hinweis auf den Schaden für den globalen Wettbewerb abgeblockt. So warnt Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Blum davor, Banken-Manager für ihr Versagen haftbar zu machen. Die Folge wäre, dass deutsche Banken keine Vorstände mehr finden könnten. Ganz so, als könnten deutsche Bank-Manager weltweit jeden Job kriegen, den sie nur wollen. So ist das oft mit den marktradikalen Drohgebärden: mehr Abschreckung als reale Gefahr, aber durchaus wirksam.

In seinem marktradikalen Duktus hält Blum auch Versuche, gegen wachsende Ungleichheit zu intervenieren, für falsch. Aufgabe der Politik sei vielmehr, den Menschen diese Ungleichheit zu erklären. Ganz so, als würde sich die Verkäuferin besser fühlen, wenn ihr die Bundeskanzlerin versichert, es gehe schon in Ordnung, dass der Bankvorstand das Hundertfache ihres mickrigen Lohns verdient. Hinter solchen Phrasen steckt die Forderung, die Politik möge Erfüllungsgehilfin der Wirtschaft sein. Ohne Vertrauen, so Blum, sei Kapitalismus nicht denkbar. Blindes Vertrauen in die Selbstregulierungs-Fähigkeit der „Märkte“ und deren Spieler ist aber nun gerade das, was die Welt an den Abgrund geführt hat. Angela Merkels Unwort der „marktkonformen Demokratie“ hat auf entblößende Weise offen gelegt, dass die Bundesregierung das von Marktradikalen geforderte Denken längst verinnerlicht hat.

Die Dauerkrise der Weltwirtschaft hat sichtbar gemacht, wie notwendig es wäre, den Primat der Politik gegenüber der reinen Wirtschaftslogik durchzusetzen. Etwa indem die Finanzwirtschaft mit ihrem spielerhaften Suchtverhalten radikal verregelt wird. Als die Banken taumelten, riefen ja ausgerechnet Bankenvertreter nach festeren Regeln und stärkerer Kontrolle. Und natürlich nach den Regierungen, die sich ansonsten aus allem raus halten sollten. „Too big to fail“ war die Losung, um Bankengiganten zu retten. „Too big too jail“ die noch absurdere, die besagte, dass man kriminelle Zocker ab einer gewissen Größe nicht zur Rechenschaft ziehen kann, weil das das „Vertrauen“ in die „Märkte“ und das „System“ vollends ruiniere. So wurden die Verluste sozialisiert. Kommunismus à la Kapitalismus.

In der gegenwärtigen Phase geht es gar nicht darum, ad hoc wirksame Interventions-Mechanismen aus dem Ärmel zu schütteln, um künftig etwa die übelste Zockerei mit Schrott-Papieren zu verhindern. Davor muss zunächst die Erkenntnis Konsens der demokratischen Parteien des Westens werden, dass der Staat oder Staatengemeinschaften die Regeln setzen müssen und dass die Politik im Gegensatz zur Wirtschaft sehr wohl normative Zielvorgaben befördern muss.

Mehr Gleichheit ist kollektives Glück!

Das US-amerikanische Forscher-Team um Richard Wilkinson und Kate Pickett hat in dem Buch „Gleichheit ist Glück – Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind“ eindrucksvoll belegt, dass diejenigen Gesellschaften, in denen das Einkommen massiv ungleich verteilt ist, größere Probleme mit Kriminalität, Gewalt, psychischen Krankheiten, Schulversagen und der Volksgesundheit haben. Inklusive horrender Folgekosten. Überall zeigt sich: Wo die unteren und die oberen Einkommen nahe beieinander liegen, läuft es sozialverträglicher, wovon sogar die Reichen profitieren. Wo hingegen die einen in bitterer Armut, die anderen in verschwenderischem Reichtum leben, grassieren Konflikte, Ängste, Depression und Gewalt. Der Befund ist eindeutig.

[video:Meyers Monolog: Ist der Kapitalismus am Ende?]

Der Vergleich der OECD-Länder lässt im Ergebnis nur einen Schluss zu: Die Demokratien sollten sich darum bemühen, die klaffenden Einkommensscheren wieder zusammenzuführen. Durch Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik. Kapitalistischen Märkten genügt es, wenn es einen Gewinner gibt. Demokratien können aber im Gegensatz zu Märkten nicht mit einem Gros abgehängter Verlierer leben. Weil diese sie destabilisieren, Kosten verursachen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen. Desintegrierte, abgehängte Verlierer fallen nämlich nicht nur als Marktteilnehmer aus, sondern – was viel schlimmer ist – auch als aktive Staatsbürger. Und China zeigt auf beklemmende Weise, dass der Kapitalismus im Zweifel ganz gut auf die Demokratie verzichten kann.

Am Ende der Dresdner Tagung zum Kapitalismus provozierte der Wirtschafts-Philosoph Birger Priddat einen Sturm der Entrüstung. Sein Vortrag zum Thema „Nachhaltigkeit“ stellte in Abrede, dass nachhaltiges Wirtschaften überhaupt möglich sei. Weil Entscheidungen für die Zukunft immer nur auf der Grundlage der Informationen von heute getroffen werden können. Weil morgen schon alles anders sein wird und kollektives Umdenken so gut wie unmöglich ist. Es hätte ein skeptizistisches Schlusswort werden können, ein fatalistisches Plädoyer dafür, sich mit den Zuständen abzufinden, weil man sie eh nicht ändern kann. Den Kapitalismus in seinem Lauf, so konnte man meinen, den halten weder Politiker noch Demonstranten auf.

Die Teilnehmer der Tagung ließen sich jedoch nicht auf wissenschaftlich hergeleitete Passivität vereidigen. Sie protestierten, begehrten auf, kündigten an, bewusst kaufen und konsumieren zu wollen. Unverschämterweise ließen sie sich nicht ausreden, nachhaltig leben zu wollen. Der Kapitalismus siegt und siegt. Die bedingungslose Kapitulation hat er noch nicht bewirkt.

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