Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
() Eine Fabrik in Sialkot.
Made in Sialkot

Mit vierzig Millionen Fußbällen fertigt eine pakistanische Industriestadt rund 80 Prozent der Weltproduktion. Nirgendwo entstehen Bälle billiger und in besserer Qualität. Inzwischen ist auch ihr letzter Makel getilgt: Die Kinderarbeit wurde erfolgreich abgeschafft.

In ihrem neuen Leben möchte sie Ärztin werden. In ihrem alten war sie Ballnäherin. Manchmal hilft sie noch ihrer Mutter. Allerdings erst nach den Hausaufgaben, denn die zehnjährige Aisha darf endlich in die Schule gehen. „Ich möchte später anderen helfen“, sagt sie und zieht ihre weiße, schon ein wenig löchrige Schuluniform glatt. „Als Ärztin würde ich mich vor allem um arme Menschen kümmern. Ich bin ja selber arm.“ Aisha lebt mit ihrer Familie in Nanowali, einem kleinen Dorf fünfzig Kilometer westlich von Sialkot. Ein paar Dutzend aus Naturstein gebaute Häuser, eine Moschee, drei Krämerläden. In den kopfsteingepflasterten Gassen trocknen zu Kugeln geformte Kuhfladen, Heizmaterial für kalte Nächte. In kleinen Gärten zwischen und vor den Häuschen wachsen Spinat und Karotten. „Wenn diese Schule nicht wäre, müsste ich immer noch Fußbälle nähen und könnte nicht mal einen Fahrplan lesen“, sagt Aisha auf dem Weg zur Schule, die am Dorfrand liegt. Das schmächtige Mädchen mit den großen Augen sitzt in der dritten Bank und hebt eifrig den Finger, wenn Lehrer Abdul Razzaq seine Fragen stellt. „Heute unterrichte ich siebzig Kinder in dieser Schule, vorher waren es zehn“, sagt der 25-Jährige. Nanowalis Bewohner haben beim Bau der Schule selbst mit angepackt. Jeder hat geholfen, erzählt der Lehrer. Einer hatte einen Freund in einer Ziegelei, der besorgte die Steine. Ein anderer spendete vier Säcke Zement, die eigentlich für sein Haus bestimmt waren. Das ließ den weißbärtigen Lal Din nicht ruhen, der selbst nie zur Schule gegangen war, es sich aber nicht nehmen ließ, die Mauer um das Gebäude zu ziehen. „Wenn die Kinder was lernen, haben wir alle was davon“, sagt der Alte, blickt auf die Uhr, entschuldigt sich und verschwindet hastig. Er muss in die Moschee, das Mittagsgebet ausrufen. Mit seinem Allahu-Akbar, das aus den Lautsprechern des Gotteshauses dröhnt, endet der Unterricht. Auf dem Weg nach Hause erzählt das Mädchen von ihrer Zeit als Näherin. Wie ihr die Kunststoff-Fäden tiefe Wunden in die Hände geschnitten haben und die Nadeln in die Finger stachen. Jeden Tag saß sie neun Stunden gebückt und verkrampft auf ihrem Hocker, mit verspanntem Rücken und schmerzenden Knien. Anfangs schaffte sie nur einen Ball am Tag, später zwei. Zwanzig Rupien erhielt sie dafür, vierzig Cent. Sialkot, im pakistanischen Punjab. Die staubige, quirlige Industriestadt an der indischen Grenze gilt als Hauptstadt der Fußballproduktion. Bis zu vierzig Millionen Bälle verlassen pro Jahr die Fabriken zu den Bolzplätzen der Welt. Achtzig Prozent der Weltproduktion. Etwa vierzigtausend Menschen, die vom Nationalspiel Kricket begeistert sind, aber vom Fußball leben, arbeiten in der Industrie für alle großen Markenhersteller: Adidas, Nike, Puma, Reebok, Select Sports, Mitre. Umsatz 2004: 9447000000 Rupien. 185 Millionen Dollar. Die handgenähten Bälle sind für ihre Qualität berühmt, und die Stadt ist für ihre niedrigen Löhne berüchtigt. Ideale Produktionsbedingungen für maximale Gewinne. Drei bis fünf Bälle schafft ein erwachsener Näher in neun bis zehn Stunden. Dafür erhält er umgerechnet vierzig bis sechzig Cent. Sportartikelfirmen kaufen die fertigen Bälle für zwei bis zwölf Euro von den Herstellern in Sialkot – je nach Qualität. Am billigsten sind minderwertige Werbebälle, die nach Fifa-Maßstäben produzierten am teuersten. Später gehen sie für bis zu hundertsechzig Dollar über die Ladentheke. Nur in China arbeitet man noch billiger, aber lange nicht so gut. Die Produktion von Sportartikeln hat Tradition in Sialkot. Ende des 19.Jahrhunderts stationierte die Kolonialmacht England einen ihrer größten Truppenverbände in der Stadt. Die Bevölkerung reparierte bald Sportartikel aller Art für die Soldaten und stellte sie schließlich selbst her – Kricket-, Hockey- oder Poloschläger und Fußbälle. In den siebziger Jahren sicherten sich Firmen aus Sialkot die Rechte für die Produktion des Tango, mit dem die Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien ausgetragen wurde. Die Wirtschaft boomte und mit ihr die Kinderarbeit. 1996 beginnt das Wunder von Sialkot: Die elenden Arbeitsbedingungen werden öffentlich kritisiert, die Kinderarbeiter aus den Fabriken verbannt. Zu dieser Zeit arbeiteten laut einer Studie der Vereinten Nationen mehr als siebentausend Kinder unter vierzehn Jahren in der Sialkotschen Kickerindustrie. Im Februar 1997 zogen die Handelskammer von Sialkot, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) die rote Karte. Sie beschlossen, dass kein Kind unter vierzehn Jahren mehr in den Fußballfabriken arbeiten darf. Der Mann, der den Kampf gegen die Kinderarbeit in Sialkot bis heute anführt, sitzt in seinem Büro, das in einer Straße mit dem passenden Namen Defence Road liegt. Nasir Dogar ist stolz auf die Leistung, die er und sein Team vollbracht haben. „In der Fußballindustrie gibt es keine Kinderarbeit mehr“, sagt der Chef der Unabhängigen Überwachungsorganisation gegen Kinderarbeit (IMAC) in Sialkot. „In den letzten drei Jahren fanden wir nicht ein arbeitendes Kind in den Nähzentren oder Fabriken“, erzählt der Mann, der mit seinem silbernen Haar und dem dicken Schnauzbart an Albert Einstein erinnert. „Dies ist das einzige erfolgreiche Projekt gegen Kinderarbeit, weltweit“, sagt Nasir Dogar und genießt die schönen Worte. „Warum? Weil alle zusammenarbeiten: Regierung, Hersteller, Fabrikbesitzer, Subunternehmer, Gemeinden. Die Eltern, die Schulen, einfach alle.“ Keiner, betont er, will, dass sein Kind arbeitet. „Eigentlich war es ganz einfach. Wir mussten nur das Denken der Menschen verändern, langfristige Lösungen finden und Überzeugungsarbeit bei den Eltern leisten, damit auch sie Verantwortung übernehmen“, sagt Dogar. Seine Arbeit begann Dogar damit, dass er im Auftrag der ILO die Stadt nach Betrieben durchkämmte, in denen Kinder unter 14 Jahren arbeiteten. „Das musste schnell gehen“, erklärt er. „Denn innerhalb von nur achtzehn Monaten wollten wir Sialkot von der Bestie Kinderarbeit befreit haben.“ Die Organisation finanzierte Schulprogramme für Kinderarbeiter aus der Fußballproduktion. 255 solcher Schulen entstanden binnen kürzester Zeit, in denen man auch Kindern jenseits des Grundschulalters Lesen und Schreiben beibringt. Ein Privileg in einem Land, in dem die Analphabetenrate bei 60 Prozent liegt. In Workshops und Ausbildungen schulten sie um zu Schneiderinnen, Schlossern oder Schreinern. Nasir Dogar kramt eine Statistik aus der Schublade heraus: Über zehntausend ehemalige Ballkinder haben danach inzwischen die Grundschule beendet. Die Hälfte von ihnen setzte die Schulausbildung fort. „Langfristige Lösungen“, wiederholt Dogar zufrieden und schiebt sich eine Strähne aus dem Gesicht. Doch Überzeugung und Bildung schützen nicht vor Hunger. „Bloß Kinderarbeit zu verdammen, hilft nicht. Die Familien waren doch auf das Einkommen der Kinder angewiesen“, sagt Nasir Dogar. Deshalb gewährte die ILO den Eltern Kleinkredite, damit sie ihr eigenes Geschäft gründen konnten. Dogar blättert eine Akte durch und bilanziert die Maßnahme: Danach erhielten 2100 Familien umgerechnet jeweils 150 Euro für einen neuen Anfang. „Es entstanden kleine Frisörsalons oder Teehäuser. Wasserpumpen sorgen seitdem für frisches Trinkwasser, viele Häuser bekamen neue Dächer.“ Nur wenn die Angehörigen profitieren, so die Idee, gelingt das Vorhaben zu verhindern, dass Kinder von einer Industrie in eine andere wechseln. Um die Einkommenslücken der Familien zu schließen, die tausende von Kinderarbeitern hinterlassen haben, verlagerte die ILO viele Nähzentren von den Fabriken in die Dörfer: Auf diese Weise wurde erwachsenen Frauen die Arbeitsaufnahme ermöglicht, sie können jetzt statt ihrer Kinder die Familie unterstützen. Denn in der strikten Männergesellschaft der pakistanischen Provinz ist es bis heute undenkbar, dass eine Frau ihr Dorf verlässt, um zu arbeiten. „Die Rechnung ist einfach“, sagt Dogar: „Mütter arbeiten, während ihre Kinder zur Schule gehen. Wenn sie die Schule beendet haben, finden sie bessere Jobs und können den Lebensstandard der Familie verbessern. Das versteht jeder.“ Dogar spielt gerne mit Zahlen. Sie sprechen für sich: 125 Hersteller kooperieren inzwischen mit seiner Organisation. 2200 Nähzentren werden regelmäßig überprüft, rund 90000 Kontrollbesuche waren es in den vergangenen drei Jahren. „Fünfundneunzig Prozent aller Fußballproduzenten kooperieren mit uns“, berichtet er. „Dafür erhalten sie ein Zertifikat, dass keine Kinder in ihren Betrieben arbeiten. Der Rest hat kein Interesse, weil sie schlechte Qualität herstellen. Das heißt aber nicht, dass dort Kinder arbeiten. Wir überwachen alle.“ Dann wird er nachdenklich. „Wir sind hier stolz auf unsere Fußbälle. Es sind die besten der Welt. Wir müssen aufpassen, dass das Fußballhandwerk nicht ausstirbt, weil es Jugendliche nicht mehr erlernen wollen.“ In der IMAC-Zentrale sitzt Sayed Abbas, 29, vor einem Computer, druckt Einsatzpläne aus und zupft gedankenverloren an seinem buschigen Schnurrbart. Hinter ihm stapeln sich Aktenordner. „Kausar, Asma, Asfa! Ihr fahrt heute in den Distrikt Narowal. Viel Spaß, es wird ein langer Tag“, ruft er grinsend drei Frauen zu. Sie gehören zu fünf Kontrollteams, die täglich einige der bei IMAC registrierten Nähereibetriebe überwachen. Der Geländewagen kriecht durch das Verkehrschaos aus Sialkot heraus; in den Straßen mischen sich Menschen, voll besetzte Minibusse, Eselskarren und Motorrikschas. An der Stadtgrenze hören die geteerten Straßen auf und die Provinz beginnt. Kausar Perveen, 32, bindet ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz und rückt ihr Kopftuch zurecht. Sie ist Einsatzleiterin eines Beobachtungsteams von IMAC. „Lassen Sie Ihre Vorurteile zurück“, sagt die in England studierte Frau mit feinstem Oxford-Akzent. „Sie werden keine arbeitenden Kinder sehen. Das ist Vergangenheit. Wir geben Kinderarbeit keine Chance, weil wir jedes Nähzentrum alle sechs Wochen besuchen.“ Nach zwei Stunden hält der Wagen in Pakhokay, einem stinkenden Kaff mit engen Gassen. Auf einem Abfallhaufen veranstalten grölende Knaben ein Kricketmatch. Zwei Mädchen fangen einen störrischen Esel. Perveen klopft an eine Tür, wird eingelassen und in den Innenhof geführt, wo elf Frauen in bunten Kleidern sitzen. Zwischen ihren Knien klemmen halbfertige Fußbälle. Vor ihnen liegen Kunststoffecken, mit einer eingebrannten Registrierungsnummer des Auftraggebers. „Durch die Nummern können wir kontrollieren, welche Firma hier nähen lässt. Das ist ein weiterer Kontrollmechanismus“, erklärt Perveen. Die jungen Frauen lachen und reden; tauschen Tratsch aus. Wer ist schwanger, wer wird verheiratet; haben die Eltern eine Vogelscheuche oder einen Adonis zum Gemahl erkoren. Währenddessen pieken hennabemalte Hände Nadeln durch Kunststoff. An beiden Mittelfingern tragen die Frauen dicke Plastikringe, damit die eingewachsten Schnüre nicht ins Fleisch schneiden. Perveen geht ihre Checkliste durch: Arbeitsbedingungen – okay. Es gibt eine Toilette – okay. Lichtbedingungen – okay. Die Arbeiterinnen sitzen im Freien, auf einer Bastmatte oder auf kleinen Hockern – okay. Kleines Extra des Subunternehmers: eine Stereoanlage, aus der leise pakistanische Popmusik ertönt. Die Näherinnen stechen und ziehen im Takt des Beats. „Die Arbeit ist nicht schlecht“, sagt Shubana Mehrem, 16. Ihre Schwester Bushra, 24, sitzt ihr gegenüber und kichert. „Wie könnte sie schlecht sein. Sie hält uns am Leben.“ Ein silbernes Handy liegt zwischen den beiden Schwestern. Sie nähen gerade an ihrem zweiten Ball. Sechsunddreißig Rupien erhalten sie für jede Kugel. „Das meiste Geld geben wir unserer Mutter. Ein bisschen behalten wir für uns“, sagt Bushra. Um ab und zu mal eine Musikkassette mit ihren Lieblingshits oder ein Kleidungsstück zu kaufen. Oder das Handy, das sich beide teilen. Shubana war elf, als sie begann, Fußbälle zu nähen. Ihre Mutter hielt die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, während der heroinabhängige Vater sich die wenigen Rupien, die eigentlich für Schuluniform und Bücher vorgesehen waren, in die Venen schoss. Shubana, Bushra und ihr Bruder nähten Bälle, um zu überleben. Der Vater starb vor einigen Jahren. Traurig sind die Mädchen darüber nicht. „Seitdem haben wir mehr Geld. Es geht uns gut“, sagt Shubana. Gut genug, um den zehnjährigen Bruder zur Schule zu schicken. Der Einzige in der Familie, der Lesen und Schreiben gelernt hat. Weder Shubana noch Bushra können eine Zeitung lesen oder einen Arbeitsvertrag unterschreiben. „Er soll mal Lehrer werden, dann verdient er gut und kann uns unterstützen“, sagt Bushra, Shubana nickt. Bildung sehen sie als Investition. Am Ende kontrolliert Perveen, ob die Menge des Materials mit der Zahl an Bällen übereinstimmt. „Sind weniger Bälle vorhanden, könnte dies auf Heimarbeit deuten, somit auch auf Kinderarbeit. Die Leute wissen, dass sie kontrolliert werden. Nur wann, das ahnen sie nicht“, erklärt sie und geht auf eine Bretterbude zu. Dreihundert Plastiktüten mit Lederwaben lieferte der Subunternehmer heute Morgen. Material für dreihundert Bälle liegt im Schuppen. Hier ist alles okay. Perveen lächelt zufrieden. In ein paar Tagen wird ein Eselskarren das Nähzentrum verlassen, beladen mit einem zahnlosen Alten und dreihundert fertigen Bällen. „Die Situation hat sich in den letzten Jahren tatsächlich signifikant geändert“, sagt Anita Khawaja. Die 64-jährige Deutsche lebt seit dreißig Jahren in Pakistan. Ihr verstorbener Mann hat die Firma Anwar Khawaja Industries (AKI) gegründet, einer der größeren Fußballhersteller in Sialkot. Anita Khawaja leitet das Sialkot Anwar Khawaja Health and Education Project (SAHEP). Die Organisation setzt sich gegen Kinderarbeit und für die Verbesserung der „wirtschaftlichen und humanitären“ Situation der Arbeiter ein. Alle ihre Subunternehmen mussten sich verpflichten, keine Kinder unter 14 Jahren zu beschäftigen, und keine Materialien an Eltern zu geben, die ihre Kinder zu Hause arbeiten lassen könnten. „Die Kinder unserer Näher gehen alle zur Schule. Dafür sorgen wir“, sagt die resolute Dame mit einem strengen Blick über ihre dicken Brillengläser. Jede Familie erhält umgerechnet fünfundzwanzig Euro für Schuluniformen, Schuhe und Bücher. 1140 Näher arbeiten für die Firma ihres verstorbenen Mannes. Alle Arbeiter und deren Familien erhalten medizinische Betreuung. „Wird jemand in der Familie krank, übernimmt SAHEP die Kosten. So verhindern wir, dass Kinder die Arbeit der Eltern übernehmen.“ Kinderarbeit bleibt dennoch ein Problem, allerdings nicht mehr eines der Fußballfabrikation. „Manche Kinder wurden einfach in andere Industriezweige gesteckt“, sagt Khawaja. Zum Beispiel in Fabriken, die chirurgische Instrumente herstellen. Das ist neben den Fußbällen der zweite große Industriezweig in Sialkot. Fußbälle werden in allen Fabriken auf die gleiche Art gefertigt. Zwei Männer verkleben Polyurethan- oder PVC-Matten und Baumwolltücher mit Latex. Diese gehen in eine Heizkammer, wo sie bei siebzig Grad zwölf Stunden trocknen. Aus den Matten stanzen Maschinen Waben; für jeden Ball 32 Stück. Zwanzig Hexagramme und zwölf Pentagramme mit einer Seitenlänge von fünf Zentimetern. Anschließend werden die Waben bedruckt – Logos, Zahlen, Farbe oder das Porträt von David Beckham. Der Subunternehmer fährt die Teile in die Nähzentren, wo sie per Hand zusammengenäht werden. Aufgepumpt landet der Ball wieder in der Fabrik. Qualitätskontrolle, Export, Tor. Die Welt von Quasim besteht aus acht Quadratmetern und einer pedalbetriebenen Presse. Drückt der Fuß nach unten, knallt es, als wenn ein Fußball platzt. Alle zwei Sekunden knallt es und ein sechseckiges Stück Kunststoff segelt zu Boden. Hunderte davon liegen dort. Gegen den Lärm hat sich Quasim Stofffetzen in die Ohren gestöpselt. In einem Nebenraum sitzen je vier Männer und Frauen zwischen zwei Bergen aus Fußbällen. Einem Haufen mit aufgepumpten, einem mit platten Kugeln. Fahles Neonlicht scheint in graue Gesichter. Es riecht nach Benzin und Kunststoff. Die Frauen stecken ein Ventil in jeden Ball, säubern ihn mit Benzin, dann reichen sie das Leder an die Männer weiter. Draufknien, Luft rauslassen, Ventil abnehmen, Ball nach hinten werfen. Automatisierte Bewegungen. Auf den Bällen prangt in roten Lettern: Gerolsteiner, natürliches Mineralwasser. „Platt sind sie leichter zu verschiffen. Mehr Platz, mehr Bälle, mehr Geld“, sagt der 40-jährige Khalid N., Besitzer einer kleinen Fabrik am Stadtrand. Er hält einen blauen Ball vor seinen dicken Bauch, darauf steht: 1860 München. Etwas kleiner, darunter: Made in Pakistan, kinderarbeitfrei. 250000 Fußbälle stellt sein Betrieb her. Fünfundsechzig Angestellte erledigen das. „Von neun bis fünf wird bei uns gearbeitet“, sagt Khalid und merkt nicht, dass die Uhr schon auf halb sieben zeigt, draußen geht bereits die Sonne unter. Was die Arbeiter verdienen? Der Manager räuspert sich und blickt auf seine Arbeiter. „Nicht hier“, flüstert er, geht in sein Büro und schließt die Tür. „Dreitausend Rupien“, sagt er, nach langer Überlegung. Fünfundfünfzig Euro im Monat. Khalids Gesicht läuft rot an, als wenn er bei einer Lüge ertappt worden wäre. Einen Stock höher sitzt ein junger Mann mit glasigen Augen in einem fensterlosen Raum und bedruckt orangefarbene Waben mit einem Schriftzug: Jägermeister. Offene Lackdosen auf den Tischen dünsten sich aus. Terpentin- und Ammoniakdämpfe beißen in die Augen. „Am Anfang stört der Geruch. Nach einiger Zeit gewöhnen sich die Arbeiter daran“, sagt der Chef; der Mann mit den glasigen Augen schweigt. Auf einer Terrasse, so groß wie ein Strafraum, hocken dreizehn Männer im diffusen Licht von Neonröhren und nähen Waben zusammen. „Die Bestellungen haben um fünfundzwanzig Prozent zugenommen“, sagt Khalid stolz. Dank der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Die Löhne blieben niedrig. Ein Junge zeigt dem Chef einen fertigen Ball, der ihn prüfend anblickt und fallen lässt. Jägermeister kullert über den Boden. „Machen Sie sich keine Sorgen. Der Junge ist siebzehn, er schaut nur jünger aus“, beruhigt Khalid lachend. Als beispielhaft gelten die Arbeitsbedingungen bei Anwar Khawaja Industries (AKI), die exklusiv für den dänischen Sportartikelhersteller Select Sports produzieren: bezaubernde Rezeptionsdame, moderne Produktionshallen, ausreichende Belüftung, bessere Bezahlung, zweimal Teepause am Tag – sehr gute Bedingungen für pakistanische Verhältnisse. 1,3 Millionen Bälle. Vierhundert Arbeiter. Mit AKI-Bällen zauberte Juventus Turin sich in der Saison 96/97 zum italienischen Meister, zum Sieger der UEFA-Championsleague und Gewinner des Weltpokals. Zurück in Nanowali. Aisha rennt nach Hause. Ihre Mutter sitzt im Innenhof auf dem Boden und näht mit den anderen beiden Töchtern Fußbälle. Der Vater lehnt an der Mauer und raucht, ihm steht die lange Arbeitslosigkeit in die Stirnfalten geschrieben und der Mutter die Sorgen in die Wangenfurchen. Aisha umarmt die Frau und beginnt den Hof zu fegen. Mit dem Auskommen des Vaters, der wieder als Bauarbeiter schafft, verfügt die Familie über sechstausend Rupien im Monat. Hundert Euro. „Uns geht es heute gut“, sagt Vater Azif, 40, „es reicht zum Leben und um unsere Tochter zur Schule gehen zu lassen.“ Aisha springt im Hof herum und erzählt ihrer Mutter, was sie in der Schule gelernt hat. „Mir geht’s gut, wie geht’s dir“, sagt sie auf Englisch und strahlt über das ganze Gesicht. „Unsere Jüngste ist die Erste in der Familie, die lesen und schreiben kann“, sagt der Vater. „Bis sie verheiratet ist, darf sie weiter lernen.“ Carsten Stormer ist Journalist und Fotograf und Stipendiat an der Reportageschule Günter Dahl. Seine Schwerpunkte sind die Krisen- und Kriegsberichterstattung

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.