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() Die Zukunftsforschung muss oft im Nebel stochern.
Freakshow Zukunftsforschung

„Die Zukunftsforschung wird immer noch als Freakshow gesehen.“ Nils Müller, selbst Zukunftsforscher und Gründer des Trendforschungsinstituts TrendONE, bringt den zwiespältigen Ruf der Branche auf den Punkt. Denn so mancher Zeitgenosse in der schnöden Gegenwart reibt sich ob der teilweise skurril anmutenden Prophezeiungen halb irritiert und halb belustigt die Augen.

Mit Anglizismen schmeißen die Futurologen allzu gerne um sich. So wird sich laut Müller das Internet zum Outernet wandeln, bevor es zum Brain Net wird. Das Outernet wird gekennzeichnet sein von augmented reality, web of things, ambient intelligence und hyperlocality. Was bedeuten nun all diese schillernden Begriffe, die im Zukunftslexikon „Trend Book 2012“ aufgeführt sind, und wie sieht die schöne neue Welt aus, wenn man den Zukunftsexperten Glauben schenken darf? Mit dem „Outernet bahnt sich eine technologische Entwicklung an, die unser Verhältnis zueinander und zu den Objekten der Welt tiefgreifend verändern wird. Das Internet verlässt den bislang abgetrennten Bereich des Cyberspace und legt sich wie eine zusätzlich Schicht über unsere Umwelt“, schreibt der Trendforscher und Innovationsberater Max Celko. „Je nachdem, welche Interessen und Bedürfnisse wir haben, werden andere Informationen in der Umwelt sichtbar. Es entsteht eine neue Dimension der Wahrnehmung, in der sich Virtualität und Realität vermischen.“ Mittels mobiler Datenübertragungsarten wie HSDPA, WiMAX und WiBro sind wir künftig „always on“ und „always connected“. Das gilt für viele Handy- und Smartphone-Freaks schon heute und so stellt sich die Frage, ob sich der ubiquitären und permanenten Vernetzung künftig überhaupt noch jemand entziehen kann. Schwieriger dürfte es auf alle Fälle werden, denn der berufliche und private Druck, dabei mitzumachen, wird wachsen. Das Szenario der Futurologen sieht folgendermaßen aus. Technisch bauen viele Outernet-Anwendungen auf Lokalisierungsdiensten für Menschen und Gegenstände wie GPS und Galileo auf. Das Web of Things, sprich Internet der Dinge, vernetzt die Objekte und macht sie im Internet zu Informationsträgern. Sie funktionieren dann wie Webseiten und können wie Links angeklickt werden. Mit der Handy-Kamera fotografiert man künftig die Gegenstände, es erfolgt ein Abgleich mit einer Bilddatenbank und passende Links öffnen sich. Für einen technischen Push dürften RFID-Etiketten, die Funktechnik NFC für den Datenaustausch über wenige Zentimeter und der vermehrte Einsatz von Sensoren sorgen. Dank des „Smart Webs“ lässt sich diese Informationsflut intelligent beherrschen. Es versetzt Computer in die Lage, die Bedeutung von Informationen zu verstehen. Auf dieser Fähigkeit fußen sogenannte semantische Suchmaschinen, die auf eingegebene Suchfragen die passende Antwort liefern. Eine weitere Triebkraft für das Outernet sind intuitiv bedienbare und immer kleiner werdende mobile Geräte. Die Trendgurus sprechen davon, dass High Tech zu „Shy Tech“ wird. Damit zieht die IT-Branche ihre Lehren aus so mancher Bauchlandung am Markt mit hochgezüchteten Geräten. Nur wenn sich Technologien gegenüber dem Nutzer „schüchtern“ verhalten, werden sie von ihm akzeptiert. Durch die Miniaturisierung werden Computer und Sensoren unsichtbar und integrieren sich in Alltagsgegenstände. Für die Zukunftsprofis rückt daher „wearable computing“ immer näher, das heißt Input und Output funktioniert dann nach ihrer Einschätzung via smarter Brillen, Netzhaut-Implantaten und der Steuerung über Gehirnströme. An Letzterer wird bereits gearbeitet, um zum Beispiel Behinderten ihren Alltag zu erleichtern. Direkt beruhigend bei all der dynamischen Technikentwicklung ist die Tatsache, dass die „Komponente Mensch“ bei künftigen Anwendungen sogar wichtiger wird. Geräte werden sich simpel per Gestik bedienen lassen: „Infos und Bilder kann man sich auf dem Badezimmerspiegel während des Zähneputzens anzeigen lassen und mit Handbewegungen steuern“, sagt der Innovationsberater Nick Sohnemann von TrendONE. „Emotionalität und Spiritualität werden wichtiger“, prophezeit Celko und nennt als Beispiel Spiele, in die ein „Gefühlsfeedback“ eingebaut wird. „Technische Innovation muss von kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Innovationen begleitet werden, sonst fahren wir an die Wand“, ist seine Überzeugung. Ein smarter Mix der unterschiedlichen Anwendungen macht neue Dienste möglich wie zum Beispiel ein Profile-Matching-Service, der die Lokalisierung nutzt und zum spontanen Speeddating in der Umgebung einlädt. Wem diese ganze schöne neue Welt völlig überdreht erscheint und wer die Prognosen der Zukunftsforscher für reichlich unrealistisch hält – schließlich haben sich etliche steile Thesen, welche die Zunft vor Jahrzehnten aufgestellt hat, nicht bewahrheitet -, der sei gewissermaßen gewarnt. Schon heute gibt es reichlich skurril erscheinende Anwendungen, die man eher in die Zukunft datieren würde, die aber zeigen, wohin die Reise gehen könnte. So kann man dank der Applikation Layar von SPRX mobile mit der Handy-Kamera die Umgebung in Straßen filmen und erhält die zum Verkauf stehenden Häuser samt Kaufpreis angezeigt. Der brasilianische Musikvermarkter Gomus entwickelt für Boutiquen RFID-Etiketten, die in Umkleidekabinen Musik spielen, die zur Kleidung passt – Disco für Tanzklamotten beispielsweise. Buchstäblich bodenständiger gibt sich dagegen der norwegische Molkereiwarenhersteller Tine. Er hat eine Kuhweide quasi virtuell in 25 Felder parzelliert und jedem Feld eine Geschmacksrichtung für ein Milchprodukt zugeordnet. Das Feld, auf dem die Kühe besonders gerne grasen, bestimmt künftig den Milchgeschmack. Selbstverständlich werden die spannenden Kuhbewegungen von Kameras gefilmt und an die Twittergemeinde übermittelt. Ebenfalls tierisch ist eine Kampagne des WWF gegen die Ausrottung der sibirischen Tiger. Dabei kann man T-Shirts mit einem Marker kaufen. Via Webcam registriert die Website den Marker und spielt ein Video ab, auf dem man sieht, wie es ist, wenn man gejagt und erschossen wird – blutige Einschusslöcher auf dem T-Shirt des WWF-Unterstützers inklusive. So gesehen, ist auch die Gegenwart eine Freakshow. Dennoch wollen die Zukunftsforscher ihren freakigen Ruf verbessern und auf eine seriösere Grundlage stellen. Schließlich gilt es, als Kundschaft auch bodenständige mittelständische Unternehmer von ihren Thesen und Empfehlungen zu überzeugen. Zu diesem Zweck haben sich Ende November in Berlin acht Trendforschungsunternehmen zur „Innovation Alliance“ zusammengeschlossen. Vernetzung ist eben auch in der Vermarktung der Zukunft das A und O. Trend Book 2012. Das Zukunftslexikon der wichtigsten Trendbegriffe. TrendONE GmbH , Hamburg – Berlin. 180 Seiten. 98 EUR. Zum Interview mit den Zukunftsforschern

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