- „Die Politik wirft alles in einen Topf“
Seitdem Standard & Poor's die Bonität Frankreichs und des EFSF herabgestuft hat, wird wieder einmal über die Notwendigkeit einer europäischen Gegenmacht gestritten. Was dagegen spricht, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Jan-Pieter Krahnen
Die US-Rating-Agentur Standard & Poor's hat die
Bonität Frankreichs, acht weiterer Euro-Staaten und die des
europäischen Rettungsschirm EFSF gesenkt. Und wieder einmal
ruft die Politik nach einer europaeigenen Ratingagentur. Warum gibt
es die denn bisher noch nicht?
Die Frage ist gut, weil sie schon alle Zweifel zu dem Thema
enthält. Wenn es tatsächlich so einfach wäre, gäbe es schon längst
eine europäische Ratingagentur. Der wichtigste Grund aber ist, dass
nicht einfach zu erkennen ist, worin eine Notwendigkeit besteht.
Die gäbe es nur, wenn bei den vorhandenen Agenturen einen
Nachholbedarf in Sachen Wettbewerb, Qualität oder Glaubwürdigkeit
vorliegt, der durch eine zusätzliche Agentur aus Europa befriedigt
werden könnte. Ob dies so ist, müssen wir prüfen.[gallery:CICERO
ONLINE präsentiert: Die Kandidaten für die Euro-Nachfolge]
Was spricht gegen eine europäische
Ratingagentur?
Der Aufbau einer solchen neuen Agentur ist eine sehr teure
Angelegenheit. Der Wert, den sie für Investoren hat, basiert allein
auf Reputation. Und die lässt sich nicht mit einer großen Summe
Geldes kaufen, sondern kann ausschließlich über lange Zeit und gute
Arbeit aufgebaut werden. Das dauert viele Jahre, in denen die
Agentur mit voller Kraft und vollem Kosteneinsatz tätig sein muss
ohne nennenswerte Erlöse zu generieren.
Wie lange bestehen Ratingagenturen wie Standard &
Poor's oder Moody’s schon?
Die sind über Jahrzehnte im Anleihe-Markt groß geworden. Beide
Firmen sind absolut dominierend im Markt von Unternehmensanleihen
und Staatsanleihen. Erst vor wenigen Jahren kam der Bereich der
strukturierten Produkte neu hinzu, die sogenannten Asset-backed
Securities, die aus Portfolios generiert werden. Diese Anlageklasse
hat während der Finanzkrise traurige Berühmtheit bei der Entstehung
der Krise erlangt, und die Ratingagenturen haben zum Aufbau dieses
Marktes erheblich beigetragen. Und es scheint, dass sie schlechte
Arbeit geliefert haben. Im wesentlich größeren und Jahrzehnte alten
Anleihe-Bereich dagegen haben sie bis auf den heutigen Tag
unverändert exzellente Arbeit geleistet.
Macht die Politik in dieser Frage einen Unterschied,
wenn sie nun immer wieder die Debatte um eine europäische
Ratingagentur in den Raum wirft?
Nein, die öffentliche Diskussion, gerade in der europäischen
Politik wirft diese unterschiedlichen Märkte leider in einen Topf.
Es wird überhaupt nicht differenziert. Den Ratingagenturen werden
deshalb bei den Staats-und Bankanleihen zu Unrecht massive Vorwürfe
gemacht.
Nächste Seite: Wo ist Kritik an den Ratingagenturen berechtigt?
Sie sehen keine Fehler der Ratingagenturen, etwa bei den
aktuellen Bewertungen Frankreichs und des EFSF?
Ich glaube, bei den Bewertungen des strukturierten Marktes ist
Kritik berechtigt. Hier könnte man sich auch interessante
Konkurrenzveranstaltungen – sprich konkurrierende Ratingagenturen –
vorstellen. Auf dem "normalen" Anleihe-Markt scheint mir das
viel schwieriger zu sein. Soweit ich das beobachten kann, sehen das
so gut wie alle meine Kollegen aus der Wissenschaft wie ich: Die
Kritik an den amerikanischen Ratingagenturen ist im Hinblick auf
den Anleihemarkt unbegründet. Dass manche Politiker nicht froh sind
über einzelne Ratingentscheidungen, ist eine Sache. Dass aber die
Agenturen krisenverursachend auf Anleihemärkten tätig sind,
erscheint abwegig. Im Gegenteil: Sie dokumentieren Entwicklungen
und gelten als glaubwürdige Informanten, stabilisieren den Markt
als Ganzen. Die meisten übrigen Informanten sind in puncto
Information in irgend einer Form in Interessenkonflikte
verstrickt.[gallery:CICERO ONLINE präsentiert: Die Kandidaten für
die Euro-Nachfolge]
An wen denken Sie?
Egal, ob das nun Zentralbanken, Banken, Versicherungen oder
Finanzminister sind. Sie sind Teil eines Spiels, in dem sie nicht
mehr unabhängig die tatsächlichen Risiken benennen können. Es
verbleiben die Ratingagenturen.
Das klingt nach verdrehter Welt. Wenn man Politikern wie
dem deutschen EU-Abgeordneten Elmar Brok zuhört, der von einen
„gezielten Angriff auf Europa" spricht…
Deswegen ist es auch so wichtig, die Sachage richtig zu stellen:
Die Ratingagenturen sind ein furchtbar lästiger
Informationslieferant. Da schwitzen die Politiker über einem
komplizierten Konzept und sind froh, wenn sie über der europäischen
Bürokratie ein Verfahren gefunden haben, wie sie in der Krise ein
bisschen Handlungsspielraum gewinnen können - und dann tritt
plötzlich der Narr auf und nennt die Dinge beim Namen. Dafür wird
er natürlich nicht geliebt - und nicht belohnt.
Die Tatsache, dass Standard & Poor's die einzigen
waren, die Frankreich und den EFSF herunter gestuft haben, hat
nichts zu sagen?
Es gibt unterschiedliche Zeitpläne, in denen die Agenturen ihre
Bewertungen durchführen. Der Ratingprozess dauert in der Regel
recht lange. Deswegen ist die allgemeine Kritik an Ratingagenturen,
dass sie zu spät reagieren und nicht zu früh. Ihre ganze Methodik
impliziert ein spätes Reagieren. Das kann heißen, dass der eine im
Januar und der andere im März seine Ergebnisse verkündet. Die
Arbeitsprozesse, die zu so einer Einschätzung führen, beinhalten
wochen- und monatelange Diskussionen, Auswertungen und
Interviews.
Der deutsche Risiko-Experte Markus Krall arbeitet
derzeit mit Hochdruck an der Gründung einer europäischen
Ratingagentur. Sein Motto: Transparenz, zum Beispiel über die
Lebensläufe der Experten und ein unabhängiger wissenschaftlicher
Beirat, der all das überprüfen soll.
Ich kenne die Idee und empfinde es als einen wichtigen und mutigen
Beitrag, eine Ratingagentur aufzubauen, die nach anderen Prinzipien
funktionieren soll, deren Analyse sich im Wesentlichen auf
vorhandene Daten stützt und diese statistisch anspruchsvoll
auswertet. Ich glaube, das ist ein denkbarer Ansatz. Es wird in
jedem Fall nicht leicht sein, ein neues Verfahren durchzusetzen,
das von dem abweicht, welches die Agenturen jetzt nutzen.
Interessant wird sicherlich, wie eine Finanzierung gelingen kann.
Mit Ausnahme vielleicht eines Anschubs kann es nicht dauerhaft die
Aufgabe der öffentlichen Hand sein, hier tätig zu werden.
Das Interview führte Marie Amrhein
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