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Die Erfinder des Jahres: Flüssigholz statt Erdöl - Die Erfinder des Jahres: Flüssigholz statt Erdöl

Blockflöten, Absätze für Highheels, Lautsprecher – Arboform, der Biokunststoff aus Flüssigholz ist vielseitig einsetzbar. Dafür zeichnete das Europäische Patentamt Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele als „Erfinder des Jahres 2010“ aus. Ein Doppelporträt.

Evelyn Runge

Autoreninfo

Evelyn Runge, Dr. phil., forscht an der Hebrew University of Jerusalem, Israel, zu den Produktionsbedingungen des digitalen Fotojournalismus. Als Journalistin veröffentlicht sie u.a. in Frankfurter Allgemeine SonntagszeitungDie Zeit/Zeit OnlineSüddeutsche ZeitungDer Spiegel/Spiegel Online. 

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Die Luft in der Werkhalle der Tecnaro GmbH ist staubig. An der großen Maschine werden Säcke mit Granulat befüllt, cremeweiß, sandfarben, beige. Arboform oder Flüssigholz heißt der Biokunststoff, der hier in Ilsfeld-Auenstein in der Nähe von Stuttgart entsteht. Die beiden Geschäftsführer Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele stehen in der Halle und lassen das Granulat prüfend durch die Hände rieseln. Der Name ihres 1998 gegründeten Unternehmens steht für Technologie nachwachsender Rohstoffe. Das Thema beschäftigt die beiden Ingenieure schon länger. 1996, angetrieben von der Frage „Was könnte unser Beitrag zur CO2-Einsparung sein?“, begannen Pfitzer und Nägele, damals noch am Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT), nachwachsende Rohstoffe zu suchen, um die synthetischen, aus Erdöl produzierten Kunststoffe zu ersetzen. Fündig wurden sie bei einem Abfallprodukt der Papierindustrie, dem Lignin. 14 Jahre später zeichnete sie das Europäische Patentamt für ihr Flüssigholz als „Erfinder des Jahres 2010“ aus. „Mit Lignin kann man alles machen, was auch mit aus Erdöl produzierten Kunststoffen möglich ist“, erklärt Jürgen Pfitzer. In Verbindung mit Naturfasern wie Harz und Flachs kann es beliebig geformt und in Spritzgussmaschinen verwendet werden. Der große Vorteil des Flüssigholzes ist, dass es vollständig kompostierbar ist. Hinzu kommt, dass Lignin beinahe grenzenlos zur Verfügung steht. Es kommt in jeder Pflanze vor und ist neben der Zellulose der häufigste organische Stoff der Erde. Allein bei der Papierherstellung bleiben jährlich weltweit 60 Millionen Tonnen übrig. An Lignin wird bereits seit über hundert Jahren geforscht. Umso überraschter waren Pfitzer und Nägele, dass niemand vor ihnen das thermoplastische Potenzial des Werkstoffs erkannt hatte. Nachdem sie ihre Tests abgeschlossen hatten, schrieben sie ihre Erkenntnisse nieder, gemütlich bei Grillfleisch und Bier. Am nächsten Tag meldeten sie 15 Patente an. Doch so einfach sollte es für die beiden Jungunternehmer nicht weitergehen. In den ersten sechs Monaten nach der Gründung machte Tecnaro nicht einen Euro Umsatz. Das Unternehmen war 1998 eines der ersten Spin-offs, das aus dem ICT ausgegründet wurde. Rückblickend sagen Nägele und Pfitzer über ihre Firmengründung: „So etwas kann man nur machen, wenn man nicht weiß, was vor einem liegt.“ Sie mussten viele Widerstände überwinden. Um die Kompostierbarkeit belegen zu können, wurde ihr Flüssigholz vier Jahre in einem Labor in Spezialerde vergraben. Umweltschützer warfen ihnen vor, dass für die Ligningewinnung Bäume gefällt werden müssten. Pfitzer und Nägele regt dieses „falsche und vorschnelle Urteil“ immer noch auf: Die Ligninquellen seien zahlreich und vielfältig, Rinde, Getreidestroh, Sägemehl. Eine Karriere als Unternehmer hatten ursprünglich weder Nägele noch Pfitzer geplant. Dabei hatte Nägeles Mutter ihrem Sohn schon früh prophezeit, dass er mal etwas produzieren werde, weil er schon als Kind in seinem Zimmer Zinnfiguren in Hunderterserien goss. Später studierte er Chemieingenieurwesen an der Technischen Hochschule in Karlsruhe und wechselte 1996 zum ICT. Pfitzer, ausgebildeter Mechaniker und studierter Maschinenbautechniker aus Ellwangen, war in der Kunstofftechnik und im Holzbau tätig, bevor auch er 1996 zum ICT kam. Heute können sie über die Anfangsjahre schmunzeln, in denen es nur langsam voranging. 2001 lag der Umsatz bei 40.000 Euro, „mit Bratwürstchen hätten wir mehr verdient“, sagt Pfitzer. Aktuelle Zahlen verraten sie nicht, nur so viel: Zwischen 2005 und 2009 verfünffachte sich der Umsatz, 2010 verdoppelte er sich und liegt im siebenstelligen Bereich. Ihre Werkstoffe verkaufen sie mittlerweile nach Neuseeland, Brasilien, in die USA, in Europa von Spanien bis Skandinavien. Die wenigen Mitbewerber, die Tecnaro heute hat, bezeichnen die beiden Chefs eher als Mitstreiter: „Bei uns geht es gemeinsam gegen Erdöl.“ Aus den Geschäftspartnern Pfitzer und Nägele sind Freunde geworden, im Gespräch ergänzen sie einander, ohne sich ins Wort zu fallen. In ihrer Arbeit sind sie von spielerischer Entdeckungsfreude. Fast täglich stehen sie in ihrer Werkhalle, füllen Granulat ab und entwickeln neues mit ihren 15 Angestellten: „Wir stehen genauso im Staub wie die anderen.“ Sie sind nach wie vor begeistert von der Vielseitigkeit ihres Produkts. Im Konferenzraum unter dem Dach der Tecnaro-Zentrale lagern Krippenfiguren, Gugelhupfformen, Lautsprecher, Sonnenbrillen, Zahnputzbecher und Seifenschalen, Shampooflaschen, Blockflöten und Bodenplatten – alles aus Arboform. Das erste Serienprodukt war die Armbanduhr „Woodwatch“, die skurrilsten sind Särge für Kleintiere und Absätze an Highheels von Gucci. Auch die Autoindustrie gehört zu ihren Kunden. Audi, Porsche oder Mercedes nutzen Arboform als Trägermaterial für teure Holzfurniere oder als präzise 3-D-Schablonen für die Kühlkanäle der Bremsen. Der Kern aus Flüssigholz wird aus den fertigen Bremsen herausgebrannt, die Kanäle bleiben. Auch preislich kann das Flüssigholz mithalten. Mit 2,50 Euro pro Kilo ist es zwar etwas teurer als Massen-, aber günstiger als hochwertiger Kunststoff. Das ist Pfitzer und Nägele wichtig, denn auch wenn sie sich über die Auszeichnung zum Erfinder des Jahres gefreut haben, die entscheidende Währung für die beiden ist die Serieneignung: „Was nicht in den Markt geht, ist wertlos.“

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