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(picture alliance) In seiner Europa-Rede wirbt Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments für mehr Integration

Europa in der Krise - Brüssel leidet unter Realitätsverlust

Die Brüsseler Spitzenpolitik beschwört das lahme deutsch-französische Duo, bricht Verträge und verstetigt somit den Ausnahmezustand. Nicht einmal das Europaparlament hat eine Idee, wie es die strukturelle Krise bewältigen soll. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU wäre eine Gelegenheit nachzudenken

Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, orientiert sich gern an großen Vorbildern. An Thomas Mann zum Beispiel. Am 9. November, jenem schicksalsträchtigen Tag der Deutschen, zitiert Schulz dessen Postulat eines „europäisches Deutschland“. Und er beruft sich auf Willy Brandt: „Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte.“

Man dürfe die weitergehende Integration nicht wegen kurzfristiger, nur scheinbarer Vorteile aufgeben, fordert Schulz in seiner Europa-Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung. Was wie ein flammendes Plädoyer erscheint, ist jedoch ein Appell für ein „Weiter so“. Es ist die Weigerung, darüber nachzudenken, warum es zur gegenwärtigen Krise Europas gekommen ist.

Besonders hanebüchen: Schulz würdigt die deutsch-französische Freundschaft. Über Jahrzehnte sei sie es gewesen, „die an unterschiedlichen Weggabelungen die europäische Einigung voranbrachte“. Damit trägt er wenig dazu bei, die nüchternen Erwägungen nachzuvollziehen, die auf beiden Seiten jenseits der Aussöhnungs- und Freundschaftssymbolik gehegt werden. Für Frankreich – und dies schon in den Fünfzigerjahren – war die deutsche Wirtschaftsmacht allein bereits ein Grund, sich mit den Deutschen zu arrangieren. Und Frankreich wäre auch dann nicht im Rahmen einer Hegemonialstrategie in den Griff zu bekommen, wenn eine solche auf deutscher Seite überhaupt noch bestünde.

Schulz ignoriert vollständig die unüberwindbaren Unterschiede beider Länder, besonders auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik. Die deutsch-französische Freundschaft ist institutionell gesehen ein Kartell, das sich darum bemüht, die Gemeinschaft von 27 Ländern zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Und nun soll gar ein Dritter hinzutreten: Polen, die dynamische Volkswirtschaft im Osten Europas. „Dieses Land fester in Europa einzubinden ist in unser aller Interesse“, unterstrich Schulz.

Schon der französische Historiker Edouard Husson sprach davon, dass Europa Gefahr liefe, auf dem Altar der deutsch-französischen Freundschaft geopfert zu werden. Daran ist manches wahr. Insbesondere ist richtig, dass sich 25 Länder nicht von zwei Nationen vorschreiben lassen wollen, in welche Richtung der gemeinsame Zug fährt. Die Strandspaziergänge von Sarkozy und Merkel mögen nützlich gewesen sein: Sie haben bei den natürlichen Verbündeten Deutschlands Irritationen ausgelöst, als ihnen deren Ergebnisse als fait accompli vorgesetzt wurden. Wenn nun noch ein Dritter hinzutritt, wird die Lage nicht überschaubarer. Einerseits ist Polen in seinem politischen und ökonomischen Gewicht nicht wirklich ein gleichgewichtiger Partner im Verhältnis zu Deutschland und Frankreich. Wichtiger aber ist, dass durch das Dreierbündnis weder für Polen noch für Deutschland irgendetwas erreicht werden könnte, was nicht beide Länder genauso gut bilateral schaffen können.

Die Erweiterung des Zweierkartells zu einem Dreierbündnis würde die europäische Governance nicht grundlegend verbessern. Hier mahnt Schulz die Notwendigkeit an, nicht länger in nationalstaatlichen Kategorien zu denken. Er vergleicht – extrem unhistorisch – die vielen Gipfeltreffen des Europäischen Rates mit der Zeit des Wiener Kongresses. Eine Lösung der strukturellen Krise, die Schulz als die „schwerste der europäischen Einigung“ bezeichnet, würde schon dadurch geschehen, wenn nur dieses lästige, nationalstaatliche Denken aufgegeben würde und man sich wieder einer „europäischen Langfristigkeit“ verschreiben könne.

Seite 2: Was in der Nacht vom 8. Mai 2010 geschah, war die selbst ermächtigte Ergänzung und Abänderung von Grundregeln

Diese Vorschläge sind in doppelter Hinsicht ignorant: zum einen, weil durch keine Macht der Welt nationale Interessen in ihrer Vielgestaltigkeit negiert werden können. Sie existieren, solange es Nationalstaaten mit dem Anspruch auf Souveränität gibt. Und sie werden auf absehbare Zeit fortbestehen. Die Europäische Gemeinschaft hat den Vorzug, die hieraus entstehenden Konflikte durch ein Regelwerk eingehegt zu haben: der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über deren Arbeitsweise. Doch dieses Regelwerk – einst Quelle neuer Souveränität und ein Instrument zur Einhegung nationaler Interessen – ist im Rahmen der Krise von niemandem so häufig und gravierend verletzt worden wie von der Europäischen Kommission. Ganz zu schweigen von den Mitgliedstaaten: Es ist auf Betreiben von Kommission und Rat zunehmend erodiert. Der permanente Ausnahmezustand, von dem Schulz spricht, ist ein Symptom dieser Erosion des Rechts.

Was in der Nacht vom 8. Mai 2010 geschah, war die selbst ermächtigte Ergänzung und Abänderung von Grundregeln der Europäischen Währungsunion: die Schaffung der EFSF, der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität. Hierfür hatten die Schar von Politikern, insbesondere aus Paris, und der herbeibefohlene Thomas de Mazière – damals noch Innenminister – gar kein Mandat. Wer den permanenten Ausnahmezustand, die Rechtserosion, und in ihrer Folge die nackte Machtpolitik vermeiden will, muss den Weg zu den Regeln der Europäischen Union zurückfinden. Er kann nicht, unter Berufung auf außergewöhnliche Umstände oder gar eine existenzielle Krise, Kernregeln der Gemeinschaft auf Dauer suspendieren.

Nicht die Macht der Märkte oder die Bonus-Kultur der Wirtschaftsmanager sind die Ursache für den zunehmenden Zerfall der Rechtskultur in Europa, sondern jene Schrittmacher der politischen Union, die der Präsident des Europäischen Parlaments sich weigert beim Namen zu nennen. Überhaupt stimmt es höchst nachdenklich, wenn der Präsident einer parlamentarischen Institution, die ihrer Natur nach die Exekutive kontrollieren und kritisieren soll, statt dies zu tun und Verschwendungssucht, Schlendrian und miserable Governance der Kommission zu rügen, sich dazu aufschwingt, ein exekutives Langzeitprogramm aufzustellen.

Jene Selbstermächtigung, von der Schulz in Bezug auf den Europäischen Rat spricht, gilt in noch viel größerem Maß für das Europäische Parlament. Statt zur Sparsamkeit zurückzukehren, fordert das Europäische Parlament Budgetzuwächse für die EU. Seine Forderungen übertreffen noch die Größenordnung der Kommissionsvorschläge. Vom ständigen Wachstum seines eigenen Budgets ganz zu schweigen.

Die Rede von Schulz ist nicht nur ein Dokument der Einfalt, sondern auch ein Beweis für den Realitätsverlust, dem die Euroklasse in Brüssel anheimgefallen ist. Die Deutschen und ihre Nachbarn wollen weiterhin Europa. Aber sie fragen sich, ob dieses Europa mit den Gestaltern und Institutionen der Brüsseler Politik noch zu realisieren ist. Die letzten drei Jahre lassen daran zweifeln. Und die Realitätsverweigerung des ersten Repräsentanten des Europäischen Parlaments stimmt nachdenklich. Erst diese Rückkehr zur Nachdenklichkeit wird dazu führen, die europäischen Institutionen neu zu adjustieren. Noch ist es nicht zu spät.

Dieser Artikel erschien in leicht abgewandelter Fassung bereits bei der EU-Infothek

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