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Auf dem Weg zum neuen Sozialstaat

Fast hätten wir es übersehen, aber die Lage ist nicht so aussichtslos, wie viele meinen: Mit zwei kleinen Schritten hat sich die Republik auf den Weg zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft begeben.

Und sie bewegt sich doch! Im Schatten von Euro-Rettungspaket, Köhler-Kapitulation und 80-Milliarden-Streichliste ist es uns kaum aufgefallen. Aber mit zwei kleinen Schritten hat die Republik ihre Zukunftsfähigkeit gestärkt: Die jüngsten Vorhaben der Bundesregierung, die Familienpflegezeit und die Bürgerarbeit für Langzeitarbeitslose, zeigen, dass sich hierzulande ein ökonomisch sinnvolles, neues sozialstaatliches Selbstverständnis durchsetzt, das keineswegs zu einer schlechteren Versorgung führen muss. Das Konzept der Familienpflegezeit räumt Berufstätigen das Recht ein, auf eine halbe Stelle zu wechseln, um Angehörige bis zu zwei Jahre pflegen zu können. Dabei erhalten sie weiterhin bis zu 75 Prozent ihres Gehalts. Die Lohndifferenz muss entweder vorher auf einem individuellen Zeitkonto angespart worden sein oder anschließend abgearbeitet werden. Der Staat tritt nicht mehr als omnipotenter Financier einer Sozialleistung auf, sondern als ihr rechtlicher Garant und ökonomischer Rückversicherer. Die dadurch ermöglichte Leistung, pflegende Fürsorge in der Familie, ist aber nicht schlechter als ein über Sozialbeiträge finanzierter Platz im Pflegeheim. Im Gegenteil: Die Stärkung der häuslichen Pflege kommt sowohl dem Pflegebedürftigen zugute, dessen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit in der gewohnten Umgebung oftmals am besten gewahrt werden können. Sie entspricht trotz der physischen und psychischen Belastungen aber auch den Interessen der Familien: In repräsentativen Umfragen halten es 65 Prozent aller Berufstätigen für wünschenswert, dass Pflegebedürftige so weit wie möglich durch Angehörige gepflegt werden. Gleichzeitig erklären jedoch 67 Prozent aller Pflegebereiten, dass sie dazu ihre Arbeitszeit zumindest vorübergehend reduzieren müssten. Finanzielle Belastungen für Arbeitgeber und die öffentliche Hand werden in diesem Modell minimiert: Für angefallene Lohnvorauszahlungen haftet der pflegende Arbeitnehmer über eine Pflichtversicherung für Berufsunfähigkeit oder Todesfall, deren monatliche Prämie im einstelligen Euro-Bereich liegen dürfte. Der Staat muss nur in den Fällen einspringen, in denen der Arbeitnehmer vor dem vollständigen Abarbeiten der Vorauszahlungen Privatinsolvenz anmelden müsste. Für kleine und mittlere Unternehmen soll die staatliche Förderbank KfW zudem die Lohnvorschüsse zinslos vorfinanzieren. Im Gegensatz zum fragwürdigen Zusammenwirken von Staat und KfW bei industriepolitisch motivierten Rettungstaten ist diese Form der Risikoübernahme ordnungspolitisch einwandfrei. Natürlich ist das Konzept der Familienpflegezeit auch durch fiskalische Zwänge einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung motiviert, wie Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) bei der Vorstellung einräumte. Und natürlich bleiben Verbesserungsmöglichkeiten: Warum sollen nur Vollzeitbeschäftigte in Teilzeit gehen können, nicht aber zu 70, 80 oder 90 Prozent beschäftigte Arbeitnehmer? Wie könnte ein nahtloser Übergang in dauerhafte Teilzeit erfolgen, wenn zwei Jahre nicht ausreichen? Trotz dieser offenen Fragen zeigt das Modell der Familienpflegezeit, dass Sozialpolitik auch in Zeiten knapper Kassen erhebliches Gestaltungspotenzial zum Wohle der Menschen entfalten kann. Die Bürgerarbeit für Langzeitsarbeitslose ist ein weiterer Schritt in eine zukunftsfähige Arbeitsgesellschaft. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will sie aufgrund erfolgreicher Modellprojekte ab Juli bundesweit einführen. Rund 33000 Langzeitarbeitslose sollen so in Beschäftigung gebracht werden – befristet auf drei Jahre, mit 30 Stunden Wochenarbeitszeit für 900 Euro brutto, sozialversicherungspflichtig, aber ohne Beiträge an die Arbeitslosenversicherung. Dem für einen zukunftsfähigen Sozialstaat konstitutiven Gedanken der Reziprozität folgt damit nach dem richtigen Slogan („Fördern und Fordern“) das für strukturschwache Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit alternativlose Modell einer staatlich geförderten Beschäftigung. Natürlich ruft die Logik, dass die Ablehnung einer angebotenen Bürgerarbeitsstelle mit der Kürzung von Sozialleistungen sanktioniert wird, die erwartbare Kritik von „Arbeitszwang“ und „Ausweitung des Niedriglohnsektors“ hervor. Aber in einer auf dem Prinzip der Solidarität beruhenden Gesellschaft ist der „Arbeitszwang“ der einen die Kehrseite des „Beitragszwangs“ der anderen. Ein willkommener Nebeneffekt von Workfare-Ansätzen wie der Bürgerarbeit ist, dass die Schwarzarbeit erschwert wird. Ein Indiz für deren weite Verbreitung zeigte sich in den Modellprojekten, wo bis zu zwanzig Prozent der Betroffenen die angebotene Bürgerarbeit ablehnten und zugleich auf den Hartz-IV-Bezug verzichteten. Und die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist für die Zielgruppe der Bürgerarbeit, die im regulären Arbeitsmarkt keinen Job finden kann, ohnehin nicht das Problem – sondern ein Teil der Lösung.

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