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() Phnom Penh
Für einen Euro am Tag

Bürgerkrieg und die Gewaltherrschaft der Roten Khmer haben Kambodscha zu einem der ärmsten Länder der Welt gemacht.

Während ihre Freunde in die Schule gehen, schneidet sich Savon den Fuß an einer Scherbe auf. Die Zwölfjährige rutscht aus, verliert einen Schlappen und tritt dabei in eine Glasscherbe. Sie steht auf dem „Smoky Mountain“, dem Müllberg von -Phnom Penh, ihr Haar ist verfilzt. Schnell schlüpft sie wieder in den Schuh und sucht in der Rauchwolke nach ihren Eltern. Aus ihrer Nase läuft Rotz, die Augen tränen. Neben ihr kokelt ein Schwelfeuer, es stinkt nach verbranntem und verfaul-tem Abfall. Ein Müllwagen spuckt seine Ladung aus. Ein Menschenknäuel stürzt sich darauf und wühlt mit den Händen im Abfall. Die Erwachsenen haben ihre Gesichter mit Kramas vermummt, karierten Tüchern, als Schutz gegen die giftigen Dämpfe auf der städtischen Mülldeponie der kambodschanischen Hauptstadt. „Irgendwo müssen Mami und Papa sein“, denkt Savon verzweifelt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Das Mädchen findet die beiden hinter dem Müllwagen. Sie beugen sich gerade über aufgeplatzte Müllsäcke und graben mit beiden Armen darin. Heben leere Plastikflaschen, Bierdosen und Löffel auf und stopfen alles in einen leeren Sack. Es stinkt. Savon zeigt ihrer Mutter den verletzten Fuß. Doch die verscheucht sie mit wedelnden Händen wie eine Fliege. Enttäuscht humpelt das Mädchen zum Fuße des Abfallberges auf der Suche nach So Phalla. Als Savon das Tor aufstößt und über den Hof humpelt, sitzt die 46-Jährige erschöpft im Schatten des einzigen Baumes vor der Schule für Müllkinder, einem Projekt der Vulnerable Children Assistance Organization und terre des hommes. Mit der Pinzette zieht die Frau vorsichtig die Scherben raus und reinigt die Wunde mit Jod. „Jeden Morgen um acht müssen wir mit zum Arbeiten, bis zum Sonnenuntergang. Auch mein siebenjähriger Bruder und meine beiden älteren Geschwister“, erzählt Savon, als So Phalla ein Pflaster auf ihre Wunde klebt. Zwölf Stunden täglich muss sie bei tropischer Hitze Müll sortieren – auch am Wochenende. Dafür zahle der Schrotthändler Fünftausend Riel (rund ein Euro) am Tag. Die Schule für die Müllkinder befindet sich mitten auf dem Deponiegelände in einem grau-gelben einstöckigen Gebäude, gleich unter dem großen Abfallberg. Ständig fahren Müllwagen vorbei, und Hühner rennen über den Hof. Seit eineinhalb Jahren unterbricht Savon jeden Morgen für eine Stunde ihre Arbeit und kommt hierher. Auf der Tafel stehen schnörkelige Silben des Khmer-Alphabets. Die Lehrerin zeigt mit einem Stöckchen darauf und fragt Savon ab. Das Mädchen mit dem Schmollmund erhebt sich von der hölzernen Schulbank, antwortet schüchtern und verneigt sich mit gefalteten Händen vor der Brust. „Mittlerweile habe ich ein bisschen lesen, schreiben und rechnen gelernt“, erzählt sie stolz und streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Mit leuchtenden Augen fügt sie hinzu: „Ich möchte doch mal Lehrerin werden, deshalb möchte ich weiter zur Schule.“ So Phalla möchte sie noch in diesem Jahr auf die staatliche Schule schicken. Doch Savons Eltern sind von der Idee nicht begeistert, obwohl die Hilfsorganisation das Schulgeld bezahlt. Denn das hieße, es gebe eine Arbeitskraft weniger in der Familie. Vor drei Jahren sind Savon und ihre Familie aus der Prey-Veng-Provinz, der ärmsten Gegend Kambodschas, in die Hauptstadt gekommen. „Wir haben dort alle bei einem Reisbauern auf dem Feld gearbeitet“, erzählt das Mädchen. In der Trockenzeit hatte die sechsköpfige Familie oft tagelang keine Arbeit und kaum etwas zu essen. Savon war damals neun und hatte noch nie eine Schule besucht. „Das Schulgeld konnten sich meine Eltern nicht leisten“, sagt sie und schaut beschämt auf ihre schwarz verkrusteten Fingernägel. In Kambodscha kostet die staatliche Schule pro Kind zwischen 5000 und 10000 Riel, ein bis zwei Euro im Monat. Außerdem brauchen die Kinder Schuluniformen und Bücher. Und viele Lehrer stocken ihr niedriges Gehalt mit einer Extragebühr auf. Kurz nach elf hastet Savon aus der Schule und folgt einem Müllwagen, der gerade den Abfallberg hinauffährt. Nun heißt es weiterarbeiten, bis zur Dämmerung. Auf dem sechs Fußballplätze großen Deponiegelände im Stadtteil Stung Meanchey arbeiten einhundertdreißig Kinder und ihre Familien. Touristen brettern mit dem Mopedtaxi durch den Industrievorort zum nahe gelegenen Killing-Fields-Memorial. Seit 1999 herrscht Frieden in Kambodscha. Dreißig Jahre Bürgerkrieg und die Schreckensherrschaft der Roten -Khmer unter Pol Pot haben aus dem ehemaligen Khmer-Reich eines der ärmsten Länder Süd-ostasiens gemacht. Die Kambodschaner verdienen im Durchschnitt 250 US-Dollar im Jahr. Jeder fünfte Mann und fast jede zweite Frau sind Analphabeten. Alleine in Phnom Penh arbeiten etwa 28000 Kinder. Wie eine Giftschlange windet sich ein Trampelpfad über den Müllberg. Savon tritt mit ihren Plastikschlappen über zerbrochene Porzellanteller mit Blumenmuster, hunderte Wattebäuschchen und immer wieder Glasscherben. So Phalla begleitet das Mädchen nach Hause, denn sie möchte mit Savons Eltern sprechen. Eine faulige Qualmwolke liegt über ihnen. Circa zweihundert Meter hinter dem Müllberg stehen ein paar Hütten auf Stelzen mitten im grasgrünen Schwemmland. „In der Regenzeit steht hier das Wasser oft knietief“, erklärt die Schulleiterin. Vor einem Monat musste Savons Familie die Bracke noch aus der Hütte schöpfen. Monsunregen tropfte durch das Dach aus Plastikplanen in die etwa fünfzehn Quadratmeter große Holzhütte, rann an den Wänden herunter und sickerte erst in ihre Schlafsäcke, dann in die Kleider. Seitdem ist das Mädchen fast jeden Tag krank. Sie hat dauernd Fieber, ist erkältet und hat eine verstopfte Nase. Von der Nässe und von der täglichen Arbeit auf der Müllhalde. Savons Eltern kümmert das alles nicht, sie haben andere Sorgen – für sie geht es ums Überleben. So Phalla möchte ihnen deshalb erklären, wie wichtig die Gesundheit ihrer Kinder ist. Es ist siebzehn Uhr dreißig. Die Abendsonne schiebt sich zwischen die Blechhütten von Stung Meanchey, und der Slum versinkt in gnädigem Orange. Mary steht an der Hauptstraße und umarmt eine Mülltüte. Tastet sie ab, wie ein Arzt seinen Patienten. Spürt etwas Festes zwischen ihren Händen, greift hinein, zieht eine Plastikwasserflasche heraus und wirft sie in den Bambuswagen. Der 16-jährige Reathy sitzt grinsend auf seinem Rad und wartet am Straßenrand auf seine zwei Jahre jüngere Schwester. Mary fischt noch ein paar Plastikfolien aus dem Müll, schmeißt auch die in den mit Draht befes-tigten Fahrradanhänger und setzt sich obendrauf. Im dichten Feierabendverkehr rollen die beiden Richtung Phnom Penhs Zentrum. Mopeds, Autos und LKWs überholen das langsame Gefährt. Ein Radfahrer fährt dicht auf, greift mit der Hand nach dem Wagen und lässt sich ein Stück weit mitziehen. Mary ignoriert ihn und sucht mit ernster Miene den Gehweg ab, auf der Suche nach dem nächsten Müllkorb. Die beiden sind jeden Abend unterwegs, fahren die sieben Kilometer von Stung Meanchey bis ins Zentrum von Phnom Penh und zurück. Immer dieselbe Strecke. Reathy stoppt vor dem Psar Psar Toul Tom Pong, dem Russenmarkt. An den Obst- und Gemüseständen drängeln sich die Einheimischen. „Rund um die Märkte gibt’s den meisten Müll“, sagt Reathy und stellt das Rad vor einem Seiteneingang ab. Mittlerweile ist es dunkel, nur die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Wagen erhellen den Blechverschlag immer wieder für einen Moment. Der ganze Boden ist bedeckt mit aufgeplatzten Mülltüten, es stinkt faulig. Eine Ratte huscht davon, als Mary sich über den Abfall beugt und dünne Plastik-tüten rauszieht. Jemand war offenbar schon vor ihnen da. Trotzdem sind sie froh, dass sie nicht mehr auf der Deponie arbeiten, denn „dort ist der Müll doch schon vorsortiert“, sagt Mary. Jeden Morgen verkaufen sie den Plastikmüll, den sie am Abend zuvor gefunden haben, an den Schrotthändler. „Für ein Kilo bekommen wir dreihundert Riel (sechs Cent). Wir verdienen meis-tens dreitausend Riel am Abend.“ Sechzig Cent für eine Wagenladung Plastik. Auf dem Markt kaufen sie davon gekochten Reis mit Schweinefleisch oder mit Fisch für sich und die Familie. „Das ist billiger, als selber zu kochen, und vom Rest kaufe ich mir manchmal ein Buch“, sagt das hochgewachsene Mädchen mit dem schma-len Gesicht. Marys Großmutter Boen Sophanna, 59, ist eine warmherzige Frau mit rundem Gesicht und kurzen schwarzen Locken. Während sie auf dem Bambustisch hinter ihrer Blechhütte sitzt, schaut sie nachdenklich in die Ferne auf den einen Kilometer entfernten Müllberg und erzählt. „Mary war ein halbes Jahr alt, als ihre Eltern starben. Zuerst ihre Mutter. Sie wurde nach der Hausgeburt mit Mary ernsthaft krank und starb bald. Kurz darauf starb auch ihr Vater, nachdem er beim Husten immer Blut gespuckt hatte.“ Vor zehn Jahren ist Boen Sophanna, gemeinsam mit ihren sechs Enkelkindern und ihrer jüngsten Tochter, aus der Pursat-Provinz an der thailändischen Grenze nach Phnom Penh gezogen. „Wir haben bei Bauern auf dem Reisfeld gearbeitet und kein eigenes Land besessen. Nach einer Miss-ernte gab es keine Arbeit mehr für uns, also sind wir in die Stadt gezogen.“ Zum Müllsammeln. Hier verdienen sie mehr als in ihrer alten Heimat, haben genug, um nicht zu hungern. Und wenn es mal nicht reicht, leihen sie sich etwas Geld von den Nachbarn. Früher ist sie zusammen mit Mary und ihren Geschwistern auf die Deponie oder nach Phnom Penh zum Müllsammeln gegangen. Jetzt habe sie ein krankes Knie und könne nicht mehr arbeiten. Im Zentrum von Phnom Penh fah-ren Mary und Reathy in den Kreisverkehr am Unabhängigkeitsdenkmal. Der steinerne Turm in Form einer Lotusblüte soll an die Befreiung von den französischen Kolonialherren 1953 erinnern. Heute hoffen die beiden, dass sie jemand aus der Armut befreit. Sie biegen in den Norodom-Boulevard mit seinen, für kambodschanische Verhältnisse, prachtvollen Läden. Mary schaut sehnsüchtig in die Schaufenster einer Boutique. Vor einem Brillengeschäft halten die beiden an und wühlen in den Bambuskörben voller Müll am Straßenrand. Die Optikerin steht im Türrahmen und schaut den beiden angewidert zu. „Oft verjagen uns die Leute, sagen: ‚Geht weg und macht keine Sauerei vor meinem Haus‘“, erzählt Mary. Das sei hart. Sie bekomme Selbstmitleid, wenn sie gut angezogene Leute auf ihren Mopeds vorbeiflitzen sehe, und male sich aus, wie es bei denen zu Hause aussehe. Jetzt biegen die Geschwister in die vornehme 184.Straße ein. An der Ecke steht ein eleganter Betonquader, die Botschaft von Singapur. Davor sitzt ein Wachmann in piekfeiner Uniform auf seinem Plastikstuhl. Als die beiden Jugendlichen mit dem Rad an ihm vorbeiziehen, schaut er durch sie hindurch. Am Straßenrand stehen fünf überquellende Bambuskörbe. Mary springt ab und wühlt mit den Händen darin. Reathy bleibt auf dem Rad sitzen und zieht seine Baseballkappe tiefer in die Stirn. „Einmal hat uns ein Mann den vollen Wagen geklaut“, sagt er und fügt hinzu, „es ist gefährlich hier in der Stadt.“ Besonders rund um den Psar Thmei, den Neuen Markt, der mit seiner Art-déco-Kuppel fast wie eine Moschee aussieht. Da gebe es sehr viele Gangster. Seit Reathy dort verprügelt wurde, meiden die Geschwis-ter die Gegend. „Mary darf nicht mehr alleine losziehen, das verbiete ich ihr. Ich habe Angst, dass sie vergewaltigt wird“, sagt er leise. An diesem Tag kommen Mary und Reathy gegen elf Uhr nachts nach Hause. Mit dem Anhänger voller Plastikflaschen und -folien. Bevor sie sich schlafen legen, verstauen die Kinder das Rad mitsamt Anhänger unter der Blechhütte und decken es mit einer Plane ab. Dann kriechen sie erschöpft in ihre Hängematten. Am Horizont glühen die Müllfeuer des „Smokey Mountains“ wie bei einem Vulkanausbruch. Leichter Wind weht die giftige Rauchwolke bis in den Slum. Ellen Köhrer ist freie Journalistin und lebt in Stuttgart. Sie ist Absolventin der Reportageschule Günter Dahl und schreibt über Sozialthemen in Deutschland und Asien Foto: Picture Alliance

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