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Vom Sparkapitalismus zum Pumpkapitalismus

Wer in der Wirtschaftskrise die Rettung von oben ersehnt, wird zwangsläufig enttäuscht werden. Erst wenn der Einzelne sich ändert, wird auch die Wirtschaftspolitik neue Wege finden, konstatierte der jüngst verstorbene Ralf Dahrendorf schon vor Jahren

Mein Freund, der im Versicherungsgewerbe tätig ist und zudem Erfahrungen mit Bausparkassen hat, erzählte mir von seiner Schreckensvision. Er sei durch einen kleinen Ort in seinem Revier gefahren, und plötzlich habe er durch die Eigenheime, die Wirtschaftsgebäude, die Gemeindeeinrichtungen hindurchgesehen: „Der schuldet mir 200000 Mark, der 50000, der 80000, und die Gemeinde – na, davon reden wir besser gar nicht.“ Auf einmal habe die schöne Wohlstandswelt mit ihren Holzverschalungen, Marmortreppen, Schwimmbädern sich in eine Schuldenwelt verwandelt. „Und weißt du, die Leute sind ja verrückt. Da hat einer 20000 Mark in bar und vielleicht noch eine kleine Lebensversicherung und einen Bausparvertrag, und dann baut er für eine halbe Million. Alles nur vom Besten, Steine aus Italien, japanische Tapeten, wahnsinnig ist das.“ Und wie zahlt er das geborgte Geld zurück? „Er? Das läuft bis ins Jahr 2020. Aber das beunruhigt ihn nicht, dass seine Kinder das bezahlen müssen. Er redet immer nur von Wertsteigerung und rechnet fast damit, dass die Inflation mit dem Geld sowieso die Schulden entwertet.“ Ist denn das noch ein realer Wert? Kann man all diese Häuser überhaupt verkaufen? „Natürlich nicht. Das ist es ja gerade. Es steht alles auf tönernen Füßen.“ Dann denke ich an die Vorlesungen, die ich vor 25 Jahren gehalten habe. Wie heißt es doch in Max Webers „Protestantischer Ethik“? Der Erfolg in dieser Welt zeigt, ob man auserwählt ist, lehren die Calvinisten. Das ist kein Lotterie-Erfolg, sondern einer der Leistung. Man muss ihn durch eigenes Tun unter Beweis stellen. Arbeit, Beruf sind moralische Pflicht, lehren die Lutheraner. Es ist etwas an sich Gutes im fleißigen, arbeitsamen Leben. Und nur durch solche Werte wird die moderne Volkswirtschaft zunächst in Gang gesetzt und dann in Gang gehalten. Dass dies nicht nur für kapitalistische Volkswirtschaften gilt, konnte Max Weber noch nicht wissen. Doch hätte er Thomas Mann sicher nicht widersprochen, der in sein Tagebuch notiert: „Ich bedachte in diesem Zusammenhang, dass der sittliche Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus darum geringfügig ist, weil beiden die Arbeit als höchstes Prinzip, als das Absolute gilt.“ Das Klima der protestantischen Ethik ist nur an einer Stelle in der Welt entstanden, wenn auch an einer, die der Weltgeist geküsst hat. Dahinter steckt indes etwas Allgemeineres, nämlich die Fähigkeit zu dem, was in der angelsächsischen Sozialwissenschaft deferred gratification, also aufgeschobene Befriedigung genannt wird. Das ist der Verzicht auf unmittelbaren Genuss, die Bereitschaft, zuerst Zurückhaltung zu üben, zu arbeiten, zu sparen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt die Früchte des Verzichts zu ernten. Deferred gratification ist nicht nur Kulturmerkmal des Bürgertums, vom regelmäßigen Stillen der Säuglinge bis zum harten Leben der Arbeit, sondern auch Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Nur was gespart worden ist, kann investiert werden. Umgekehrt ist die Unfähigkeit zur deferred gratification, der Wunsch nach unmittelbarem Genuss, oft als einer der Gründe für die fehlende ökonomische Dynamik in Entwicklungsländern angesehen worden. Fleiß, Sparsamkeit, Konsumverzicht, Disziplin, das sind die vertrauten Werte der bürgerlichen Welt kapitalistischer oder sozialistischer Provenienz. Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Man kann nicht ausgeben, was man nicht hat. Ohne Fleiß kein Preis. Wer nennt die Sprüche, die diese Welt umlagern? Es war übrigens noch die Welt des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit. Das galt sogar in einem technisch-ökonomischen Sinn: Die Produktivität stieg stets rascher als die Reallöhne. Die Wirtschaft wuchs, weil das, was die Menschen in sie an Arbeit und Kapital hineinsteckten, dem, was sie an Lohn und Gewinn herausholten, immer ein paar Schritte voraus war. Es waren ziemlich große Schritte. Nie zuvor in der Geschichte hat es ein so nachhaltig hohes Wachstum der Volkswirtshaft gegeben wie in den entwickelten Ländern der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg (in den USA schon ein paar Jahre früher). Vielleicht war das der Beginn des Verderbens. Denn in den sechziger Jahren holten die Konsumwünsche die Produktionsmöglichkeiten ein. Sei es, dass die Konsumwünsche rascher stiegen als de Produktivität, sei es, dass diese aus vielerlei Gründen langsamer wuchs – irgendwann in jenem schicksalhaften Jahrzehnt begann sich die Schere von Wollen und Können zu öffnen. Das erste verbreitete Anzeichen waren wahrscheinlich die Ratenkäufe. In England spricht man davon, jemand habe sich seinen Musikschrank oder Geschirrspülautomaten on the never-never gekauft, also nach dem „Niemals-niemals“-Prinzip. Man geht in einen Laden, zahlt hundert Mark an, unterschreibt ein Formular, und am nächsten Tag lauscht man den Tönen aus den zwei Lautsprechern der Stereoanlage oder hört auf, Geschirr mit der Hand zu spülen. In Amerika habe ich eine Frau getroffen, die sich eine Weltreise für eine Anzahlung von hundert Dollar geleistet hatte. Zehn Jahre lang würde sie den längst vergangenen Genuss jetzt abzahlen. Rings um dieses neue Verhalten sind Institutionen gewachsen. Es gibt nicht nur Teilzahlungsbanken – alle Banken und Sparkassen haben sich auf das neue Verhalten eingestellt. Ihr Geschäftsgebaren fördert zunehmend das „erst genießen, dann bezahlen“. Das Gleiche gilt für Versicherungen. Ohnehin werden die Wechsel auf die Zukunft mehr und mehr zu einem Schachtelgeschäft: Wenn man für den Bausparvertrag keine Garantie geben kann, schließt man eine Lebensversicherung ab. Die Versicherung ist ihrerseits rückversichert und so weiter. Was dem Einzelnen recht ist, ist Unternehmen und öffentlichen Instanzen billig. Gemeinden verschulden sich ohne Hemmungen. Auch sie bauen auf Vorschuss, bis sie nicht mehr wissen, woher sie das Geld nehmen sollen, um ihre Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder, Sporthallen, Kongresszentren zu unterhalten. Die Staatsverschuldung insgesamt steigt und steigt. Was das im Weltmaßstab bedeutet, weiß mittlerweile jeder Zeitungsleser. Jeden Monat einmal erklärt ein Land, es könne seine Schulden nicht mehr bezahlen. Ohnehin verschlingt der Schuldendienst mancher Länder mehr als die Hälfte ihrer Exporterlöse. Dann wiegen die Bankiers der Welt besorgt ihre Köpfe und beginnen einen neuerlichen Prozess der „Umschuldung“. Das heißt erstens, dass sie die Zahlungstermine der Schuldner hinausschieben (never-never!), und zweitens, dass sie ihnen weitere Mittel zur Verfügung stellen, um… ja, um den Kreislauf der Wirtschaft und damit sich selbst in Gang zu halten. Denn unbekannt ist nichts von dem hier Geschilderten. Nur dies ist wohl noch nicht überall ins Bewusstsein gedrungen, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine ganz ungeheure Veränderung unter unseren Augen stattgefunden hat. Vom Sparkapitalismus sind wir unversehens zum Pumpkapitalismus übergegangen. Während lange Zeit Arbeit und wachsende Produktivität, also ein Überschuss an Leistung der Motor der Wirtschaftsentwicklung waren, sind es heute Konsum und wachsende Verschuldung, also ein Übermaß an Genuss. Nicht Sparen, sondern Borgen hält die Wirtschaft in Gang. Und wenn das auch in den ärmeren Volkswirtschaften der sozialistischen Länder noch nicht im gleichen Maß gelten mag, sind diese doch als Ganze unter den großen Schuldnern der Welt zu finden. Überdies würden ihre jungen Leute nichts lieber tun, als sich auf Raten glitzernde Motorräder zu kaufen. „Na und?“, mag mancher sagen. Nicht ohne Grund fährt Thomas Mann in seiner Betrachtung der kapitalistisch-sozialistischen Vergötzung der Arbeit mit der Bemerkung fort: „Niemand fragt, warum und wieso eigentlich Arbeit diese unbedingte Würde und Weihe besitzt.“ Ist das Aufschieben von Befriedigung nicht ein Rezept für Verdrängungen, Neurosen und Unglück? Warum soll das Baby nicht gestillt werden, wenn es schreit? Warum soll man warten, bis man zu alt ist, das Leben zu genießen, bevor man sich eine Stereoanlage kauft oder auch eine Weltreise macht? Ist nicht das ganze Insistieren auf harte Arbeit und Sparen ebenso abwegig wie, sagen wir, die Golddeckung der Währung? Reicht nicht die wahrscheinliche Fähigkeit zu verdienen (nebst Versicherung gegen ihre Beeinträchtigung), um ein Eigenheim zu finanzieren? In der Tat haben die gelegentlichen Ermahnungen an die Ursprungswerte moderner Wachstumsgesellschaften etwas Altväterliches, ja etwas Abwegiges. Die Menschen sollten wieder härter arbeiten. Ja, weiß denn der, der das sagt, dass für je drei (oder vier oder zehn; auf die genaue Zahl kommt es da nicht an), die härter arbeiten, einer zusätzlich arbeitslos wird? Einzelne und Gemeinwesen sollen sich, so heißt es, wieder auf die alten Hausvatertugenden besinnen und aufhören, Schulden zu machen. Sehen denn solche Mahner nicht, dass in dem Augenblick, in dem das Schuldenmachen aufhört, nicht etwa nur die Sozialleistungen zu Ende gehen, sondern der gesamte Wirtschaftsprozess zusammenbricht? „Aufschwung“ kann im Pumpkapitalismus nur heißen, dass mehr geliehen, mehr auf Vorschuss gekauft wird. Das eben ist der „kulturelle Widerspruch des Kapitalismus“ (wie Daniel Bell es nennt), dass er als Wirtschaftsform auf Werten beruht, deren Anwendung heute seinen Zusammenbruch zur Folge haben müsste. Wer sich heute so verhält, wie Max Weber das für die Frühformen moderner Wachstumswirtschaften beschrieben hat, der wird unweigerlich zum Alternativen, zum jugendbewegten Verfechter des einfachen Lebens, zum Modernitätsfeind, also zum Störenfried, ja Zerstörer des Fortschritts. Dennoch ist der Verdacht, dass es mit dem Pumpkapitalismus nicht immer so weitergehen kann, nicht einfach von der Hand zu weisen. Schlimmer noch, moderne Volkswirtschaften werden zunehmend anfälliger. Es muss da keinen dramatischen Zusammenbruch geben, ein schleichender Zerfall reicht schon. „Was wirst du denn tun, wenn deine Kunden eines Tages alle miteinander zahlungsunfähig werden?“, fragte ich den Freund, der den Leuten hilft, Schulden zu machen. „Dann hole ich die Nähmaschine und das Bügeleisen aus dem Keller und nähe den Leuten Hosen und Kleider. Ich habe Schneider gelernt, und das habe ich noch nicht vergessen.“ Er dürfte nicht der Einzige sein, der in dieser Zeit zuweilen an das Elementare gedacht hat, daran, wie man die Wohnung heizt, wenn es kein Öl mehr gibt, wovon man sich ernährt, wenn die Supermärkte schließen. Denn das ist nicht zu übersehen, dass viele Menschen den dumpfen Verdacht nicht los werden, dass es ja nicht immer so weitergehen kann. Wir leben sozusagen auf zwei Ebenen gleichzeitig, auf jener der sich immer rascher drehenden Pumpwirtschaft einerseits und auf der der Erinnerung an ganz andere, einfache Quellen des Lebens andererseits. In unserer Seele bauen wir schon die Bastionen gegen die Springflut, in der die Welt von gestern versinken könnte. Da gibt es Gründe. Auf einen habe ich schon angespielt. In einer wichtigen Hinsicht ist die konsumgetriebene Wirtschaft eine Ökonomie des Als-ob. Sie schafft ständig Werte, deren Realität von Fragezeichen umlagert ist. Wenn sich an einem soliden Ort ein einzelner Hochstapler ansiedelt und am Ende fällt sein Scheinimperium zusammen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich jemand findet, der das Haus mit dem teuren Schwimmbad, dem schmiedeeisernen Treppengeländer und dem Carrara-Marmorfußboden „günstig“ kauft. Das Hochstapler-Haus hat einen realen Marktwert, auch wenn dieser niedriger ist als der Aufwand, mit dem es errichtet wurde. Hier aber ist von etwas anderem die Rede. Hier ist gemeint, dass alle unbezahlten Häuser mit ihrem angeblich ständig steigenden Marktwert gleichzeitig zum Verkauf stehen. Da stellt sich dann plötzlich heraus, dass der Wert bloße Fiktion war, ein Buchwert, der sich nicht realisieren lässt. Was das heißt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung des Werts von Produkten und die oft eingerechnete zumindest nominale Wertsteigerung sind selbst ein ökonomisches Phänomen. In dem Augenblick, in dem niemand die Häuser, die Autos, die Stereoanlagen aus zweiter Hand mehr will, wird der Wert zur Fiktion. Die Ökonomie des Als-ob bewegt sich ständig am Rande dieses Abgrunds. Da ist nur ein dünner Strich zwischen Wohlstand und Bankrott, Markt und Ramsch. Weh dem, der den Wert seiner Ratenkäufe realisieren muss, weil seine Schulden ihm über den Kopf wachsen! Da kann es noch manchen Herrn Issel geben, der (in Hannelies Taschaus deutscher Provinz-Tragikomödie „Der Landfriede“) sich und seine fünf Kinder erschießt: „Hunderttausend? Nein, siebzigtausend. Jedenfalls für ihn zu viel. Er wäre in diesem Leben nicht mehr von seinen Schulden heruntergekommen.“ „In diesem Leben“: Das ist die andere Quelle der tiefen Verdächte der Seele in der Zeit des Pumpkapitalismus. In ihrem eigenen Leben werden die meisten nicht mehr von ihren Schulden herunterkommen und schon gar nicht die Gemeinden, der Staat. Die tiefste Schwachstelle der Ökonomie des Als-ob ist das Hazardspiel mit der Zukunft. Um die Zukunft ging es auch in den Frühphasen von Kapitalismus und Sozialismus. Da aber war die Zukunft das bessere Leben, nicht nur als Opium für das Volk, als leere Versprechung, sondern begründet in der Tatsache, dass man sich ja heute krummlegte, dass man heute arbeitete, sparte, um sich morgen etwas leisten zu können, um vor allem den Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, eine Starthilfe zu geben. Das funktionierte oft nicht. Der Sozialismus in all seinen Formen hat ohnehin eine fatale Tendenz, die bessere Zukunft immer weiter hinauszuschieben, immer neue Zwischenstadien zu erfinden, immer wieder Opfer zu verlangen. Insofern fordert vor allem der Sozialismus innerweltliche Askese für utopischen Genuss. Aber auch kapitalistische Gesellschaften haben die Tugenden ihrer Bürger häufig genug enttäuscht. In den Sparkapitalismus sind Konjunkturen und Krisen eingebaut. Ob Kriege, Geldentwertungen aus den inneren Strukturen des Kapitalismus folgen oder eigene, kontingente Ursachen haben, kann hier dahingestellt bleiben; jedenfalls haben sie immer wieder die Anstrengungen von Generationen zunichtegemacht. Dennoch bleibt für die Wachstumsgesellschaften alten Stils kennzeichnend, dass eine bessere Zukunft in ihnen angelegt war. Zukunftshoffnung war kein leerer Wahn. In den modernen Ökonomien des Als-ob dagegen ist das ganz anders. Sie begründen No-future-Gesellschaften. Nicht dass die Jungen das so sehen und sich demgemäß verhalten, verdient Tadel, sondern dass die Älteren, die die Jüngeren so gerne beschimpfen, systematisch eine Welt ohne Zukunft geschaffen haben. Zumindest enthält die Zukunft keinerlei Verlockungen. Was den Genuss betrifft, den materiellen Lebensgenuss, so muss er aus ökonomischer Sicht immer schon heute, gleich jetzt stattfinden. Bloß nicht warten, sonst stehen alle Räder still! Und die Zukunft, das ist nur die Zeit, in der man für den Genuss von gestern und vorgestern bezahlt. Das ist keine sehr reizvolle Aussicht. Soll man sich dafür wirklich abstrampeln? Warum eigentlich? Da reicht doch ein bisschen „umschulden“, ein bisschen mehr unmittelbarer Genuss. Sollen die doch sehen, wie sie mit ihren Schulden fertig werden! Es fehlt das Motiv, die Zukunft zu gestalten, denn alles, was sie an Angenehmem bringen könnte, ist schon gewesen. Die Zukunft ist nur noch Last. Gewiss, Leben ist nicht nur materieller Genuss. Es gibt mehr als Geschirrspülmaschinen und selbst Stereoanlagen und Weltreisen. Aber was jenseits des Genusses bleibt, ist eine ungeheure Anforderung an die Gestaltungskraft des Menschen. Es ist nicht weniger als die Konstruktion des menschlichen Lebens ohne jede Hilfe der Gesellschaft, die doch nicht zuletzt um der sozialen Konstruktion des Lebens willen besteht. Immerhin dürfte die perspektivenlose Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft einer der Gründe für das sein, was man die neue Innerlichkeit oder die Wiederkehr des Heiligen oder die Neuentdeckung des Lebens im emphatischen Sinn des Wortes nennen mag. Nur ist das alles schrecklich prekär, wacklig und ohne Halt. Ob man Marx oder Weber folgt, das Sein das Bewusstsein oder das Bewusstsein das Sein bestimmen sieht, ist an diesem Punkt im Grunde gleichgültig: Ökonomische Realität und menschliche Einstellungen haben gleichzeitig die Zeitperspektive des menschlichen Lebens zerstört. Wichtig wird die Frage von Sein und Bewusstsein erst wieder, wenn wir uns fragen, was denn nun werden soll. Die erste Frage ist: Kann der Pumpkapitalismus überleben? Kann es also immer so weitergehen? „Immer“ ist ein großes Wort. Es fällt auf, dass es einstweilen der Schuldenwelt der Ökonomie des Als-ob an Geld nicht fehlt. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe, die ihrerseits den Charakter der modernen Ökonomie kennzeichnen. Es ist nämlich keineswegs in einem älteren, nicht technischen Sinn gespartes Geld, das verfügbar ist. Vielmehr ist es einmal das, was man Goldgräbergeld nennen könnte. In den siebziger Jahren ist das vor allem Ölgeld gewesen, Petrodollars, die noch heute durch die internationalen Banken schwappen wie Silberdollars durch die Spielautomaten von Las Vegas. Hinter ihnen steckt natürlich ein Wert, aber knappe Rohstoffe sind zu allen Zeiten nicht nur ein unverlässlicher, sondern in gewisser Weise ein unsolider Wert gewesen. Gegenstand der Spekulation, auch der Substitution, ohne Dauer und Haltbarkeit. Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien können wieder in Armut und Elend versinken; ihre Städte können zu modernen Goldgräberstädten werden, deren leere Hotels und Paläste dereinst staunende japanische Touristen besichtigen. Immerhin, das Geld ist einstweilen da, und es schmiert den hochtourigen Prozess der internationalen Schuldenökonomie. Die andere Quelle des Geldes ist die Druckerpresse. Angesichts des allgemeinen Interesses an Inflation in einer Welt der Schuldner ist es im Grunde überraschend, wie viel Energie die politisch Verantwortlichen der Weltwirtschaft in die Wiederherstellung der Geldwertstabilität gesetzt haben. Ein letztes Aufbäumen des frühkapitalistischen Geistes? Die verzweifelte Suche nach ein bisschen Berechenbarkeit in einer rundherum unberechenbar gewordenen Welt? Was immer der Grund war, die Geldmenge wächst nach wie vor rascher als der reale Wert der wirtschaftlichen Leistung. Auch bleiben die Inflationsraten überall beträchtlich über null. Die Methode der ungedeckten Erwartungen schlägt sich also im Geldwert ebenso nieder wie im Konsumverhalten und im öffentlichen Haushaltsgebaren. Änderungen sind allenfalls in Spuren erkennbar. Hier und da versucht eine Regierung, die Staatsverschuldung zurückzuschrauben. Nein, bei Licht besehen versuchen sie nur, das Anwachsen der Staatsverschuldung zu verlangsamen. Gelegentlich verzichtet eine Gemeinde auf einen ehrgeizigen neuen Plan, zum Kurort oder Kongresszentrum zu werden. Unternehmer investieren nicht, obwohl es an Geld nicht fehlt. Und prompt kommt der neue Stil an seine Grenzen. Wenn Unternehmer nicht investieren, fehlt es an Einkommen, sowohl an Volkseinkommen, als auch an Individualeinkommen. Der Radfahrer, der nicht mehr in die Pedale tritt, fällt um. Es muss etwas geschehen; eine neue Wirtschaftspolitik muss her, eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es muss den Unternehmern leicht gemacht werden, an Geld zu kommen. Die Wirtschaftszweige, die besonders konjunkturempfindlich sind, bedürfen auch besonderen Wohlwollens. Also gilt der Bauindustrie, der Fahrzeugindustrie der wohlwollende Blick des Staates. Um aber Autos und Häuser zu kaufen, müssen Menschen Schulden machen. Schon beginnt das Räderwerk sich wieder schneller zu drehen. Das alles ist nicht nur politisch, nicht einmal nur moralisch eine beängstigende Geschichte, sondern auch praktisch bedenklich. Es ist, als ob die modernen Wachstumswirtschaften eine Schilddrüsenüberfunktion hätten. Sie drehen sich immer schneller, ohne in Wirklichkeit mehr zu erreichen. Ihr Appetit führt nicht zu einer gesunden Gewichtszunahme, im Gegenteil, sie verbrennen alles zu schnell. Solche Analogien sind gefährlich. Die Prozesse der menschlichen Gesellschaft sind nicht am Modell des Einzelnen und seines Körpers zu verstehen. Doch sind der Leerlauf moderner Volkswirtschaften und sein Preis heute unverkennbar. Was nottut, ist nicht ein neuer Aufschwung, sondern Konsolidierung. Das Als-ob bleibt nämlich nicht, auch wenn es sich vielleicht noch eine Weile hält. Und das Rezept? Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Säkulare, zumindest lang anhaltende Trends lassen sich nicht einfach umkehren. Auch gelingt es nur sehr selten, eine allmähliche Wende herbeizuführen. Das ist kein Argument gegen den Versuch, wohl aber eines gegen große Hoffnungen auf staatliche Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Da wird manches in eingefahrenen Bahnen weiterlaufen, bis es nicht mehr weitergeht. Inzwischen allerdings beginnen Veränderungen im Kleinen. Die andere, neue Welt kommt jedenfalls nicht von oben. Sie kommt von dort, wo das Als-ob zuerst sichtbar und unerträglich wird. Menschen werden ihr eigenes Leben anders einrichten. Dann erst werden die Ökonomie, die Wirtschaftspolitik und am Ende sogar die Agenda der Ökonomen neue Wege gehen. Foto: Picture Alliance

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