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() Indiens politischer Einfluss in der Welt wächst beständig
Was macht Indien so stark?

Im Jahre 2050 werden 9,2 Milliarden Menschen auf der Welt leben – 1,7 Milliarden allein in Indien. Erstmals wird dann der Subkontinent die Statistik der Weltbevölkerung anführen und den bisherigen Spitzenreiter China überholt haben. Indien wird dann nicht nur die größte Bevölkerung haben, sondern wirtschaftlich wie auch militärisch auf einem Führungsanspruch bestehen. Müssen wir davor Angst haben?

Lesen Sie auch: Martin Mosebach: Indiens Geheimnis Fred David: Jaguar – very indisch Jagdish Bhagwati: Fürchtet Euch nicht! Ali Arbia: Eine nukleare Ausnahme für Indien Die Welt hat viel über die außergewöhnliche Verwandlung Indiens während der vergangenen Jahre gehört, und sogar über seine Ansprüche, an der „Führung der Welt“ teilzuhaben. Manches davon ist Übertreibung, doch in einer Hinsicht könnte Indiens Stärke unterschätzt werden. Was macht ein Land zu einer weltweiten Führungsmacht? Ist es seine Bevölkerung, militärische Stärke oder wirtschaftliche Entwicklung? Egal, welches davon man als Maßstab anlegt: Bei jedem hat Indien enorme Fortschritte gemacht. Es ist auf dem besten Wege, China bis 2050 als bevölkerungsreichstes Land der Welt zu überholen, verfügt über die weltweit viertgrößte Armee sowie Atomwaffen und ist nach Kaufkraftparität bereits heute die fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde. Und es wächst weiter, obwohl ein allzu großer Teil seiner Bevölkerung noch immer in Armut lebt. Doch obwohl all diese Indikatoren gemeinhin zur Beurteilung des globalen Status eines Landes herangezogen werden, könnte etwas sehr viel weniger Greifbares, aber im 21.Jahrhundert deutlich Wertvolleres wichtiger sein als alles Genannte: Indiens „soft power“. Man denke etwa an Afghanistan – für Indien ein ebenso bedeutendes Sicherheitsproblem wie für die Welt insgesamt. Doch einer der wichtigsten Einflussfaktoren Indiens in diesem Land rührt nicht von seiner dortigen Militärmission (es hat keine), sondern aus einer einfachen Tatsache: Versuchen Sie nie, einen Afghanen gegen 20:30 Uhr anzurufen, denn zu dieser Zeit läuft dort in Dari-Synchronisation im Tolo TV die indische Seifenoper Kyunki Saas Bhi Kabhi Bahu Thi, und die will niemand verpassen. Saas ist mit einem Zuschaueranteil von 90 Prozent die beliebteste Fernsehsendung der afghanischen Geschichte. Sie gilt als unmittelbarer Anlass für den steilen Anstieg der Verkaufszahlen von Generatoren und selbst für die Abwesenheit von religiösen Veranstaltungen, die mit ihrer Ausstrahlungszeit zusammenfallen. So gründlich hat Saas die Fantasie der afghanischen Bevölkerung gefangen genommen, dass in diesem zutiefst konservativen islamischen Land, wo Familienprobleme häufig im wahrsten Sinne des Wortes von einem Schleier verborgen werden, eine indische Fernsehshow die öffentliche Diskussion von familiären Fragen dominiert (und manchmal zu deren Rechtfertigung herangezogen wird). Dies ist soft power – und ihre besondere Stärke beruht darauf, dass sie nichts mit staatlicher Propaganda zu tun hat. Die Filme Bollywoods, deren schrilles Entertainment weit über die indische Diaspora in den Vereinigten Staaten und Großbritannien hinausreicht, bietet ein weiteres Beispiel. Ein senegalesischer Freund etwa erzählte mir von seiner des Lesens und Schreibens unkundigen Mutter, die jeden Monat den Bus nach Dakar nimmt, um sich einen Bollywood-Film anzusehen – obwohl sie die in Hindi gesprochenen Dialoge nicht versteht und die französischen Untertitel nicht lesen kann. Aber sie kann trotzdem den Geist dieser Filme erfassen und die Geschichte nachvollziehen. Und infolgedessen betrachten Menschen wie sie Indien mit leuchtenden Augen. Ein indischer Diplomat in Damaskus hat mir vor ein paar Jahren erzählt, die einzigen dort öffentlich dargestellten Porträts, die dieselbe Größe hätten wie jene des damaligen Präsidenten Hafez al Assad, wären jene des Bollywood-Superstars Amitabh Bachchan. Indiens Kunst, klassische Musik und Tänze haben denselben Effekt. Das Gleiche gilt für die Arbeit der indischen Modedesigner, die inzwischen die Laufstege der Welt bevölkern. Die indische Küche verbreitet sich überall auf der Welt und hebt dort in den Augen der Menschen den Status der indischen Kultur; der Weg ins Herz der Ausländer führt über ihren Gaumen. In England beschäftigen die indischen Curry-Restaurants heute mehr Menschen als die Eisen- und Stahlindustrie, die Kohleindustrie und der Schiffbau zusammen. Wann immer in einen westlichen Popsong ein Bhangra-Beat eingebunden wird oder ein indischer Choreograf eine Verschmelzung von Kathak und Ballett erfindet, indische Frauen bei den „Miss World“- und „Miss Universe“-Wettbewerben erfolgreich sind, „Monsoon Wedding“ die Kritiker betört, „­Lagaan“ eine Oscar-Nominierung erhält oder indische Schriftsteller den Booker oder den Pulitzer Prize gewinnen, wird dadurch Indiens soft power verstärkt. Genauso wächst der Respekt für Indien, wenn Amerikaner mit derselben Ehrfurcht von den IITs, Indiens Technologieinstituten, sprechen wie vom MIT, und wenn die indische Herkunft von Technikern und Software-Entwicklern mit herausragenden mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen gleichgesetzt wird. Im Informationszeitalter – so argumentiert Joseph Nye, der Guru der soft power – ist es nicht die Seite mit der größeren Armee, sondern mit der besseren Story, die gewinnt. Und Indien ist schon heute das „Land mit der besseren Story“. Als pluralistische Gesellschaft mit freien und florierenden Massenmedien, sich auf zahlreiche attraktive Weisen äußernder kreativer Energie und einem demokratischen System, das die Diversität fördert und schützt, verfügt Indien über eine außergewöhnliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die überzeugender und attraktiver sind als die seiner Konkurrenten. Und dann ist da der internationale Nebeneffekt eines Indiens, das ganz einfach es selbst ist. Indiens bemerkenswerter Pluralismus hat sich nach den landesweiten Wahlen im Mai 2004 gezeigt, als eine Parteiführerin mit römisch-katholischem Hintergrund (Sonia Gandhi) einem Sikh (Manmohan Singh) Platz machte, dem der Amtseid als Ministerpräsident von einem Muslim (Präsident Abdul Kalam) abgenommen wurde – und dies in einem Land, in dem 81 Prozent der Bevölkerung Hindus sind. Was dieser eine Moment für Indiens Stellung in der Welt getan hat, hätte kein stolzgeschwellter nationalistischer Chauvinismus je erreichen können – und dies gilt umso mehr, als er nicht an die Außenwelt gerichtet war. Es gibt noch immer viel zu tun in Indien, damit seine Menschen gesund, gut ernährt und sicher leben können. Aber es gibt Fortschritte: Der Kampf gegen die Armut wird langsam (zu langsam) gewonnen. Indiens größte Aussichten auf den Gewinn der Bewunderung des 21.Jahrhunderts freilich könnten sich nicht auf das gründen, was es tut, sondern auf das, was es ist. Übersetzung: Jan Doolan Foto: Picture Alliance

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