Denk ich an Polen in der Nacht?

Welches Trauma treibt die Kaczynski-Brüder?

Die Kaczynski-Brüder halten Polen und Europa in Atem. Sie bilden den Kopf einer Koalition von Post-Solidarnosc-Revanchisten und postkommunistischen provinziellen Unruhestiftern. Ein führender polnischer Intellektueller über das neue Klima der Furcht Denk ich an Polen in der Nacht? von Adam Michnik Was ist los in Polen ? dem Land, in dem der Niedergang des Kommunismus begann? Jede Revolution durchläuft zwei Phasen. Zuerst kommt ein Freiheitskampf, dann ein Machtkampf. Ersterer beflügelt den menschlichen Geist und bringt das Beste an den Menschen zum Vorschein. Letzterer setzt das Schlimmste am Menschen frei: Neid, Intrigen, Gier, Misstrauen und den Drang nach Rache. Die polnische Solidarnosc-Revolution nahm einen ungewöhnlichen Verlauf. Die mit der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 in den Untergrund gedrängte Solidarnosc überlebte sieben Jahre der Repressionen und schaffte dann auf der Welle der ?Perestroika? Präsident Gorbatschows den Wiederaufstieg. Während der Gespräche am Runden Tisch, die das Ende der kommunistischen Herrschaft herbeiführten, wurde zwischen dem Reformflügel der kommunistischen Regierung und der Solidarnosc ein Kompromiss erzielt, der den Weg für eine friedliche Beseitigung der kommunistischen Diktatur innerhalb des gesamten Ostblocks frei machte. Die Solidarnosc verfolgte eine Philosophie des Kompromisses, nicht der Rache. Sie wollte ein Polen für alle, keinen Staat, der sich in allmächtige Gewinner und unterdrückte Verlierer aufteilt. Seit 1989 sind Regierungen gekommen und gegangen, aber das Land ist stabil geblieben; selbst die Postkommunisten erkannten die Regeln der parlamentarischen Demokratie und die Marktwirtschaft an. Nicht alle aber haben diesen Weg akzeptiert. Heute wird Polen von einer Koalition von Post-Solidarnosc-Revanchisten, postkommunistischen provinziellen Unruhestiftern, den Nachfolgern der Chauvinisten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, fremdenfeindlichen und antisemitischen Gruppen und dem Umfeld von Radio Maryja ? dem Sprachrohr des ethnoklerikalen Fundamentalismus ? beherrscht. Überall sind beunruhigende Signale zu verzeichnen: Die Autorität der Gerichte wird untergraben, die Unabhängigkeit des Verfassungstribunals angegriffen, die öffentliche Verwaltung korrumpiert, und die Strafverfolgungsbehörden ­werden politisiert. Das tägliche gesellschaftliche Leben wird in unterdrückerischer Weise reguliert. Warum dies passiert? Jede erfolgreiche Revolution bringt Gewinner und Verlierer hervor. Die polnische Revolution brachte dem Land Bürgerrechte, aber auch zunehmende Kriminalität, die Marktwirtschaft, aber auch gescheiterte Unternehmen und hohe Arbeitslosigkeit, die Herausbildung einer dynamischen Mittelschicht, aber auch zunehmende Einkommensunterschiede. Sie hat Polen für Europa geöffnet, aber brachte auch die Furcht vor Ausländern und einer Invasion der westlichen Massenkultur. Für die Verlierer der polnischen Revolution von 1989 ist die Freiheit mit enormer Unsicherheit verbunden. Die in Großunternehmen beschäftigten Solidarnosc-Mitglieder sind den Freiheiten zum Opfer gefallen, die sie einst erkämpft haben. In der Gefängniswelt des Kommunismus war ein Mensch Eigentum des Staates, aber der Staat kümmerte sich um seinen Lebensunterhalt. In der freien Welt sorgt niemand für einen. Und in dieser von ängstlicher Sorge gekennzeichneten Atmosphäre regiert die gegenwärtige Koalition, die konservative Patentrezepte von George W.Bush mit den Zentralisierungspraktiken Wladimir Putins vereint. Die Veteranen der Solidarnosc-Bewegung glaubten, dass auf den Niedergang der Diktatur ihre eigene Herrschaft folgen würde. Aber die schuldigen Kommunisten wurden nicht bestraft, und die tugendhaften Solidarnosc-Aktivisten nicht belohnt. So führte das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, zu Verbitterung, Neid und einer destruktiven Energie, die auf die Rache an früheren Feinden und scheinbar erfolgreichen alten Freunden ausgerichtet war. Die Verlierer weigerten sich anzuerkennen, dass das Erreichen der Freiheit Polens größter Erfolg in 300 Jahren war. Für sie ist Polen ein Land geblieben, das vom kommunistischen Sicherheitsapparat beherrscht wird. Ein solches Polen, so meinen sie, bedürfe einer moralischen Revolution, in der Verbrechen bestraft und Tugend belohnt wird und in der Ungerechtigkeit Wiedergutmachung erfährt. Das Mittel, für das sich die Parteien dieser Verlierer nach der gewonnenen Parlamentswahl von 2005 entschieden, war eine große Säuberungsaktion. Die Lustration hätte frühen Schätzungen zufolge 700000 Menschen betroffen und 17 Jahre gedauert. Es sollte dabei eine Liste der Namen, die in den Berichten der Sicherheitsdienste auftauchen, erstellt und veröffentlicht werden. Darüber wäre jeder Einzelne der 700000 Menschen, die unter die Lustration fallen, verpflichtet gewesen zu erklären, dass er (oder sie) nicht mit den Sicherheitsdiensten zusammengearbeitet hat. Wer sich geweigert oder eine falsche Erklärung abgegeben hätte, sollte seinen Arbeitsplatz verlieren und mit einem zehnjährigen Berufsverbot belegt werden. Das Ergebnis von all diesem war ein das Land durchdringendes Klima der Furcht. Der Krakauer Kardinal Dziwisz argumentierte, dass es keinen Platz für ?Vergeltung, Rache, Respektlosigkeit gegenüber der Würde des Menschen und rücksichtslose Anschuldigungen? geben dürfe. Noch nie seit dem Ende des Kommunismus hatte ein katholischer Kardinal derart deutliche Worte der Kritik geübt. Das Ziel der friedlichen Revolution waren Freiheit, Souveränität und wirtschaftliche Reformen, nicht die Jagd auf vermeintliche oder tatsächliche Agenten der Geheimpolizei. Hätte man 1990, als die demokratische Revolution begann, eine Jagd auf derartige Agenten organisiert, wären weder Leszek Balcerowiczs Wirtschaftsreformen noch die Errichtung eines Rechtsstaates möglich gewesen. Polen wäre weder in der Nato noch in der Europäischen Union. Es stehen sich heute zwei polnische Länder gegenüber: Ein Polen des Argwohns, der Furcht und der Rache liegt im Kampf mit einem Polen der Hoffnung, des Mutes und des Dialogs. Dieses zweite Polen ? das der Offenheit und Toleranz, das Polen Johannes Pauls II. und Czesaw Miosz?, meiner Freunde aus der Untergrundbewegung und aus dem Gefängnis ? muss den Sieg davontragen. Ich glaube daran, dass die Polen einmal mehr ihr Recht auf eine würdige Behandlung verteidigen werden. Es gibt Hoffnung, dass die zweite Phase der polnischen Revolution weder ihren Vater, den Willen zur Freiheit, noch ihr Kind, den demokratischen Staat, verzehren wird. Übersetzung: Jan Neumann Adam Michnik ist ehemaliges Führungsmitglied der Solidarnosc und Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza Lech und Jaroslaw Kaczynski sind wohl die berühmtesten polnischen Zwillinge ? der eine Präsident, der andere Ministerpräsident. Am 18.Juni 1949 in den Trümmern der fast komplett zerstörten Hauptstadt Warschau geboren, sind die Brüder mit den Folgen der deutschen Besatzung und der sowjetischen Hegemonie groß geworden. Politisch aktiv sind die beiden Juristen seit ihrer Studienzeit. Sie kämpften früh im Untergrund und gehörten zum ?Komitee zur Verteidigung der Arbeiter?, einer Akademikergruppe, aus der viele der Solidarnosc-Intellektuellen stammen. 1980 waren sie bei der Solidarnosc-Gründung in Danzig dabei. Dass nur Lech Kaczynski während des Kriegsrechts 1981 im Gefängnis saß, verdankt Jaroslaw dem Umstand, dass die Polizei einen weiteren Kaczynski mit gleichem Geburtsdatum für einen Tippfehler hielt. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft übernahmen sie hohe Positionen im Präsidialamt, überwarfen sich jedoch schnell mit Lech Walesa. Seit Sommer 2006 bilden sie die politische Doppelspitze Polens. Wie sein Bruder vertritt auch Jaroslaw ein rechtskonservativ katholisch-national geprägtes Weltbild und steht engeren Beziehungen zu Russland und Deutschland skeptisch gegenüber. Der Katzenliebhaber und Junggeselle lebt bei seiner Mutter. Lech hingegen ist verheiratet und Vater einer Tochter. Adam Michnik war ein führendes Mitglied der Solidarnosc. Seit 1989 ist er Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

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