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Gregor Hohenberg

Mehr als Oktoberfest - Die neue Heimat Lederhose

Die Lederhose macht ihren Träger zum Gleichen unter Gleichen. Sie vermittelt das Gefühl einer Heimat, die nicht einmal die eigene sein muss. Eine Spurensuche

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Bayrischzell im Leitzachtal. Am Fuß des Wendelsteins liegt es da, idyllisch eingerahmt von den oberbayerischen Alpen auf der einen und dem Schliersee auf der anderen Seite. Hier kommen sie her, die glücklichen Kühe, doppelrahmstufiger Alpenmilchkäse und das Klischee vom jodelnden Bayern. Und es soll am Pfingstsonntag gewesen sein, als der Dorfschulmeister Vogl hier im Jahr 1883 der Lederhose das Leben rettete.

Wie immer sitzt er mit seinen Stammtischfreunden im Wirtshaus gemütlich bei einem Krug Bier zusammen. Ein satter Geruch von Zigarrenrauch, Schweinebraten und Gerstensaft mag den Raum durchzogen haben. Es wird diskutiert, geschimpft und getrunken, als Joseph Vogl auf die hiesige Tracht zu sprechen kommt, die am Verschwinden sei. Nur noch ein Jäger trage sie – und selbst den sehe man höchst selten in seiner kurzen Hose durchs Gebirge laufen.

Die Lederhose vermittelt den Traum bayerischer Ursprünglichkeit

 

Vogl will der Tracht wieder zu ihrem Recht verhelfen. Eine Lederhose will er sich kaufen, wenn er nur nicht der Einzige wäre. Dann sein Heureka-Erlebnis: „Wisst’s wos? Gründ ma an Verein!“, ruft er aus. Und weil ein Bayer tut, was er sagt, lassen sich die wild entschlossenen Bayrischzeller beim nächstgelegenen Säckler in Miesbach neue Lederhosen schneidern und gründen den „Verein für Erhaltung der Volkstracht im Leitzachthale/Bayrischzell“. Es ist der erste eingetragene Trachtenverein der Welt. Und der Tag, an dem der wackere Lehrer Vogl das bayerische Nationalkostüm bewahrte.

Seither hat die Lederhose eine steile Karriere hingelegt. Sie ist fester Bestandteil des alpenländischen Lokalkolorits, und jedes gestandene Mannsbild schwört auf sie. Nicht nur, weil sie ihren Träger beinahe wie von selbst in einen kernigen Burschen verwandelt. Vielmehr geht es darum, was sie ihrem Träger vermittelt: den Traum bayerischer Ursprünglichkeit.

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Von Österreich über Tirol bis ins Allgäu gehört die Lederhose im Alpenvorland in jeden gut sortierten Kleiderschrank. Als Kluft der Bauern und Jäger entstammt sie der Gebirgstracht und erwies sich Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem als kniefreie „Kurze“ als praktisches Beinkleid, neben der festlicheren Kniebundhose in Anlehnung an die höfische Culotte. Der bayerische Königshof machte sie schließlich mit seinem königlichen Erlass zur „Hebung des Nationalgefühls“ von 1853 salonfähig. Prinzregent Luitpold, König Ludwig II, der österreichische Kaiser Franz Joseph I – sie alle schritten in Tracht zur Jagd. Und auch die Wittelsbacher zeigten sich in Lederhose und Lodenjanker, um – aufgeschreckt durch die Ereignisse der Französischen Revolution – Volksnähe zumindest zu suggerieren.

Salonfähige Tracht: Vom FC Bayern bis Hugo Boss


Heute treten die Spieler des FC Bayern nach gewonnenen Großturnieren einheitlich lederbehost auf den Balkon des Münchener Rathauses. SPD-Oberbürgermeister Christian Ude zapft das Münchener Oktoberfest gekonnt in Lederhose an, während die Lufthansa ihre Besatzung zur Wiesn-Zeit in voller Trachtenmontur in die Luft schickt. Und selbst ambitionierte Hersteller wie Hugo Boss, Strenesse oder Rena Lange gehen dann neben den Billiganbietern von C&A, Aldi oder Tschibo zur Saison mit Lederhosenentwürfen ins Rennen.

Das Bekenntnis zur Tracht macht ihre Träger zu Gleichen unter Gleichen. Es ist das Gefühl von Zugehörigkeit, zu einer Gemeinschaft, einer Region, einer Philosophie – zu einer Heimat, die nicht einmal unbedingt die eigene sein muss.

„Nicht jeder hat das Glück, am Alpenrand geboren zu sein“, sagt Stefan Baumgartner. Auf seinem Kopf ein grüner, breitkrempiger Velourshut, die graue Strickjoppe leger über die breiten Schultern gelegt, zieht er einen seiner grauen Kniestrümpfe mit dem markanten grünen Umschlag zurecht. Er trägt die Tracht des Heimat- und Volkstrachten-Erhaltungsvereins Miesbach, dessen erster Vorstand er ist, und er begrüßt den aktuellen Trachtentrend.

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Vor 30 Jahren erstand Baumgartner seine erste Lederhose, seither ist er Vereinsmitglied und nimmt die Pflege seiner bayerischen Tradition und damit der Lederhose als regionalem Kulturgut sehr ernst. Laut lachen muss er allerdings, wenn er von der Lederhosenlegende aus Bayrischzell hört. „Es ist doch völlig unerheblich, wer sie zuerst hatte“, meint Baumgartner. Natürlich wüsste jeder gerne die bayerische Urhose in seinem Schrank. Doch am Ende bliebe auch sie nur „ein Stück Kleidung“.

Nun ja, nicht ganz.

Der Identitätswunsch spiegelt sich in der Lederhosenbegeisterung


Derweil versucht nämlich Wolfgang Gensberger den heiligsten aller Hosenbeinen so nahe wie möglich zu kommen. In Holzhausen im Landkreis Landshut entsteht derzeit sein Trachtenkulturmuseum. Verteilt auf den 420 Quadratmetern eines alten Pfarrhofs, ein Depot und zwei separate Archivgebäude lagern mehr als 80.000 Exponate bayerischer Kulturgeschichte, die Gensberger in jahrelanger Kleinarbeit mühsam zusammengetragen hat. Neben altertümlichen Fahnen, Vereins- und Funktionsabzeichen, Chroniken und Liedblättern tummeln sich natürlich auch historische Trachten. Sein ältestes Stück, eine Hose mit gestandenen 175 Jahren auf dem brüchigen Leder. „Ob das die Urlederhose ist, kann ich aber wirklich nicht sagen“, sagt er.

In Zeiten globaler Vernetzung, wenn Flexibilität und Unsicherheit anwachsen, kommt gerade Werten wie Heimat und Tradition eine besondere Bedeutung zu. Das beobachtet auch Simone Egger vom Institut für Volkskunde und Europäische Ethnologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, die sich mit dem „Phänomen Wiesntracht“ beschäftigt hat. „Der aufkeimende Trend, der sich in der aktuellen Lederhosenbegeisterung spiegelt, ist der Wunsch der mobilen Gesellschaft nach Identität“, sagt die Kulturwissenschaftlerin.

Nach dem Trachten-Boom bis zu den zwanziger Jahren und ihrer Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten als wirkmächtiges Sinnbild deutscher Folklore galt die Lederhose noch bis in die fünfziger Jahre als patent. Besonders von Müttern wurde sie aufgrund ihrer robusten Natur geschätzt. Als die Jeans dann Anfang der Siebziger in Mode kam, wurde die Lederhose plötzlich als rückständig abgestempelt. Franz Josef Strauß sah man im Wahlkampf 1980 in den Zeitungen nur noch als Karikatur in Lederhose, während Kanzler Helmut Schmidt im dunklen Zweireiher auf die Wiesn marschierte.

Die Emanzipation von Wald- und Wiesenromantik


Den Grund für das Trachten-Comeback in den neunziger Jahren und ihre Popularität bis heute sieht Egger in einer Art frischem Provinzialismus. Bundespräsident Roman Herzog gab ihm mit seiner Idee von „Lederhose und Laptop“ eine klingende Formel, die die CSU seither nur mantrisch abnicken kann. Tradition und Vorwärtsgewandtheit schließen sich nicht mehr aus, soll das heißen.

Entsprechend unvoreingenommen, geradezu spielerisch wagt man sich heute auch an die bayerische Tracht. Stefan Dettl, Frontmann der modernen (!) Blaskapelle La Brass Banda absolviert seine Auftritte vornehmlich in Lederhose, dafür aber barfuß und mit Kapuzenpullover anstelle von Haferlschuhen und Pfoad-Hemd. Immer häufiger sieht man auch abseits der Wiesn wagemutige Kombinationen mit Polohemd und Turnschuhen. Das lederne Beinkleid emanzipiert sich zusehends von seiner Wald- und Wiesenromantik und ist nach Eggers Meinung wieder im Begriff, das zu werden, was es einmal war: fester Bestandteil der Männergarderobe.

Nicht jeder hat allerdings etwas übrig für diese Form des modischen Samplings. „Verfälschten Kitsch“ nennt Friederike Heil das. Kompromisse kennt sie bei der traditionellen Tracht kaum. „Zur Lederhose gehören Hosenträger, Haferlschuh’ und Kniestrümpfe oder Loferl-Stutzen“, sagt Heil. Und sie muss es wissen.

[gallery:20 Gründe, zum Spießer zu werden]

Bedächtig zieht sie Garn aus reiner Säcklerseide an einer dicken Nadel über ein Stück Bienenwachs. Das Wachs lässt das Garn leichter durch das Leder gleiten, das auf ihrem Schoß liegt, und schützt es später vor dem Ausfransen. Seit 1972 leitet die gelernte Säcklermeisterin das Lederbekleidungsgeschäft Lichtenauer und Heil in Hausham am Schliersee. Hier gibt es die Lederhose noch in Reinform, von den Kunden vor allem wegen der charakteristischen Reliefstepperei und Blattstickerei geschätzt, die in ihrem kleinen Familienbetrieb in Perfektion auf das Leder gestochen wird. Die verschnörkelten Blumen- und Blattwerkmuster hat sie vorher freihändig und ohne Vorlage aufgezeichnet. Hunderte Male gleitet die Nadel dann zwischen ihren Fingern hin und her, bis sich die Eichenblätter, der Efeu oder das Rebenlaub reliefartig aus dem Leder erheben.

Bis zu 60 Stunden kann es dauern, bis ein Stück fertig ist


Zwischen 900 und 1000 Euro kosten die handbestickten Maßanfertigungen, jede davon ein Unikat. 25 bis 60 Stunden kann es dauern, bis ein Stück fertig ist, je nachdem, wie aufwendig die Verzierungen an Hosenbeinen, Hosenträgern und dem „Hosentürl“, dem breiten Hosenlatz, gewünscht werden. Wie die meisten Traditionalisten verwendet auch Heil vor allem sämisch gegerbtes Hirschleder aus Neuseeland. Aber auch das heimische Leder von frei lebenden Hirschen wird aufgrund seines rustikalen Looks immer beliebter. „An den richtigen Stellen muss es glänzen, an anderen Stellen dunkler werden“, sagt Heil. Gelebt und verwegen soll die Lederhose aussehen, aber nicht speckig (auch wenn sie dann beim Schuhplattln besonders schön kracht).

Eine neue Faszination für den Look mit Patina – das kennt auch Uwe Vogt. Er ist Verkaufsleiter beim Traditionshaus Meindl in Kirchanschöring, das seit 1683 in der elften Generation erfolgreich in Leder und Loden macht. Ganz klar gehe der Trend zum Natürlichen, erklärt Vogt, bei dem auch Kratzer und Spuren auf dem Leder zu sehen sein dürfen. Immer häufiger brächten junge Leute auch die Hosen ihrer Väter oder Großväter, um sie anpassen zu lassen.

Discount-Lederhosen aus Sri Lanka und Pakistan


Schätzungsweise 17.000 Lederhosen wird Meindl im Jahr 2013 verkaufen, 10 Prozent mehr als im Vorjahr. Seit acht Jahren steigen die Verkaufszahlen stetig. Vielleicht auch deshalb, weil das Traditionsunternehmen am Waginger See nicht nur die bis zu 2500 Euro teure original Hirschlederne im Programm hat. Meindl reagiert auf die starke Nachfrage und bietet auch günstigere „Einsteigermodelle“ aus Ziege oder Rind an, ab 400 Euro.

Die industrielle Massenfertigung mit Discount-Angeboten für 179 Euro aus Indien, Pakistan oder Sri Lanka kommt ihm dabei nur bedingt in die Quere. „Die echte Tracht wird dadurch sicher verfälscht“, meint Vogt, „doch andererseits hätte unsere Branche nie diesen Aufschwung erlebt, wenn wir nur traditionelle Lederhosen anbieten würden.“ Und mittlerweile lassen sich überzeugte Träger eine Hose auch gerne etwas kosten.

Denn die Lederhose ist wertstabil. Auch wenn sie immer wieder zur Klischeebildung herhalten muss, sie ist keine Eintagsfliege, keine Modeerscheinung oder dem Zeitgeist unterworfen. Sie ist beliebt und gemeinhin akzeptiert, von archaischer Qualität, ein bisschen wie der schottische Kilt – nur eben langlebiger.

Lederhose statt Urinprobe beim Doktor


Das mit der Langlebigkeit ist dann noch so eine Sache, denn die Lederhose lebt sprichwörtlich am Körper mit. Sie reinige sich beim Tragen, heißt es im Volksmund. Großmütter hingen sie früher in den kalten Schnee, damit der Frost das erledige, was durch das Ausklopfen nicht von alleine verschwinden wollte. Der Scherz, bei welchem anstatt der vom Doktor verlangten Blut-, Urin- und Stuhlprobe einfach eine Lederhose eingereicht wird, kommt ebenfalls nicht von ungefähr. Und dennoch verzichtet kein echter Trachtler auf die vielen Spuren, die sich als einzigartige Familienchronik über die Generationen ins Leder gezeichnet haben.

Sie ist eben ein Original, die Lederhose. Den Bayern mag der Ruf nachhängen, konservativ zu sein. Wahr ist jedenfalls, dass sie ihre Errungenschaften nicht einfach über Bord werfen. Erst recht nicht, wenn sie in die Jahre gekommen sind. 

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