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„Unsere Esskultur ist ein Skandal“

Ferran Adrià gilt als Rebell der Haute Cuisine. Seine dekonstruktivistische Küche wird als Ereignis gefeiert und als Kunst gerühmt. Doch der spanische Spitzenkoch schlägt jetzt Alarm. Und fordert eine Bildungsoffensive für mehr Kochkompetenz

Er ist Künstler, Designer, Chemiker – und, ja, auch Koch. In seinem Restaurant El Bulli an der Costa Brava zelebriert er das Hochamt einer virtuos gesteigerten artifiziellen Küche, die alles hinter sich lässt, was gemeinhin in Topf und Pfanne möglich schien. Ferran ­Adrià serviert Austernjoghurt, Olivenbonbons und Schinkenkrokant, kredenzt heiße Suppe in einem Eisschälchen aus Fantagelatine und lässt seine Gäste das Hummerkonzentrat mit einer Pipette in den Mund spritzen. Ein Schelm, wer darin eine Provokation entdeckt: „Wenn es mir um Provokation ginge, würde ich mich einfach nackt ins Restaurant stellen“, wiegelt er düpierte Kritiker ab. Bis zu 800000 Anfragen pro Saison gehen bei ihm ein, gerade mal 8000 Gäste ergattern jährlich einen Platz und kommen in den Genuss eines 30-Gänge-Menüs, das einer Expedition in unbekannte Zonen des Geschmacks gleichkommt und selbst Fans an Grenzen gelangen lässt: „Die magischen Gerichte sind jene, die die einen ekelhaft finden und die anderen fantastisch“, sagt Ferran Adrià selbstbewusst. Sein Konzept der molekularen Küche, in der Konsistenzen und Texturen bis zur Unkenntlichkeit verändert werden, in der mit flüssigem Stickstoff bei minus 183 Grad Celsius gegart und mit Tabakblättersud und Holzkohle gewürzt wird, hat das Kochen neu definiert – als eine Kunst, die nur beiläufig den Tatbestand der Nahrungsmittelaufnahme erfüllt. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Ferran Adrià sich nun mit einem ganz anderen Thema auseinandersetzt: mit dem Verfall der tradierten Esskultur, mit der zunehmenden Denaturierung von Lebensmitteln, mit der Macht von globalen Nahrungsmittelkonzernen, die die Artenvielfalt dezimieren und den Markt mit Convenienceprodukten überschwemmen. Der Ausnahmekoch, der als Tellerwäscher begann und während seiner Militärzeit als Smutje der spanischen Flottenadmiralität arbeitete, ist empört: „Zum ersten Mal erleben wir in Europa eine Phase ohne Hunger, einen historischen Wendepunkt im Verhältnis von Kochen und Gesellschaft. Essen und Kochen ist keine Überlebensfrage mehr – doch gleichzeitig ereignet sich ein Skandal: die völlige Entwertung der Ernährung!“ Der Siegeszug von Fast Food und Fertiggerichten ist für ihn nicht nur ein kulinarisches Sakrileg, vor allem markiere es einen kulturellen Niedergang und eine ernsthafte gesundheitliche Bedrohung. „Viele Kinder haben noch nie frisches Obst gegessen. Und die meisten Menschen wissen nicht einmal, wie sie sich zum Frühstück eine Orange auspressen sollen“, ereifert er sich: „Essen ernährt auch die Seele, nicht nur den Körper. Gut kochen und gemeinsam genießen ist ein integrativer Bestandteil der Gesellschaft.“ Sätze, die er im Februar während der Berliner Filmfestspiele verkündete, anlässlich einer Veranstaltung des „Kulinarischen Kinos“, für die er eigens in die deutsche Hauptstadt gereist war – ein starkes Statement, denn nicht einmal zur documenta, die ihn als Ausnahmekünstler hatte präsentieren wollen, war er 2007 persönlich erschienen. Jetzt aber hatte er sich auf den Weg gemacht, um im Instituto Cervantes bei Pata Negra und spanischem Wein seinem Ärger Luft zu machen. An seiner Seite: Carlo Petrini, der Präsident von Slow Food, einer internationalen Non-Profit-Organisiation, die sich für artgerecht erzeugte Nahrungsmittel und regionale Vertriebsstrukturen starkmacht und gegen genmanipulierte und industriell erzeugte Nahrung kämpft. Gegründet wurde der Verein 1996 in Italien, als in Rom eine McDonald’s-Filiale direkt neben der Spanischen Treppe eröffnete – damals verteilten römische Köche auf der Straße Spaghetti, eine sinnliche Protestaktion. Der Schulterschluss von Haute Cuisine und ökologisch grundierter Lobbyarbeit für nachhaltige Landwirtschaft und entschleunigte Kochkultur ist neu – und Adrià hat prominente Mitstreiter wie den Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann, wie Vincent Klink, Michael Hoffmann und Kolja Kleeberg, allesamt experimentierfreudige Spitzenköche, die gastronomisch nachweislich in einem besternten Universum jenseits von Sojabratlingen und Buchweizenfladen unterwegs sind. Ferran Adriàs Appell richtet sich besonders an die Politiker: „Das Wichtigste ist, dass wir den Kindern eine Kochkompetenz mitgeben. Wenn wir Kindern nicht mehr erklären können, wie man kocht, dann ist die Gesellschaft in Gefahr. Die meisten Krankheiten basieren heute auf Fehlernährung und Übergewicht. Trotzdem ist Kochen kein Schulfach – leider. Eine Regierung, die den Schülern nicht mindestens eine Stunde Kochen und Esskultur pro Woche ermöglicht, versäumt eine wichtige Pflicht. Wir brauchen mehr Wissen, mehr Bildung!“ Und die TV-Kochshows, die täglich ein Millionenpublikum haben? Adrià zuckt mit den Schultern: „Nichts als Entertainment.“ Eckart Witzigmann pflichtet ihm bei: „Das ist wie Pornografie. Die Leute sehen nur zu, während sie vor dem Fernseher eine Fertigpizza verschlingen.“ Es scheint ganz so, als habe die Spitzengastronomie ihre gesellschaftliche Verantwortung entdeckt. Der smarte britische Publikumsliebling Jamie Oliver startete im vergangenen Jahr eine Aktion für besseres Schulessen – frischer, leichter, gesünder müsse die Ernährung der Kinder sein. Nun sind die Politiker am Zug. Ob sie die Botschaft vernehmen, ist ungewiss. Viele zeichneten sich bislang eher durch die Liebe zu Currywurst und schwere Hausmannskost aus. Christine Eichel leitet das Cicero-Ressort Salon. 2004 erschien ihr Roman „Im Netz“ (Hoffmann&Campe), im Frühjahr 2007 erschien „Die Liebespflicht“ (Pendo Verlag) (Foto: Picture Alliance)

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