
- Endlich forschen, statt Forschung zu versprechen
In einem Gastbeitrag fordert Christoph Ploß die deutschen Geisteswissenschaftler auf, ihren Elfenbeinturm zu verlassen. Michael Sommer zeigt, warum der Ruf nach Teilnahme am Diskurs teilweise dem Prinzip der Wissenschaft widerspricht. Eine Replik.
„Der Mut zum pointierten Urteil eines Hans-Peter Schwarz oder eines Hans-Ulrich Wehler fehlt heute in den Humanwissenschaften“, beklagt Christoph Ploß, promovierter Historiker und Hamburger CDU-Chef, bei Cicero. Die beiden Historiker waren einst das konservative (Schwarz), respektive linke (Wehler) Schlachtross ihrer Zunft, meinungsstark und omnipräsent in den Debattenräumen der alten, der Bonner Republik.
Heute hingegen, meint Ploß, fehlt es den Geisteswissenschaften an „Kraft und Mut“. Man ziehe sich verzagt in die Komfortzone des Elfenbeinturms zurück, dahin, wo man sich notorisch schwertue, der Gesellschaft dringend benötigtes „Orientierungswissen“ zu liefern. Ist also der Geisteswissenschaftler als Public Intellectual eine aussterbende Spezies? Und wenn ja, warum eigentlich?
Der Geist der deutschen Wissenschaft
Ploß nennt zwei Gründe, warum Geisteswissenschaftler heute dazu neigen, sich aus öffentlichen Debatten herauszuhalten. Eine Rolle spiele die Angst davor, am medialen Pranger zu stehen, sobald man mit der eigenen Erkenntnis den sicheren Boden dessen verlässt, was sich wie der Mainstream anfühlt. Den Kern des Problems aber sieht Ploß in der inneren Logik des Wissenschaftssystems: Dort nämlich gelte es nichts, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Oben in der Prestigepyramide des Kosmos Hochschule stünden die Drittmittelkönige, jene Professoren also, die mit ihren mit Milliarden geförderten Projekten inzwischen wesentlich zum Budget jeder deutschen Universität beitragen.
Ploß diagnostiziert scharfsinnig, wo das Problem eines Systems liegt, in dem Drittmittel zum fast alleinigen Gradmesser von Reputation geworden sind: Anstatt zu forschen, versprechen Wissenschaftler Forschung. Anstatt sich mitzuteilen, schreiben sie Antrag auf Antrag, um Zielvereinbarungen zu erfüllen und Stellen für ihren Nachwuchs einzuheimsen. Und anstatt das Risiko einzugehen, mit ihrer Forschung Neuland zu beschreiten, gehen sie auf Nummer sicher und bewegen sich im Rahmen des so Erwartbaren wie Mittelmäßigen.
Hier – und weniger in der im Vergleich zu Oxbridge und zur Ivy League eher kümmerlichen finanziellen Ausstattung hiesiger Hochschulen – liegt tatsächlich ein wesentlicher Grund dafür, dass die deutsche Wissenschaft den Platz auf dem Siegertreppchen längst an die Angelsachsen hat abgeben müssen. Und das gilt natürlich keineswegs exklusiv für die Geisteswissenschaften. Die Malaise ist politisch gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen.
Geld und Forschung
Denn die für die Hochschulen verantwortlichen Länder sind finanziell so klamm, dass sie sich in ihrer Mehrheit Wissenschaft eigentlich gar nicht leisten können. Da aber dem Bund wegen des grundgesetzlich verankerten Kooperationsverbots im Prinzip jegliche Einflussnahme auf Forschung und Wissenschaft untersagt ist, müssen sich alle Beteiligten eines Umwegs bedienen, um doch Bundesmittel in die Universitäten fließen zu lassen.
Der führt über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die mit ihrem Etat von über drei Milliarden Euro projektbezogen den klammen Hochschulen unter die Arme greift. Ein weiterer Grund liegt in den Universitäten selbst. Deren Leitungen haben sich nämlich mit Haut und Haar der Doktrin des New Public Management verschrieben. Sie glauben tatsächlich, man könne mit aus der Privatwirtschaft entlehnten Führungstechniken sicherstellen, dass die Hochschulen ihrem Zweck gerecht werden: gute Wissenschaft zu produzieren.
Sie haben so die von Max Weber bereits 1917 in „Wissenschaft als Beruf“ vorweggeahnte Umformung der Universitäten in Wissenschaftsbetriebe vollendet. Zum New Public Mangement gehört die Leistungsorientierung. Doch wie will man Leistung in der Wissenschaft messen? Gibt es gute, sehr gute, ja womöglich exzellente Erkenntnis? Für die Hochschulleitungen schon: Sie ziehen für die Bewertung einfach die Drittmittelsalden ihrer Professoren heran, fertig ist der Leistungsmaßstab.
Interdisziplinäre Geldverschwendung
Was bizarr klingt, hat Methode. Am meisten Drittmittel ziehen Wissenschaftler an Land, wenn sie sich zusammentun und „Verbundforschung“ betreiben. DFG-finanzierte Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereiche stoßen hekatombenweise Doktoren aus, die nur noch interdisziplinäres Arbeiten kennen, aber ins Schwitzen kommen, sobald man sie nach den Methoden ihres Faches fragt.
Was in den Natur- und Technikwissenschaften angehen mag, ist in den Geisteswissenschaften oft, nicht immer, Geldverschwendung für Fortgeschrittene. Es soll Graduiertenkollegs geben, die es nach dem Bewilligungszeitraum von viereinhalb Jahren nicht vermocht haben, sich auf die Definition ihrer Schlüsselbegriffe zu einigen. Nicht wenige dieser Verbundforschungsprojekte verkaufen durch diverse „Turns“ gefilterten alten Wein im neuen Schlauch einer wohlklingenden postmodernen Terminologie.
Kommunizierende Wissenschaftler
Dass aus solchen Veranstaltungen wenig für gesellschaftliche Großdebatten Relevantes nach außen dringt, ist nicht fürchterlich überraschend. In der Politik reift offenbar die Erkenntnis, dass man Steuergelder auch smarter verwenden kann. Angesichts des maßgeblich selbstverursachten Scherbenhaufens und des vielstimmigen Schweigens der Wissenschaftslämmer lässt es aufhorchen, wenn das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im November 2019 mit einem Grundsatzpapier zur Wissenschaftskommunikation an die Öffentlichkeit geht, das die Verantwortung „der“ Wissenschaft anmahnt, mit der Gesellschaft „den Dialog zu suchen“ und „Debatten zu versachlichen“.
In schönstem Ministerialsprech heißt es dort, „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ müssten sich „in den öffentlichen Diskurs einbringen“, nötig sei ein „Kulturwandel hin zu einer kommunizierenden Wissenschaft“. Im BMBF hat man auch gleich ein Rezept dafür, wie das gelingen kann: Man müsse die „Reputationslogiken“ überdenken, selbstverständlich „unter Wahrung der wissenschaftlichen Exzellenz“. Heißt im Klartext: Die Hochschulleitungen bekommen ein neues Instrument an die Hand, um die Leistung ihrer Professoren zu messen. Gut ist jetzt, wer im Rampenlicht steht.
Keine neue Forderung
Die besonders Wendigen der Zunft werden jetzt schon nach Mitteln und Wegen suchen, um ihre Performance entsprechend zu optimieren. Fast wortgleich wie das BMBF-Papier liest sich die Kur, die Ploß der Wissenschaft verordnen will: „Anreize“ müssten her, damit Wissenschaftler sich „in die Debatte einbringen“. Es wäre freilich unredlich, ihm zu unterstellen, er blase lediglich ins Horn des Ministeriums.
Ploß mahnt Freiräume für unkonventionelles Denken an und – man höre und staune! – die Umleitung von Geldern in die Grundausstattung der Hochschulen. Das ist seit Jahr und Tag auch eine Forderung, die von den Fakultätentagen erhoben wird. Lasst uns endlich wieder forschen, anstatt immer nur Forschung zu versprechen! Dass Forschung immer und vor allem auch Grundlagenforschung ist, die weder unmittelbare gesellschaftliche Relevanz noch wirtschaftliche Verwertbarkeit besitzt, sollte sich von selbst verstehen.
Das wusste schließlich schon Lev Tolstoj, den Max Weber mit den Worten zitiert: „Sie [die Wissenschaft] ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.“