Bücher des Monats - Wir treffen uns, wo wir uns verloren haben

Wie es Irina Liebmann gelingt, ein kleines Wunderwerk deutsch-jüdischer Gedächtniskultur und einen phantastischen Roman zu schreiben

Eines Tages ist es plötzlich so weit. Da sitzt der erwachsene Sohn in der Küche, will nicht mehr essen, nicht mehr reden. Nur eines sagt er noch, während er die Kümmelkrümel vom Brotlaib kratzt: «Du bist nicht meine Mutter!» Eines anderen Tags schellt es an der Tür, davor steht der Mann, mit dem die Frau einmal verheiratet war, und in all seinem Gestammel wird nur ein Satz deutlich: «Du bist die Falsche!» Später werden im Haus die Woh­nungen geräumt, die Bewohner verschwinden, das Un­terste kehren die Renovierungstrupps zuoberst, und die Frau, die jahrzehntelang dort gelebt hat, weiß: «Es ging um das Letzte, was sie besaß: den Ort.» Damit wäre alles vorbei – Ende eines Krisen­romans, Roman-Business as Usual.

Irina Liebmann würde so etwas nicht einfallen. Obwohl ihr in ihrem neuen Roman «Die freien Frauen» jede einzelne dieser Ich-Beraubungen tatsächlich eingefallen ist (und noch ganz andere, schwerer wiegende dazu) – aber sie bil­den gerade mal den Aus­gangs­­punkt ihrer Geschich­te. Irina Liebmann nämlich hat einfach kein Talent zum Mainstream. Das zeigten schon ihre früheren Bücher: die Recherche über ein «Berliner Miets­­haus» im Ost-Berlin der achtziger Jahre und der Roman «In Berlin» – ungewöhnliche, aufregende Bücher. Doch erst jetzt scheint sie endgültig in der Litera­tur angekommen: Voilà, ein Roman!


«Unsere Geschichte ist zu Ende»

Denn da sind sie zwar alle noch, die früheren Motive: der Ost-Bezirk, das verfallende Gründerzeit-Haus, die weiland Ausgereisten im Hin und Her zwischen einem mittlerweile vertrauten Westen und dem in permanenter Renovierung be­findlichen Osten. Ein paar von früher bekannte Figuren gibt es auch. Doch kommen jetzt die Krisen von innen. Was von außen auf das lädierte, zerfasernde Ich andringt, spiegelt ihm vor allem die innere Wirrnis zurück.

Eine Frau sitzt am Fenster, es ist Winter. Sie blickt hinaus auf den S-Bahnhof, über den dickflockiger Schnee fällt. Aus der Küche das grässliche Geräusch der Kümmelkörner, die der Sohn vom Brot kratzt. Ein Mann, den die Frau zu kennen meint, hält vor dem Bahnhof inne, scheint zu ihrem Fenster hinaufzusehen, verschwin­det wieder. Und nicht weit von hier liegt der hundertjährige Vater der Elisabeth Schlosser im Krankenhaus; er lebt fast nicht mehr, stirbt aber ebenso wenig, registriert alles, stumm.

Die Frau schreibt. Sie korrespondiert mit einer Romanfigur, der einzigen Person, die «versteht, was ich erzählen will»: eine Geschichte von Liebe und Tod, eine Geschich­te vom Vermissen. Noch weiß sie nicht, wo­rauf sie sich einlässt, und was sie wirklich vermisst, ahnt sie am allerwenigsten. Doch sie wird es herausfinden: schreibend, fliehend, reisend, sprechend, tobend, weinend, suchend, deutend. Und immer weitersuchend, von Träumen, Ahnungen und Vi­sio­nen umgetrieben. Bis sie im tiefsten Entfrem­dungsschrecken unvermutet die Lösung erkennt und alle Fäden sich – zum ersten Mal in ihrem Leben – verknüpfen.

Das tut der Roman für sie, das tut Irina Liebmann mit ihrer Figur. Und wie sie das macht, das ist schlichtweg atemberaubend. Denn beherzt schickt sie Elisabeth Schlosser in die Welt: zur weiland ebenfalls aus der DDR in den Westen gegangenen Freundin Rosie, die ein gepflegtes Leben in der Nähe des Kurfürstendamms führt. Zu anderen Müttern, die in ihrer Familien-Verzweiflung schon auf dem Fensterbrett gestanden haben, bereit zum Sprung. In ihr altes Ostberliner Café, das immer noch von derselben Wirtin bewirtschaftet wird und in dem ein «Frauentag» wie zur gutenbösen­alten DDR-Zeit stattfindet, bei dem über Kaffee und Sekt wie selbstverständlich der Antisemitismus als deutsche Alltagskonstante auftrumpft.

Eine Hypnose-Sitzung absolviert die verwirrte Heldin und erkennt dabei, in ihrem Leben «fehl am Platze» und eigentlich anders­wo beheimatet zu sein. Was sie auf eine Reise nach Kattowitz und Gleiwitz leitet: aus Gleiwitz stammt der Vater, in Kattowitz war sie einst mit Mann und Kind, im schönen, vergessenen «Café Evropa». So nehmen die lose schleifenden Lebensfäden der Elisa­beth Schlosser allmählich zueinander Kontakt auf. Und der vermeintlich feste Boden der äußerlich so gut, neu und schön gewor­de­nen Gegenwart wird löchrig. Fühlbar und vernehmlich beginnt darunter die Vorgeschich­te zu rumoren im Leben der Dramatikerin Schlosser, die früher einmal die «Königsdramen» ihrer Zeit hatte schreiben wollen.

«Unsere Geschichte ist zu Ende», hat sie ihrem ungebeten im Wohnzimmersessel kampierenden Ex-Ehemann auf den Kopf zugesagt. Sich selbst muss sie den Satz wie­derholen, als sie sich als letzte verbliebene Bewohnerin ihres Hauses wiederfindet. Und doch ist ja alles noch weit schlimmer: Elisa­beth Schlossers eigene Geschichte scheint an ihr Ende gekommen.


«Warum haben sie mir nichts gesagt?»

Dass dieser Roman einen nicht loslässt, hat mit seinen so überraschenden wie entschie­denen Suchbewegungen zu tun, aber ebenso mit der zwischen unterschiedlichen Stilen und Perspektiven rasant springenden Erzählweise. Wie oft haben wir nicht vom Er­innern, Vergessen und Verdrängen gelesen – und wie oft nicht dabei gedacht, dass wir das alles eigentlich doch längst wissen? Was aber wussten wir vom Schweigen der Opfer, das mit demjenigen der Täter sich der­art verkantet, vernetzt und verhakt hat, dass am Ende für alle nur noch die plane Gegenwart bleibt? Auf deren Boden die Täter-Kinder, aufgeklärt und erwachsen, selbst­gewisse Sätze sagen wie «Gehört denen der Bürgersteig eigentlich auch?», wenn der Geh­weg vor der Synagoge aus Sicherheitsgründen gesperrt werden muss. Die, wenn Elisa­beth Schlosser unter altvertrauten Freundinnen der Verwirrung über ihren Vater, den «Juden und Kommunisten», Luft macht, in spontan einhelliger Abwehr rufen: «Das Judenschicksal konnte ja nun nicht für alles herhalten!»

Dass der Verdrängungswucht der Täter eine ebenso massive Stummheit auf Seiten ihrer Opfer entspricht – Elisabeth Schlos­ser, die nicht mehr weiß, wer sie ist, muss es erst entdecken. Und findet in besessener Spurensuche heraus, dass ihr Vater – vormals ein hofierter, dann verfem­ter Journalist – einst in Gleiwitz und Kattowitz ein Vorleben als «Spion gegen Hitler» führte, zusammen mit seiner Geliebten Gerda. Die in Plötzensee hingerichtet wurde, während der Vater in Moskau seine schöne sibirische Frau kennen lernte, mit der und dem Kind er 1945 nach Deutschland zurückkehrte. «Warum haben sie mir nichts gesagt», fragt sich die Tochter, «von Gerda und all den anderen Menschen, die ihnen einmal wichtig waren? – Es war die Erschöpfung.»


Verschwiegen, nicht verschwunden

Eine Leidens-Erschöpfung, die auf die Tochter übergreift. «Alle tot», hatte sie als Schulkind noch unbeschwert auf die Frage geant­wortet, wo ihre Verwandten denn seien. Eine Antwort, die im Ostberlin der fünfziger Jahre duchaus nichts Ungewöhnliches hatte: «Wenn alle neu waren, dann hatten alle den Tod zu erzählen, jeder eben anders.» Erst ein halbes Jahrhundert danach stellt sich Elisabeth Schlosser ihrer eigenen Überlebensaufgabe: die Selbstverständlichkeit der allgemeinen Tode zu hintergehen, die Vermischung von Tätern und Opfern im «Alle tot» aufzulösen.

Angesichts dieses Stoffs werden deutsche Leser unvermeidlich ein schwerblütiges, tief gründelndes, so grambeladenes wie gedankenschweres Werk erwarten – ganze Bibliotheken voller Gedächtnis- und Gedenk­literatur wollen ja erst einmal verarbeitet werden! Wer darauf aus ist, sollte sich von Irina Liebmanns «Freien Frauen» lieber fern halten. Denn dieses Buch hebt Bibliotheksbestände auf, scheinbar leichthändig, oft sogar mitreißend komisch. Und was für einem Genre es selbst angehört, ist schwer zu sagen: Ist es ein Brief-, ein Recherche-Roman? Ein historischer oder Gegenwartsroman? Sentimentalisch? Vergrübelt? Komödiantisch? Selbstironisch? Eine Reise-, Kriminal-, Spionage- oder gar eine Schauer-Geschichte, in der die Gespenster, wie immer schon, aus dem Keller wallen? Ja, wer das wüsste! (Und wer auch wüsste, wie egal das hier ist!)

«Wo sind sie alle hin, die nicht in Frieden Verstorbenen, die Ermordeten und die Erschlagenen, von denen man uns so viele verschwiegen hat. Glauben Sie, die verschwinden so einfach?» fragt Elisabeth Schlos­ser ihre fiktive Briefpartnerin, und weiß doch selbst, dass dem nicht so ist: Verdrängt, spuken die Toten im Unbewussten der Nach­geborenen. Da muss die Geschichte derer, die nicht mehr sprechen können oder wollen, überhaupt erst entziffert, müssen sie selbst zuallererst identifiziert werden. So gelangt Elisabeth Schlosser schließlich an die Seite derer, denen sie, die deutsch-russische Jüdin mit bolschewistischem Eltern-Hintergrund, sich wirklich zugehörig fühlt: zu den Verschwiegenen. «Du weißt, wo wir uns treffen, wenn wir uns verlieren?» pflegte der Vater seine kleine Tochter zu fragen. Die wuss­te, wo: dort, wo sie zuletzt zusammengewesen waren.

Dieser historische Ort liegt heute fern­­­ab, vergraben in der Geschichte, weit weg in Polen und den gewesenen sozialistischen Reichen. Was sie dort entdeckt und aufgestöbert hat, versetzt Elisabeth Schlosser in Schrecken und Bewunderung gleichermaßen. Das Bild, das sich allmählich vervollständigt, wird zu ihrem ganz persönlichen «Königsdrama».

Wesentliches allerdings bleibt auch so ungesichert, die Rekonstruktionsaufgabe ist letztlich unlösbar. «Ich kann es nicht wissen», schreibt Elisabeth Schlosser an die fik­tive Sonja, «niemand mehr kann es wissen, es lässt sich hier gar nichts bewei­sen, aber ich sage Ihnen, wie es gewesen ist.» Und wir, privilegiert durch Irina Liebmanns phantastische Fabulier- und Vergegenwärti­gungs-Lust, wissen es nun auch: durch ein klei­nes Wunderwerk quickleben­diger deutsch-jüdi­scher Erinnerungskultur, Gegen-Stück zum gepflegten Gedenken. Durch einen phantastischen Roman.

 

Irina Liebmann
Die freien Frauen. Roman
Berlin Verlag, Berlin 2004. 211 S., 18 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.