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(picture alliance) Durs Grünbein

Durs Grünbein - "Wir lesen uns gegenseitig vor"

Er gehört zu den wichtigsten Intellektuellen der Republik. Büchner-Preisträger Durs Grünbein empfing Cicero zum Bibliotheksbesuch – zusammen mit seiner Frau Eva Sichelschmidt.

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Ein Bibliotheksporträt? Durs Grünbein hatte lange gezögert. Und dann ein Doppelporträt vorgeschlagen, das Bildnis des Künstlers mit seiner Frau. Eine ungewöhnliche Idee, zugegeben. „Eine glückliche Ehe steht in der Hochkultur eben unter Harmonieverdacht“, sagt der Lyriker, Essayist und Übersetzer mit einem Anflug von Mokanz. Das Klischee des einsamen Poeten, der der Welt entrückt ist und in klösterlicher Einsamkeit lebt, kennt er nur zu gut. „Sicher, als Schriftsteller eine Familie mit Kindern zu haben, ist schwierig. Anfangs war es ein Kampf. Doch heute denke ich, dass der pure eremitenhafte Geist ein Fehler ist.“

Man könnte es eine love story zu dritt nennen, die Durs Grünbein und Eva Sichelschmidt in ihren Bann zog – denn die Literatur spielte von Anfang an eine Schlüsselrolle. „Plötzlich traf ich einen Menschen, der außergewöhnlich literarisch interessiert war“, erzählt der Schriftsteller. „Meine Frau ist wirklich eine manische Leserin. Und mit einer solchen Liebe, wie ich sie eigentlich in ihrer Generation gar nicht kannte.“ Er lächelt. „Ich sage immer: Meine Frau ist meine persönliche Jukebox, weil sie unglaublich viel rezitieren kann. Das ist nicht nur eine Frage des guten Gedächtnisses, es ist eine ursprüngliche Liebe zum Wort, auch eine gewisse Unbestechlichkeit. Literatur ist eigentlich immer wieder das Hauptthema, auf das wir zurückkommen.“ Durs Grünbein muss ihr prima vista grenzenlos vertraut haben. Denn das erste Buch, das er ihr schenkte, waren keine zarten Liebesgedichte, sondern Sylvia Plaths rabenschwarzer Roman „Glasglocke“, eine verzweifelte Geschichte mit einer hochdepressiven, suizidgefährdeten Heldin, die an allem scheitert, auch am privaten Glück. Andere Frauen hätten möglicherweise die Flucht ergriffen.

Wir sitzen in der Arbeitswohnung in Berlin-Mitte. Büchergebirge türmen sich auf, die Wände sind bis zur Decke mit Regalen bedeckt. Die ernste Strenge einer Studierstube mischt sich mit der Sinnlichkeit schimmernder Buchrücken, alles scheint auratisch aufgeladen. „Auch wenn mein Mann länger verreist ist, verbringe ich viel Zeit hier – durch die Bücher ist er gleichsam anwesend“, sagt Eva Sichelschmidt. In ihrem Laden „Whisky & Cigars“ veranstaltet sie regelmäßig Abende, an denen Autoren wie Martin Mosebach oder Max Goldt vor kleinem Publikum lesen. Ein literarischer Salon angenehmer Privatheit, ohne Eintritt, ohne Prätention, eine kultivierte Geste, die an die Berliner Salons vergangener Epochen anknüpft. „Uns verbindet die Literatur, nicht der Literaturbetrieb“, sagt sie, ein Stichwort, das Durs -Grünbein sofort aufgreift: „Der ganze Literaturbetrieb ist für mich eine Hölle, wenn auch eine sehr komfortable; eine kleine Nische, wie Dante sie sich speziell für uns ausgedacht haben könnte.“

Nebenan in der Familienwohnung schlafen die drei Kinder. Zwei Wohnungen, zwei Lebensmodelle. Auch die Bibliothek spiegelt dieses antipodische Prinzip wider. In der Arbeitswohnung stehen die Gesamtausgaben, die Gedichtbände, die Klassiker; leichtere Belletristik und Taschenbücher wandern nach nebenan in die Familienbibliothek. „Eine Bibliothek wie diese verkörpert letztlich die Idee eines Mnemosyne-Atlas“, erläutert Durs Grünbein die Logik der Bücher, die uns hier umgeben. „Sie ist sozusagen mein externalisiertes Gedächtnis, das mir vorführen kann, was einmal durch mich hindurchgegangen ist.“

Großen Raum nimmt die deutsche Klassik ein, allein geschätzte drei Meter Goethe stehen in den hohen Regalen, darunter bibliophile Schätze wie der „West-östliche Diwan“ in einer Ausgabe der Cotta’schen Buchhandlung von 1819, oder „Iphigenie auf Tauris“ von 1790. Für solch kostbare Ausgaben lassen die beiden leinenbezogene Schuber mit aufklappbaren Deckeln anfertigen. Auch für das skurril anmutende „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds“ – „das war Kafkas Lieblingsbuch“. Zwei Regale Philosophie fallen ins Auge, gegenüber stehen die Franzosen, Maupassant, Flaubert, die Brüder Goncourt, Huysmans. Und natürlich Proust – „er sitzt für mich auf dem Thron der Erinnerungsliteratur“, bekennt der Hausherr. Auffallend ist die Fülle von Literatur der griechischen und lateinischen Antike. Die sogenannte humanistische Bildung hat Durs Grünbein nie geschreckt. Er ist ein poeta doctus, liest Plinius, Catull und Ovid im Original und hat Aischylos und Seneca neu übertragen. „In meinem Elternhaus gab es keine Bibliothek. Und gerade weil ich all das nicht hatte, erschien es mir so begehrenswert. Ich mag gar nicht daran denken, was aus mir geworden wäre, wenn ich in einem bildungsbürgerlichen Hamburger Reeder-Haushalt aufgewachsen wäre – vermutlich ein Beatnick oder Hippie.“

Eva Sichelschmidts Blick streift die Bücherwände. „Eine Bibliothek ist wie eine ganz persönliche Handschrift, die den Menschen illustriert und anschaulich macht.“ Dass hier ein Dichter seinen literarischen Kosmos erschaffen hat, ist unübersehbar. „Das Spezifische dieser Bibliothek ist, dass sie überdurchschnittlich viel fremdsprachige Dichtung enthält“, erklärt Durs Grünbein. „Mir ist übrigens aufgefallen, wie stark eine Bibliothek Aufschluss über die Besitzer gibt, als ich in Marbach im Keller die Nachlass-Bibliothek Celans sah. Sie stand quasi Rücken an Rücken mit Benns Bibliothek; die war reine Monokultur, fast nur deutsche Titel, während Celan lauter russische, italienische, spanische, englische Literatur besaß, weil er so viel übersetzt hat.“

Seit Durs Grünbein 1988 den Gedichtband „Grauzone morgens“ veröffentlichte, wird er nahezu hymnisch gefeiert. Bereits mit 43 Jahren wurde er mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, er gehört den wichtigsten Akademien des Landes an – der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung etwa oder der Akademie der Künste Berlin – und ist seit 2008 Mitglied des Ordens Pour le Mérite. Seine Gedichte wurden weltweit übersetzt, sogar ins Chinesische. Wenn er auch übersetzt, Essays und Geschichten veröffentlicht hat, er kehrt immer wieder zum poetischen Sprechen zurück, mit einer Formsicherheit, die eine fast anachronistische Souveränität besitzt – „Vom Schnee“ beispielsweise, ein lyrischer Disput zwischen Voltaire und seinem Diener Gilot, ist ganz in Alexandrinern geschrieben. Warum? „Manchmal geht es mir wie einem Komponisten, der gar nicht weiß, in welcher Tonart er komponiert. Doch was den Alexandriner betrifft, so ist er die längste rhythmisierte metrische Einheit, die einen Gedanken ausdrückt. Gleich nach dem Alexandriner fängt die Prosa an. Das Sonett dagegen ist die höchste Form des Gedankenkristalls.“ Er hält kurz inne. „Man hat mir eine Muttersprache verpasst, die ich unendlich liebe; mein ganzes Schreiben ist eine einzige Adoration der Sprache.“

Täglich schreibt er seiner Frau Briefe, Zettel, Verse, ohnehin veröffentliche er nur die Spitze des Eisbergs, merkt er an. Es passiert häufig, dass sie unabhängig voneinander das gleiche Buch kaufen – etwa, wenn ein neuer Band der Nabokov-Gesamtausgabe erscheint. Oder dass sie ein Buch bewusst doppelt anschaffen, um es gleichzeitig lesen und dann darüber sprechen zu können. Oft lesen sie sich auch gegenseitig vor. Zum Beispiel Jonathan Frantzen. „Als wir Frantzens ‚Korrekturen‘ lasen, wurde uns bewusst, wie viele Familienromane hier stehen“, erzählt Eva Sichelschmidt. „Die Familie ist unser neuzeitliches Drama, das, womit wir im Augenblick noch wirklich kämpfen. Dort ist unser Kriegsschauplatz in dieser westlichen Welt.“

Aufgewachsen ist Durs Grünbein in Dresden. Eines der wichtigsten frühen Bücher beflügelte ihn buchstäblich: „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf. „Das war in tiefster DDR-Zeit vor allem eine Freiheitsfantasie. Etwas, wodurch man auf die allercharmanteste Weise ins Unbekannte entführt wurde. Das fand ich immer faszinierend: durchbrennen und über dem ganzen Land schweben.“ Für Eva Sichelschmidt waren die prägenden Erfahrungen Reimbücher, erst Kindergedichte, dann Balladen, die ihr der Großvater vorlas; bald schon kannte die Halbwüchsige fast alles auswendig, bis heute. Die unterschiedlichen Biografien spielen eine wichtige Rolle für die Lesevorlieben des Paars.

Den mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten und von der Kritik hochgelobten Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, dessen Schauplatz Dresden zur DDR-Zeit ist, hat Durs Grünbein „mit Begierde“ gelesen. Eva Sichelschmidt wuchs im Westen auf. „Für mich ist die Szenerie des Buches sehr viel weiter weg“, bekennt sie. „Umgekehrt kann ich beispielsweise mit Jörg Fauser sehr viel mehr anfangen als mein Mann, weil Fauser eine Atmosphäre beschreibt, die mir vertraut ist.“ „Mit der Nomenklatura, in der sich Tellkamp offenbar gut auskennt, hatte ich damals keinen Kontakt“, erinnert sich Durs Grünbein. „Doch ich habe in Dresden erlebt, was Samisdat-Literatur bedeute. Es gab Literaturzeitschriften mit Titeln wie ‚Ariadnefaden’, ‚Verwertung’ und ‚entwerter oder’. Die Texte wurden getippt, dann gab es bis zu fünf Kohlepapierdurchschläge, mehr nicht. Es existierten ja keine Fotokopierer – die hatten nur die Stasileute, die die Szene bald unterwandert hatten.“ Was ihn an anderen Versuchen, die DDR ex post zu beschreiben, generell störe, sei die Tendenz, die DDR ostalgisch als „Erinnerungsidylle“ zu beschwören. Daher habe er sich auch bis heute geweigert, „Good bye“ Lenin anzusehen. „Allenfalls einer wie Kempowski hätte das vermutlich geschafft“, meint er. „Der konnte eine Normalität des Dritten Reiches entwerfen, ohne dass es eskapistisch war, er zeigte, dass man lebte, tanzte und trank und Witze erzählte.“

In Berlin lernte Durs Grünbein noch zu DDR-Zeiten Heiner Müller kennen; die Publikation seines Gesamtwerks, das griffbereit in Augenhöhe steht, kam auf Grünbeins Initiative zustande. Und Siegfried Unseld, so erinnert er sich, habe damals zugestimmt im vollen Bewusstsein, dass das Projekt auf absehbare Zeit kein finanzieller Erfolg sein würde. „Müller war früh eine geistige Brücke zwischen Ost und West, da er ja viel im Westen arbeitete. Die üblichen Vorurteile des Kalten Krieges spielten plötzlich keine Rolle mehr, man kam sozusagen auf ein avantgardistisches Urgelände zurück. Die Abende in seiner Wohnung hatten einen Hauch dessen, was es vielleicht mal zwischen den beiden Kriegen gegeben hatte, eine Salonkultur, wo ein Jünger auf einen Brecht stieß.“

Was die Vorlieben bei der Gegenwartsliteratur betrifft, so nennen die beiden vor allem Amerikaner – Nicholson Baker, Harold Brodkey, David Foster Wallace. „Was mich anzieht, ist in der Regel ein gewisser Sarkasmus“, überlegt Durs Grünbein. „Ich habe das ganz gern, man muss den Pessimismus organisieren. Auf meinem Tisch liegt daher auch mal wieder Swift. Die Komik, die ich liebe, hat immer etwas Schwefliges.“
Streit über Bücher? Eher nicht. Der Harmonieverdacht hat sich aufs Schönste bestätigt. Und damit das so bleibt, gilt die eiserne Regel von Eva Sichelschmidt: „Wir reden nie über seine Arbeit.“

Foto: Picture Alliance

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Uwe Kreissig | Mo., 18. Dezember 2017 - 09:00

Was für ein Kitsch, was für eine Angeberei. Die werden bald platzen.