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Wir Mittelständler - Selbstgefällig, aber nicht tolerant

Kolumne Stadt, Land, Flucht: In Berlin war es für unsere Kolumnistin Marie Amrhein leicht, ihr Tolerant-Sein zu postulieren. Herausgefordert wurde sie erst auf dem Land in einer ganz banalen Alltagssituation

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Bald zwei Jahre währt unser neues Leben auf einem niedersächsischen Bauernhof. Neben dem Duft von frischem Heu sowie güllegeschwängerter Morgenluft, sommerabendlichem Grillenzirpen und zermatschten Fröschen auf der Landstraße prägt meinen Alltag noch eine andere Welt: die der ländlichen Mittelstandsidylle. Dazu gehören frisch eingesäte, akkurat gemähte Rasenflächen und sauber gefegte Terrassen vor nagelneuen Einfamilienhäusern, umgeben von hohen Fichten.

Der Wind wehte an diesem Frühsommertag. Wir Mütter – ja, hier sind es immer die Mütter, die auf die Kinder aufpassen – schauten wohlwollend auf den sandelnden Nachwuchs. Es dauerte jedoch keine zehn Minuten und das Bild war gestört. Socken und benutzte Servietten meiner diversen Kinder wehten über den sauberen Grund. Hektisch begann ich, die Ordnung wieder herzustellen. In diesem Moment spürte ich den größten Clash der Kulturen seit meinem Umzug aus Berlin.

Unter Gleichen ist es einfach, tolerant zu sein
 

Vor einigen Wochen las ich einen Satz, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: Sinngemäß hieß es dort, tolerant sei nur, wer beim Gegenüber akzeptiere, was er selber anders mache. Ich fühlte mich ertappt. In Berlins geschmackvollen Altbauwohnungen verschnarchter Politikwissenschaftler war es mir ein Leichtes, vermeintliche Toleranz zu leben. Aber nur weil wir uns dort alle einig waren, dass homosexuelle Paare Kinder haben dürfen, waren wir noch lange nicht tolerant. Ich kenne Ossis, die sich dem Kampf gegen Rassismus verschrieben haben und über Wessis lästern, Berliner, die sich für weltoffen halten und über Schwaben herziehen, selbsternannte Antifaschisten, die andere Menschen für deren Autogeschmack verurteilen. Selbstgefällig, wer da von sich behauptet, er sei tolerant.

Aber diese neue spießige Einfamilienhausidylle fordert das erste Mal in meinem Leben dauerhafte Duldsamkeit. Ging es für Voltaire um das Aushalten anderer Glaubensgemeinschaften, können wir heute schon im Kleinen täglich Toleranz üben. Dass dies nötig ist, sehen wir an einer wachsenden Kultur der Intoleranz, wie sie im Netz gerade einen neuen Höchststand erreicht hat: Johannes Boie beschrieb vor kurzem in der Süddeutschen, wie sich die Menschen durch das Blockieren und Entfreunden anderer ihre ganz eigene kleine Welt schaffen, um von Erkenntnissen, Meinungen oder der Ästhetik Andersdenkender verschont zu bleiben.

Beim Nachbarn hört die Toleranz auf
 

Aber in der Realität reicht kein Gefällt-mir-nicht-mehr-Knopf. Gerade zwischen Einfamilienhäusern, wo jeder sein eigenes sichtbares Reich errichtet, geraten immer wieder Menschen aneinander, denen das Anderssein des Gegenüber ein Dorn im Auge ist. Jeder dritte Deutsche lag schon im Clinch mit seinen Nachbarn, so eine Umfrage der Gothaer Versicherungen. Und wer schon einmal die Gründe für bundesweite Nachbarschaftsstreitereien gegoogelt hat, bekommt ein Gefühl dafür, wie schwierig die alltägliche Toleranz den Menschen fallen muss, wenn sie sich über Grillgerüche und Blätterabfälle streiten, bis Äste fliegen oder gar Pistolen abgefeuert werden.

Ob im Internet, zwischen Nachbarn, Kindergartenbekannten, religiösen oder politischen Gruppen – am Ende ist es immer dieselbe Übung: Wir müssen das akzeptieren, was wir selber anders machen würden. Ich hätte nicht gedacht, dass mir gerade das Landleben diese Lektion erteilt.

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