Bücher des Monats - Wenn Migranten reisen

Wie Klaus Brinkbäumers «afrikanische Odyssee» eine Einwanderungsroute nachzeichnet und dabei die europäische Migrationspolitik kritisiert

In Melilla und Ceuta, den spanischen Exklaven in Marokko, gab es im vergangenen Jahr einen regelrechten Sturm auf Europa: Hunderte von Migranten aus den Ländern südlich der Sahara versuchten dort, mit selbst gebastelten Leitern die Grenzzäune zu überwinden. Seitdem zeigen die Nachrichten im­mer wieder Bilder von Schwarzen, die an den Küsten der Ferienparadiese Gran Canaria oder Teneriffa landen. Ihre Boote kommen von weither, von der Küste Mauretaniens, mehr als tausend Seemeilen weit entfernt.

Glaubt man den Medienberichten, dann scheint halb Afrika auf dem Sprung zu sein. Aber was wissen wir über diese Menschen, deren Ziel es ist, nach Europa zu gelan­gen? Was wissen wir über ihr früheres Leben, über ihre Beweggründe, über ihre Reiserouten, über die Strapazen, die sie auf sich genommen haben? Anders gefragt: Was wissen wir über die europäische Migrations­politik? Die nämlich hat viel damit zu tun, dass die Einwanderungswilligen aus dem südlichen Afrika die abenteuerlichsten Wege und Umwege in Kauf nehmen.


Frau und Kinder vor Jahren verlassen

Nun hat der Reporter Klaus Brinkbäumer sich zusammen mit dem Fotografen Markus Matzel auf den Weg gemacht, um die «afrikanische Odyssee» und die europäische Politik zu recherchieren. Er hat, das sei vorweggenommen, ein großartiges Buch über diese Reise geschrieben: «Der Traum vom Leben» heißt es, und es ist bestens geeignet, notwendiges Wissen über die Abgründe europäischer Migrationspolitik zu verbreiten.

«Auf den Spuren derer wollen wir reisen», schreibt Brinkbäumer in der Einleitung, «die alles zurücklassen, um nach Europa zu kommen.» Doch wie macht man das? Brink­bäumer verschweigt die Probleme nicht, die die Recherche mit sich bringt. Denn schnell stellt sich heraus, «dass solche Projekte letztlich immer ein Stück weit verlogen sind, weil sie verlogen sein müssen: In dem Moment, wo weiße Journalisten zu den Migranten stoßen, um deren Geschichte aufzuschreiben, ist es nicht mehr deren Geschichte. Die Journalisten verändern sie.» Solche Selbsterkenntnis findet man selten im deutschen Journalismus, wo der Mythos vom «objektiven» Berichterstatter sonst noch weitgehend intakt ist.

Das Nachdenken über die eigene Rol­le jedoch ändert die Vorgehensweise. Brinkbäumer beschließt, nicht mit aller Gewalt aus erster Hand zu berichten, sondern eine bereits geglückte Reise nach Europa zu wie­derholen. Bei Recherchen in der spanischen Hafenstadt Algeciras trifft er den ghanaischen Migranten John Ampan, der dort mittlerweile legal lebt und sich im Dienste einer spanischen Flüchtlingsorganisation um Einwanderer aus Afrika kümmert. Jener John Ampan, heute 46 Jahre alt, wird zur Haupt­figur des Buches. Über eine verschlungene Landroute von Ghana aus ist er nach Spanien gekommen – einmal fast über den halben afrikanischen Kontinent. Und Brinkbäumer hat diese Reise mit Ampan noch einmal unternommen, beginnend im Haus von Ampans Familie in Accra, der Hauptstadt von Ghana.

Diese Familie freilich hat John Ampan seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Damals traf er, wie Brinkbäumer schreibt, eine «afrikanische Entscheidung»: Er ließ eine Frau und drei Kinder zurück, um in Europa zumindest so viel Geld zu verdienen, damit die Kinder zur Schule gehen konnten. Und so begann die Odyssee: eine vier Jahre dauernde Reise über Togo, Benin, Nigeria, Niger, Algerien, Marokko bis nach Ceuta und von dort aus schließlich aufs spanische Festland.

Tatsächlich ist «Odyssee» ein höchst treffen­der Ausdruck. Die Reisen von Migranten wie John Ampan sind keine schlichten Bewegungen von A nach B. Sie sind mit Unterbrechungen, Rückschritten, Leiden verbun­den. Die Verkehrsverbindungen sind eine Katastrophe. Meist reicht das Geld nicht für die komplette Reise, was bedeutet: Man muss unterwegs immer wieder einen Job finden und arbeiten. Landesgrenzen bereiten immer Probleme. Manchmal müssen korrupte Beamte bestochen werden. Ein anderes Mal braucht man einen «Schlepper», um die Grenze zu überwinden. Bisweilen wird der Migrant von der Polizei geschnappt und wieder zurückgeschickt. So kann es Jahre dauern, bis er sein Ziel erreicht hat. Oder er erreicht es nie. Die Routen der Migranten sind gepflastert von den namenlosen Leichen jener, welche die Strapazen nicht überlebt haben.

«Sie sind schwarz, wir sind weiß»

Die einzelnen Stationen von Ampans Reise nutzt Brinkbäumer, um zu jedem Land einen historischen Abriss zu liefern. Häufig beginnen die Staats-Geschichten mit einem hoffnungsvollen Aufbruch in den sechziger Jahren und enden in Misswirtschaft, Kor­rup­tion und verfallender Infrastruktur. Diese Passagen sind gelegentlich nicht nur kurz, sondern auch verkürzend, aber sie sorgen dennoch für einen nützlichen Überblick. Grandios werden die Beschreibungen dann, wenn Brinkbäumer sich selbst in die Geschichte verwickelt. Seine apokalyptische Schilderung der nigerianischen Metropole Lagos wirkt eindringlich, eben weil er nicht verhehlt, wie sehr ihn die Überfüllung, das Chaos, die unkontrollierte Kriminalität angreifen. Die Intensität von John Ampans Reise wird gerade dadurch fühlbar, dass der Reporter die eigene Anstrengung nicht verschweigt.

Anstrengend sind auch die Begeg­nun­gen mit den Menschen. «Sie sind schwarz, wir sind weiß, das ist die Basis jeden Gesprächs, die keiner vergisst.» Brinkbäumer erzählt: An der Grenze zu Niger zahlt er seinen nigerianischen Fahrer aus, worauf dieser zu lamentieren beginnt, einfach deswe­gen, weil sein Fahrgast korrekt abrechnet. Der aber hat die Anspruchshaltung des Fahrers satt. «Und ich spüre, dass die Zeugen dieser Szene denken, warum wirft dieser Wei­ße nicht einfach ein paar Scheine in den Sand und löst das Problem und wahrt sein Gesicht und fährt. Aber mir wäre das zuviel, für mich wäre gerade das die Blamage. Ist das sehr deutsch?» Gerade in solchen Beschreibungen wird das Ausmaß des Machtgefälles deutlich – gelegentlich scheint es unmöglich, eine Beziehung außerhalb dieses Gefälles einzugehen.


Quoten müssen her – und Fairness

Brinkbäumers Buch ist so intensiv wie unaufgeregt. Es handelt von einer alltäglichen Geschichte, von einer tausendfach unternommenen Reise von Afrika nach Europa. Doch wer ist eigentlich für all das Leid verantwortlich? Der Autor spricht deutlich von der Schuld der afrikanischen Regierungen am Zustand ihrer Länder. Zugleich werden auch die Europäer nicht geschont: Sklaverei, Kolonialismus, aber auch die fortgesetzte Machtpolitik haben zum afrikanischen Elend beigetragen. Und schließlich betreiben die Europäer auch noch eine Migrationspolitik, die maßgeblich auf Abwehr beruht. Unbegreiflicherweise: denn tatsächlich ist Europa aus ganz eigennützigen, wirtschaftli­chen und demografischen Gründen auf Ein­wan­derung angewiesen.

Dennoch werden immer höhere Mau­ern gebaut, werden immer mehr Länder des Südens in den Kampf gegen Migration einbezogen. Zu Recht fordert der Autor eine «Migrationspolitik ohne doppelten Boden»: Es müssen «Quoten her. Regeln. Fairness. Und Ehrlichkeit». Warum es eine solche Politik nicht gibt, will ihm ebenso wenig einleuchten wie jedem, der sich näher mit dem Thema befasst.

Man mag Brinkbäumer am Ende vorwerfen, dass er sich die spannendste Geschichte ausgesucht hat, ohne zu erwähnen, dass illegale Migration in den meisten Fällen eine ganz profane Angelegenheit ist: per Touristenvisum, mit dem Flugzeug. Aber kleinliche Einwände wie dieser prallen an seiner großen Leistung ab: Brinkbäumer hat ein informatives, unterhaltsames, selbstkritisches Buch von großer politischer Klarheit geschrieben.

 

Mark Terkessidis, Jahrgang 1966, ist Psychologe und Publizist und lebt in Köln. Demnächst erscheint sein mit Tom Holert verfasstes Buch «Flieh­kraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen».

 

Klaus Brinkbäumer
Der Traum vom Leben. Eine afrikanische Odyssee
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006, 296 S.,18,90 €

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