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() Jean-Paul Sartre, 1970
Was bleibt von Sartre?

Er war ein Bürgersohn, der sich in antibürgerlichen Gesten übte. Er war ein französischer Philosoph, der stark von der deutschen Philosophie geprägt war. Jean-Paul Sartre galt nach dem Zweiten Weltkrieg als Intellektueller par excellence. Und heute?

Auch die Philosophiegeschichte hat ihre heroischen Daten. Sie sind den meisten Europäern so vertraut wie die Siege Alexanders des Großen, die Reisen des Christoph Kolumbus oder das Ende Napoleons. In der Philosophie ist es der Tod des Sokrates, die spannungsreiche Freundschaft Voltaires mit Friedrich dem Großen. Auch das Ende der Freundschaft zwischen Nietzsche und Wagner gehört dazu, und – wie soeben wieder zu betrachten ist – Jean-Paul Sartre im Streit mit Albert Camus: erfolgreiche Schriftsteller beide. Beide waren in wichtiger Zeit einflussreiche Journalisten und beide vom Ehrgeiz getrieben, Bedeutendes in der Philosophie zu leisten. Die große Ausstellung zum 100. Geburtstag Sartres, die derzeit in Paris Furore macht, zeigt, dass der Erzprophet des Existenzialismus immer noch ein europäisches Ereignis ist, obgleich vom Existenzialismus, der einmal eine Mode gewesen war – das schwarze Outfit der Chanson-Sängerin Juliette Gréco war sein Markenzeichen –, schon lange nicht mehr die Rede ist. Heute kann man fragen, ob Sartre nicht vielleicht nur ein europäisches Ereignis war und ist, ob sein Name Nicht-Europäer kalt lässt – und zwar aus erklärbaren Gründen. Sartre und Camus hatten sich beide am Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg beteiligt. Sartre war Soldat gewesen und eine Zeit lang Gefangener in einem Lager in Deutschland. Nach Paris zurückgekehrt, gelang es ihm, wieder als Lehrer zu unterrichten, Artikel zu veröffentlichen und seinen Auftritt für die Zeit danach vorzubereiten. Camus, 1913 im französischen Algerien zur Welt gekommen, war Mitglied der Kampfgruppe „Combat“, für die er 1943 nach Paris ging; dort erschien die gleichnamige Zeitung zunächst illegal, Camus arbeitete als Verlagslektor. Beide hatten früh den Roman veröffentlicht, der ihr bester bleiben sollte: Sartre „Der Ekel“, Camus „Der Fremde“. Beide waren mit philosophischen Arbeiten hervorgetreten, und beide beschäftigten jetzt moralische Fragen des politischen Engagements. „Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung“, schrieb Sartre am 1. September 1944, als es damit vorbei war. Mit der zurückgewonnenen Freiheit kamen alle das Handeln belastende Fragen zurück. Aber zunächst war da die Freiheit. Und deren Glück bestimmte die folgenden Jahre in Paris, die als die Jahre des französischen Existenzialismus rasch zur Legende wurden – freilich auch wegen Sartres fröhlicher Promiskuität. Seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir beschrieb diese Jahre in ihrem Roman „Die Mandarins von Paris“. Das ist kein Schlüsselroman. Zwar wird auch die Geschichte vom Bruch zwischen Sartre und Camus erzählt, aber im Roman finden sie wieder zu ihrer Freundschaft zurück. Das war im Leben nicht so. Im Roman ist keiner der beiden eindeutig beschrieben; Camus hat sich später darüber beklagt, dass die Autorin manche Schurkerei Sartres ihm angedichtet habe. Doch bei dem Bruch der Freundschaft ging es nicht um Schurkereien. Aus dem Krieg und aus den Erfahrungen in der Résistance waren die französischen Kommunisten mit hohem Ansehen und dem Anspruch hervorgegangen, bei der Gestaltung der Zukunft in Europa ein kräftiges Wort mitzureden. Nicht nur das Beispiel Stalins, auch der Machtwille der Partei in Frankreich belasteten bald schon die Zusammenarbeit. Besonders Sartre, der unverkennbare Bildungsbürger wurde von den Kommunisten attackiert, obgleich er sich weniger über ihre Politik empörte als Camus. Sartre stellte etwa in seinem Aufsehen erregenden und bis heute lesenswerten Essay „Was ist Literatur“ lakonisch fest, dass man nicht zugleich Schriftsteller und Kommunist stalinistischer Prägung sein könne. Das bedeutete für ihn aber keineswegs, dass man sich in der politischen Konfrontation, wie sie sich zu Beginn des Kalten Krieges entwickelte, gegen die Kommunisten stellen dürfe. „Ein Antikommunist ist ein Hund“, ereiferte er sich, während ihn die Kommunisten in Paris als Schakal beschimpften. Zur Trennung zwischen Sartre und Camus schließlich kam es anlässlich der Diskussion um die sowjetischen Straflager. Sie wurde publik, als Sartres Zeitschrift Temps Modernes ein philosophisches Buch von Camus scharf kritisierte, dieser sich im selben Blatt heftig, aber ungeschickt wehrte und Sartre daraufhin mit einem langen, auf vielen Ebenen argumentierenden und hadernden Artikel einen Schlussstrich zog: „Die Zeitschrift steht Ihnen jederzeit für eine Erwiderung offen, aber von mir bekommen Sie keine Antwort mehr. Ich habe gesagt, was Sie mir einst bedeuteten und was Sie jetzt für mich sind, ich lehne es ab, mit Ihnen zu kämpfen. Ich hoffe, unser Schweigen lässt diesen Streit in Vergessenheit geraten.“ Die zentrale Stelle des Artikels ist jene, wo Sartre Camus vorhält, die bürgerliche Kritik an den Straflagern sei verlogen: In Wahrheit wüssten die Politiker in den westlichen Ländern und ihre loyalen Anhänger alles über die Verbrechen des Kolonialismus und die skandalöse Ausbeutung der Arbeiter überall. Jeder Hinweis auf die Lager bedeute daher für sie nicht Schmerz und Erschütterung über das, was der Mensch dem Menschen antut, wie es bei Camus erscheint, sondern Erleichterung über die moralische Niederlage des Gegners: Was „Entrüstung und vielleicht sogar Verzweiflung hätte hervorrufen müssen, war doch wohl der Gedanke, dass eine sozialistische Regierung mit Hilfe eines Heeres von Funktionären Menschen systematisch versklaven kann. Das aber, Camus, kann einen Antikommunisten eben nicht erschüttern, denn er traute der UdSSR ja schon vorher alles zu. Die einzige Empfindung, die diese Nachricht in ihm hervorrief, war – ich sträube mich fast, es auszusprechen – Freude. Freude weil er darin endlich einen Beweis für seine Sache sah und weil man jetzt gespannt sein konnte, wie’s weiterging.“ Man müsse, so Sartres Überzeugung, nicht die Realität der Straflager leugnen, um bei der entscheidenden Einsicht zu bleiben: dass im Bemühen, das Elend in der Welt zu mindern, der Kommunismus – und auch die Sowjetunion – die Kräfte verkörperten, die zukunftsfähig seien, die USA und ihre Verbündeten aber als Verteidiger des Kolonialismus und als Organisatoren der kapitalistischen Ausbeutung das historisch Überholte darstellten, eine schlechte Realität, gedanklich schon überwunden. Diese Parteinahme für den Kommunismus erscheint nach mehr als einem halben Jahrhundert und dem Verschwinden der Sowjetunion und ihres Imperiums grotesk. Dennoch ist sie es nicht. Sartre vollzog sie als Intellektueller – nicht als Bürger, der er auch immer war – auf der Höhe seiner philosophischen Urteilskraft. Was die für ihn bedeutete, darin unterschied er sich am gründlichsten von Camus. Kein Philosoph in Frankreich, keiner von allererstem Rang, nach seinem Tod apostrophiert als der Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat so sehr von den Philosophen einer anderen Nation – und nur einer anderen – gezehrt wie Sartre. Sartre hat von deutschen Philosophen fast alles gelernt, was man zu seiner Zeit von ihnen lernen konnte. Man darf da von den „drei großen H“ sprechen: Hegel, Husserl und Heidegger. Er ging nach Deutschland, um Phänomenologie zu studieren, aber er ging nicht, wie Gadamer einmal bemerkt hat, nach Freiburg, wo man das lernen konnte, sondern er ging nach Berlin, wo man das nicht lernen konnte. 1933 war er in Berlin. Erstaunlich genug: Beeindruckt wurde er von dem, was dort politisch geschah, in keiner Weise. Er studierte wie ein braver Bürgersohn und hatte statt Politik seinen ersten Roman im Kopf: „Der Ekel“, der 1938 erschien. Als Sartre übrigens dreißig Jahre später, 1964, den Literaturnobelpreis erhielt, lehnte er ihn ab, weil er die exquisite bürgerliche Anerkennung nicht wollte.

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