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(Tom Benz) Der Maestro Gustav Kuhn

Gustav Kuhn - Wahn und Wirklichkeit im Einklang

Wie wird man der berühmteste Außenseiter des Musikbetriebs? Zu Besuch bei dem Dirigenten Gustav Kuhn, dem Gründer der Festspiele von Erl
 

Was Brunst ist, wissen die meisten. Was Inbrunst ist, verraten viele Wörterbücher nicht mehr. Wer es wissen will, sollte diesen Mann kennenlernen, am besten, wenn er sich auf dem Heimweg befindet nach Erl in Tirol. Dort hat sich Gustav Kuhn vor knapp 30 Jahren ein eigenes Heim hingebaut und vor 15 Jahren seine eigenen Festspiele. Zu einem anderen Zeitpunkt ist Kuhn, den seine Leute Maestro nennen, die Erler den Erlkönig oder Guschtl und Journalisten einen Marathonmann, schwer dingfest zu machen. Morgens zwischen fünf und sieben steht er im Dialog mit den Sternen und mit seinen Gedanken. Danach steht er im Dialog mit seinem Chor, seinem Orchester und den Gesangssolisten. Und nach einem Tag, der bis an die Ränder gefüllt ist, steht Kuhn im Dialog mit Freunden und dem Genuss. Den Genuss sieht man ihm an, den Marathonmann weniger.

Um den zu erkennen, genügt allerdings ein einziger Blick auf das Festspielprogramm. Im vergangenen Jahr hat er in Erl innerhalb von 24 Stunden Wagners gesamten Ring dirigiert, was manche Zuhörer an den Rand der Erschöpfung brachte, ihn keineswegs. Wie er das durchhält, fragt man sich auch in diesem Jahr, denn nach dem Festival im Juli wird er auch noch eines im Dezember bewerkstelligen, das zusammen mit dem neuen Festspielhaus eröffnet wird. Sponsor ist sein Freund Hans Peter Haselsteiner, Inhaber eines der größten Bauunternehmen Europas. Der ließ für das Winterquartier, ausgestattet mit dem größten Orchestergraben Europas, 36 Millionen Euro springen. „Nur Wagner hat von König Ludwig in Bayreuth so viel bekommen“, grinst Gustav Kuhn.

[video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn]

Äußerlich teilt der Hüne aus der Steiermark mit dem Kurzgewachsenen aus Sachsen wenig. Ähnlich wie Wagner aber bringt er Wahn und Wirklichkeit in Einklang. Schließlich ist Kuhn Experte für beides. Er hat in Salzburg und Wien Musik studiert, daneben Philosophie, Psychologie und Psychopathologie. Der Dr. phil. war Mitglied der österreichischen Olympiamannschaft im Segeln und österreichischer Staatssieger auf dem Flying Dutchman. Er hat eine Intergalaktische Messe komponiert und das CD-Label „col legno“ gegründet, jagt Konzertbesucher auf die Alm und beschallt österreichische Flüsse mit Musik von heute. Er verwirklicht, was andere wahnsinnig finden, weil er den Opernbetrieb wahnsinnig findet. Dafür lieferte er mit 35 einen schlagkräftigen Beweis, als er sich mit einer Ohrfeige vom Bonner Opernintendanten verabschiedete.

Die Liste dessen, was er zwischen Paris, Macerata und Tokio gemacht hat, was er nicht gemacht hat, obwohl es von ihm gewünscht wurde, und was er derzeit macht, ist abenteuerlich. Und eines kann ein Abenteurer nicht brauchen: Vorschriften. Ein berühmter Kollege, der in San Francisco die Götterdämmerung dirigierte, erlebte bei der Generalprobe ein Fiasko: 20 Minuten vor dem Ende des Sechs-Stunden-Werks machte das Orchester Schluss – um 18 Uhr, wie das Gesetz es befahl. „Wenn ein Dirigent anständig ist, bringt er sich in dieser Situation um“, sagt Kuhn. „Wenn er hochanständig ist, dann bringt er zuerst den Konzertmeister um, und dann sich selbst.“ Er lacht, dass es bebt, und weiß, was es braucht, damit so etwas nicht geschieht: Inbrunst. Die innere Form jener Brunst, von der er, der sechs Kinder von vier Frauen hat und dafür glüht, mit einer schönen Frau vor dem Kaminfeuer zu sitzen, zweifelsohne
viel versteht: „Inbrunst kennen wir im Gebet. Und sehr viel große Musik ist Gebet.“

[video:Musikalischer Auftakt des Beethovenfests in Bonn]

Brunst kommt von brennen. Doch wie hält einer wie er sein inneres Feuer am Lodern? Energie beziehe er aus dem Ort, sagt Kuhn. „An einem Flughafen fällt mir nichts ein. Aber dort, wo der Boden geladen ist.“ Geladen mit Vergangenheit, Mystik und Mysterien wie in Erl, wo seit bald 400 Jahren Passionsspiele aufgeführt werden. Das elektrisiert Kuhn, den lachenden Mystiker, der wiederum andere so entflammen kann, dass sie brennen für seine Sache. Auch im Musikbetrieb ist eine Energiewende möglich. Elf Stunden probte er im vergangenen Jahr Verdis „Requiem“. Keiner seiner Musiker dachte daran, vor dem Ende aufzuhören. Bürokratie macht das Mögliche unmöglich. Kuhn das Gegenteil.

„Ich will von meinen Musikern geliebt, nicht gefürchtet werden“, so Kuhn. „Macht hat mich nie interessiert.“ Das sagt ein Mann, der zugibt, Herbert von Karajan, dessen Lieblingsschüler er war, habe viel für ihn getan, „als er der Niki Lauda der Musikszene war“. Aber er war wohl kaum der ideale Lehrer für einen, der Macht wegen der Gefahr des Missbrauchs für mörderisch hält? „O doch!“, jubelt Kuhn. „Karajan hat überzeugend vorgeführt, wie das reine Machtausüben schiefgeht.“ Statt die Berliner oder Wiener oder Londoner Philharmoniker zu dirigieren wie früher, dirigiert Kuhn ein Orchester, wo sich um die Stelle eines zweiten Flötisten 270 Spitzenmusiker aus der ganzen Welt rangeln. An den erlauchten Tyrannen glaubt er nicht, schon gar nicht in der Musik. „Ein Tyrann ist immer zerstörerisch, nie erlaucht.“

Stattdessen glaubt er an das, was Jürgen Klopp macht, der als Trainer die Borussen zum deutschen Meistertitel führte: „Der untersucht bestehende Strukturen und beweist, dass ein Spieler für 30 000 Euro besser sein kann als einer für drei Millionen.“ Wenn der Spieler, ob er Fußball oder Oboe spielt, Feuer fängt und sein Geltungsbedürfnis mit Inbrunst verheizt. Vielleicht sollten die Wörterbücher das Wort wieder aufnehmen.

Anfang Juli beginnen die Konzerte der Tiroler Festspiele Erl. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

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Josef Cantakukuruz | Sa., 22. September 2018 - 13:33

Ich bin offenbar zu ungeschickt, um das Datum des Textes über Gustav Kuhn zu finden. Der Zeitpunkt, zu dem ein Artikel erscheint, ist für die Bewertung des Inhalts nicht unerheblich. So euphemistisch wie der Autor (den ich auf der Webseite auch nicht finden kann) hätte man im September 2018 nicht mehr schreiben können...
Besten Gruß Cantakukuruz