Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Demenztherapie: Wie das Glück ins Unglück kommt

Demenz - Vom Topmodel zur Altenpflegerin

Ein ehemaliges Topmodel erlebt das Dahinsiechen der Großmutter und wird aktiv. Altersdemenz ist eine Volkskrankheit. Der Staat, die Krankenhäuser und Pflegeheime können sie allein nicht bekämpfen.

Der liebe Gott oder der Geist der Gene (falls es den gibt) hat es gut mit ihr gemeint. Doch ohne Hast wischt sie jede Bemerkung über ihre physischen Vorzüge vom Tisch, nicht ärgerlich, nicht ungeduldig, eher höflich gelangweilt. Schönheit ist, die wenigsten wissen es, ein Schicksal, das getragen werden will, und es ist nicht immer ein leichtes.

Bei ihr verhält es sich anders: Sophie Rosentreter ist heute, eine Frau Mitte dreißig, schöner als in den Galajahren ihrer Modelkarriere. Nichts deutet mehr jene innere Spannung so vieler Laufsteg-, Bühnen-, Bildschirmgeschöpfe an, die sich stets ihrer Wirkung versichern müssen: auf die Fotografen, die Designer, die mächtigen Damen der Modejournale, das Publikum.

Sie hat der öffentlichen Existenz Adieu gesagt, in der manchen ihrer Nachfolgerinnen die Prominenz der Film- und der Bühnenstars von einst zufiel. Sie zog sich nicht aus Angst vor dem Fortschritt der Jahre zurück. Nicht aus einer wachsenden Scheu vor den kritischen Blicken der Konkurrenz, die sie niemals heimgesucht hat. Wäre es anders, hätte sie sich nicht im Playboy gezeigt. Geld gab es auch. Das war vorgestern. Fast vergessen.

Nun strahlen ihre großen Augen die Heiterkeit eines Menschen aus, der seine Aufgabe gefunden hat: vielleicht die ungewöhnlichste, in die eine Person aus dem Showbusiness jemals geraten ist. Sie versuchte sich, nach dem Dienst an der Haute Couture, als TV-Moderatorin, durchaus nicht erfolglos; sie erprobte die Arbeit hinter der Kamera, als Regisseurin oder Autorin. Doch Ilse zeigte ihr einen anderen Weg: die geliebte Großmutter, die unaufhaltsam in die Demenz glitt, zunächst im Haus der Eltern, wo sie bleiben konnte, solange es anging, danach in einem Heim, in dem die Enkelin, wenn sie sich in Hamburg aufhielt, die alte Dame täglich besuchte.

Sophie Rosentreter entdeckte in den vielen Hundert Stunden, in denen sie mit der Großmutter lebte, dass es möglich ist, in die verhangene und entrückte Welt der Demenzkranken vorzudringen. Sie erzählte ihr Geschichten aus der Kindheit – und plötzlich fand sie ein Schlüsselwort, bei dem sich das Gesicht der alten Frau erhellte, die stumpfen Augen Leben gewannen, die schüttere Stimme sicherer wurde, wenn sie selber weitererzählte, nicht immer in zusammenhängenden Sätzen, doch unversehens einer Szene, eines Ereignisses, einiger Menschen bewusst, deren Namen ihr eine halbe Stunde zuvor nichts bedeutet hatten.

Sophie schleppte Familienalben mit vergilbten Fotos herbei. Manchmal erkannte die Großmutter den Bruder, eine Nichte, einen Freund, am Ende sogar den eigenen Mann, der schon lange Jahrzehnte tot war. Sie lächelte. Ihr Gesicht sprach von dem Glück, ihr Leben – vielleicht nur für Minuten – wieder in Besitz zu nehmen. Das Glück, das sich in dem einfachen Satz verbirgt: Ich bin es. Es gibt mich: die Person Ilse, die eine Mutter hatte, einen Mann liebte, Kinder zur Welt brachte. Eine Wiedergeburt für den Augenblick.

Irgendwann, vielleicht schon nach Minuten erstirbt das Lächeln. Die Augen verdunkeln sich. Es konnte geschehen, dass sie die Enkelin voller Misstrauen fragte: Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Dass sie sich niederlegte und das Gesicht zur Wand kehrte. Sophie aber erlebte die Augenblicke des Glücks der Großmutter als ein Geschenk. Sie versuchte es ein anderes Mal mit Liedern aus der Kindheit. Sie sang einen Vers, und es geschah das klein-große Wunder, dass die Großmutter Ilse mitsang und sich aller zehn Strophen entsann, sechs Strophen mehr als Sophie im Kopf hatte. Und wieder ein Lächeln: das Geschenk.

Sie sah mit der Großmutter Kinderbücher von früher an, aus Sophies Zeit, in der ihr Ilse so oft vorgelesen hatte, manchmal auch illustrierte Bände aus den zwanziger, den dreißiger Jahren, als Ilse noch klein war. Beide freuten sich des Wiedererkennens, zum Beispiel bei der „Schule im Walde“ von Adolf Holst und Else Wenz-Vietor aus dem Jahre 1931. Die Großmutter entzückte sich an dem weinenden Rehkitz so sehr, dass ihr Sophie beim nächsten Besuch ein Bambi mit echten Haaren mitbrachte, das Ilse mit offensichtlichem Wohlgefühl immer wieder streichelte.

Thomas Klie, der einstige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie, berichtete in einem Gespräch mit der Journalistin Christine Brinck, „Menschen mit Demenz“ könnten „durchaus erleben, was wir Glück nennen“. Psychologen hätten Instrumente entwickelt, mit denen sich die Gefühlslage von Demenzkranken feststellen lasse. Es gebe in der Tat Situationen, in denen sie Genuss, Nähe, Lebendigkeit empfänden, und er verwies auf das Beispiel von Walter Jens, dessen Geschick auf eher fragwürdige Weise öffentlich wurde. Eine „einfache Frau“ habe einen „guten und emotionalen Zugang“ zu dem einst so brillanten Professor gefunden, und sie helfe ihm, „die elementaren Dinge des Lebens neu zu entdecken“.

Die Betreuerin weckte seine Lust am Essen – simple Gerichte, die dem Patienten in der Kindheit schmeckten. Er lernte durch sie, die Schönheit einer Blume oder einer Weizenähre wahrzunehmen, die Merkwürdigkeiten der Tiere auf dem Bauernhof. Sie schaut sich mit ihm, wie Sophie mit Großmutter Ilse, Bilderbücher an, an denen sich der einstige Großintellektuelle ganz offensichtlich freute.

Die Zahl der Demenzkranken in der Bundesrepublik wird auf 1,2 Millionen geschätzt. Sie wird sich – Folge der steigenden Lebenserwartung – im Gang der nächsten zwei Jahrzehnte vermutlich auf zwei Millionen erhöhen. Eine Volkskrankheit. 70 Prozent der Kranken werden in der eigenen Familie gepflegt, 30 Prozent in Heimen. Das bedeutet, dass zwei bis drei Millionen Menschen die schwere Last der Betreuung tragen, an der manche – die Frau, die Tochter (kaum je ein Mann) – rascher zugrunde gehen als die Patienten.

 Auf lange, auf sehr lange Sicht könnte die Gesellschaft den permanenten Notstand nur lindern, wenn sie zu Wohn- und Existenzformen zurückfindet, die das Zusammenleben von drei Generationen erlauben. Sie böten die Chance, sich gegenseitig zu stützen – nicht nur in der Betreuung der Alten, sondern in der Hilfe für beruflich engagierte Frauen, die heute noch oft genug entweder auf Kinder oder auf die Karriere verzichten müssen. Um das Dasein der Betreuer von Demenzkranken ein wenig erträglicher zu machen, braucht es die Öffnung neuer Wege, die es den Kranken und vor allem auch den Pflegenden gestatten, ein- oder zweimal am Tage aufatmen zu können.

Wie sehr das Problem die Gesellschaft beunruhigt, demonstrierte der Erfolg des Romans von Arno Geiger („Der alte König in seinem Exil“), der so rasch an die Spitze der Bestsellerlisten gelangte, von der Kritik (mit Ausnahmen) fast enthusiastisch begrüßt, Jonathan Franzens Essay „Das Gehirn meines Vaters“, aber auch der so heftig umstrittene Bericht von Tilman Jens „Demenz. Abschied von meinem Vater“, den Jacques Schuster in der Literarischen Welt mit einer wohlbedachten Betrachtung vor dem Vorwurf der „Herzlosigkeit“ in Schutz nimmt: Wer das Buch lese, schrieb Schuster, werde „spüren, wie sehr der Sohn am dahindämmernden Vater“ hänge.

Weil das Phänomen der Geistesschwachheit im Alter unsere Gesellschaft immer härter bedrängt, beugte sich Sophie Rosentreter der Notwendigkeit, die Erfahrungen, die sich ihr in der Sorge für die Großmutter erschlossen hatten, an anderen Demenzkranken zu erproben – und es gelang ihr fast immer, den Patienten, wenigstens für Momente, einen Zugang zum Leben zu öffnen, manchmal auf dem Kinderspielplatz beim Schaukeln, bei anspruchslosen Ballspielen, beim Hantieren mit Spielzeug, beim Ausmalen von Bildvorlagen, beim Vorlesen von Märchen, bei gemächlichen Spaziergängen durch den Zoo, in dem sich exotische Tiere wie das Hängebauchschwein bestaunen lassen, beim Entenfüttern am Teich, bei der Berührung von Schafen, Ziegen, Kühen und Pferden (wie denn allen haptischen Erlebnissen ein besonderer Rang zukommt, bis hin zu den Stofftieren, die zu Hause wieder und wieder gestreichelt werden).

 Freilich begegnete Sophie draußen auch den Aggressionsschüben der Kranken, dem unkalkulierbaren Wechsel der Stimmungen, gelegentlich versuchten sexuellen Übergriffen, die durch das Alter der Männer kaum gebremst zu sein schienen. Sie verstand, dass den Angehörigen und den Bediensteten der Pflegeheime ein Mitleiden (im wörtlichen Sinn) auferlegt ist, das oft fast täglich die Grenzen der Belastbarkeit prüft.

Sie nahm zur Kenntnis, dass nach amerikanischen Studien das Risiko, selber ein Opfer der Demenz zu werden, bei den pflegenden Angehörigen sechsmal höher ist als im Durchschnitt der Gesellschaft – nicht kraft einer genetischen Prädisposition, sondern durch die übermenschlichen Belastungen, die sich zunächst – bei fast 30 Prozent der Betroffenen – durch Depressionen anzeigen. Umso wichtiger, dass die Betreuenden mit den Chancen der Vermittlung von Glücksgefühlen vertraut sind. Denn jedes Lächeln der Patienten lässt sie die Last leichter tragen. Das Lächeln, das Lachen, das Wohlgefühl, das bescheidene Glück – sie helfen beiden, den Kranken und den Pflegenden.

Als die Großmutter Ilse nach neun Jahren Demenz starb, entschloss sich Sophie, das Leben der Kranken und ihrer Helfer mithilfe von Filmen zu erhellen. Sie zeigen, episodenhaft und in gemächlichem Tempo, die Vielfalt des Lebens, sie schöpfen aus der Vielzahl von Alltagssituationen, lieb gewordenen Kindheitserinnerungen oder Ereignissen, an die jeder gerne zurückdenkt. Mit ihnen lassen sich die grauen Sperren der Krankheit beiseiteschieben und die Dunkelheit für einige gute Stunden, vielleicht auch nur für Minuten durch ein freundliches und belebendes Licht verscheuchen.

Das Projekt wird von dem Verleger Florian Langenscheidt unterstützt. Zwei Schulfreunde entschlossen sich, mit Sophie Rosentreter zusammenzuarbeiten. Sie suchte und fand den Rat von Fachleuten wie Jens Bruder, dem Mitgründer der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, von Julia Garber, die das Pflegeheim „Haus Ilse“ leitet, von dem Musiktherapeuten Jan Sonntag. Die „haptischen Gegenstände“, die mit den Filmen und den Begleitbüchern zu einem interaktiven Beschäftigungskonzept gehören, entwickeln Sophie und ihr kleiner Stab zusammen mit der Ergotherapeutin Gudrun Schaade.

Um dem Experiment einen organisatorischen und rechtlichen Rahmen zu geben, wurde die GmbH „Ilses weite Welt“ gegründet: Der Name hält das Andenken an die Großmutter fest. Das Unternehmen soll und kann sich nach den Probejahren allein tragen. Sophie Rosentreter will, wenn es denn irgend geht, keine öffentlichen Zuschüsse in Anspruch nehmen. Die finanzielle Bürde der Demenzpflege fordert vom Staat und von den Kommunen ohnedies mehr, als sie aufzubringen vermögen. Und der Druck wird härter. Umso wichtiger, dass sich Hilfsunternehmen wie „Ilses weite Welt“ strikt nach vernünftigen kaufmännischen Prinzipien kalkulieren. Eine professionelle Vorführlizenz kostet 40 Euro mehr als die private Nutzung des gesamten Sets: 149 statt 119 Euro. Spenden werden nicht abgelehnt.

Der Film „Ein Tag im Tierpark“ ist in kleine Kapitel unterteilt, von populären Elementen klassischer Musik begleitet, die nach den Feststellungen der Experten dem Gemüt der Kranken wohltun. Das Begleitbuch sammelt ergänzende Texte, Lieder, vertraute Redensarten, Märchen, Malvorlagen. In einer Schlussbemerkung schrieb Sophie Rosentreter: „Alles kann, nichts muss. Nehmen Sie sich Zeit im Umgang mit dem Demenzkranken, beobachten Sie, erfühlen Sie seine Stimmung und lassen Sie ihn Tempo und Thema vorgeben. Erwarten Sie nichts und seien Sie geduldig …

Und denken Sie daran: Es geht nicht darum, Inhalte zu transportieren, sondern Gefühle zu vermitteln. Schon eine ganz kleine Reaktion des Demenzkranken kann ein großer Erfolg sein! Das Ziel ist es, schöne Momente miteinander zu teilen und dem Demenzkranken das Gefühl zu geben, dass er geliebt wird und geborgen ist.“

Mit anderen Worten: Sophie will den Alltag der Kranken und der Betreuer mit einem Hauch von Lebensfreude menschlicher werden lassen. Sie betrachtet sich nicht als eine Diakonisse ohne Häubchen. Sie meint vielmehr, dass sie jedes Lächeln der Kranken als eine kostbare Belohnung betrachte, die sie selber glücklich mache. Die gescheiteste Form in der Tat, Menschen zu helfen, ohne das eigene Ego zu gefährden. Vielleicht ist es diese Einsicht, von der das strahlende Wesen und die Schönheit dieser grundsympathischen Frau geprägt sind.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.