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Generation Selbstausbeutung - Der Druck der Freiheit

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Wer frei ist, macht sich selbst am meisten Druck. So basteln wir uns eine Gesellschaft im Perfektionswahn, das Leben wird zur ständigen Performancekunst. Letzte Worte einer urlaubsreifen Kolumnistin

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Schöne neue Welt, in der jeder tun und lassen kann, was er will. Sabbatical in Indien, Leben auf dem Bauernhof, Gründung eines Start-Ups. Niemals waren die Möglichkeiten vielfältiger, die Freiheit größer. Und niemals war der Druck höher.

Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung schlägt Alarm: Grund für die hohe Kinderlosigkeit in Deutschland seien die erhöhten Ansprüche, die auf den Eltern lasten: Voraussetzungen wie die „materielle Absicherung“ und gleichzeitig die „berufliche Etablierung der Frau“, ein „klassisch verdienender“ Mann, der sich dann noch „aktiv in der Kinderbetreuung einsetzt“. Kurz: „Sozialer Druck und Perfektionismus erschweren die Elternschaft“. Das ist sicher alles richtig und die Mahnungen beklatschenswert, Wasser auf die Mühlen derer, die am Rande des Burnouts wandeln, weil sie auf dem einen Arm ihre Kinder balancieren, während sie mit dem anderen versuchen, die Tür zur Jobwelt offen zu halten.

Mir schwant aber, dass wir Eltern mit unserem Geheule übertönen, was noch viel schlimmer ist: In Wahrheit gilt der soziale Druck, den die große Freiheit mit sich bringt, genauso für Kinderlose und Großväter, für die Single-Akademikerin aus der Kleinstadt, den Mitte-Hipster – und nicht zuletzt für die Kinder selbst. Das Wehklagen der Eltern ist so laut, weil das Druckmittel „Kinder für den Erhalt einer Gesellschaft“ so schön leicht nachzuvollziehen ist.

System Selbstausbeutung
 

Und hier wird denn auch gehandelt. Kindergelderhöhung um vier Euro? Zack, Thema für die Politik erledigt. In diesem Windschatten bleibt dann alles andere, wie es ist. Moderne Unternehmen wie Netflix machen sich das System Selbstausbeutung zunutze, indem sie ihre Mitarbeiter freiwillig entscheiden lassen, wie viel Urlaub sie nehmen. Das klingt schön, hat aber den perfiden Nachhall, dass eigens verordneter Urlaub meist kürzer ausfällt als der vom Chef eingeteilte. Wer sich in Freiheit wähnt, wer Möglichkeiten über Möglichkeiten vorüberziehen sieht, spannt seine eigenen Ketten umso enger. „Choice overload“ nennt das die amerikanische Psychologin und Entscheidungstheoretikerin Sheena Iyengar.

Wenn potenzielle Eltern unter sozialem Druck stehen, bekommen sie einfach keine oder weniger Kinder. Klar. Aber was ist mit den Menschen, die sich selbst pausenlos unter Druck setzen, die nicht loslassen können, weil sie selbst ihr härtester Aufseher sind? Nicht nur in der Kinderaufzucht muss alles vom Feinsten sein: Das selbst aufgebaute Business? Läuft! Der Haushalt? Im Griff! Das Outfit? Fair trade und hip. Die Beziehung: Hochromantisch!

Eva Mendes, US-Schauspielerin und Ehefrau von Ryan Gosling, hat gerade verkündet, Jogginghosen und Crocs seien der Grund für gescheiterte Ehen. Sie hätte auch sagen können, wer in einer Beziehung bestehen will, muss rund um die Uhr performen – sonst ist es kein Wunder, wenn die Liebe ausbleibt.

Ausruhen ist keine Option. Wer abhängt, ist raus – das ist die Botschaft. Und wir haben sie inhaliert. Natürlich ist unser Leben super. Täglich treten wir auf Facebook den Beweis an, stündlich auf Twitter. Immer geistreich, immer ansprechbar, immer lustig.

Und wenn nicht? Wenn ich in Croqs und Jogginghose durch die Heide latsche, meine Kinder in löchriger Kleidung Süßigkeiten en masse essen lasse, keine Zeitung gelesen habe und den Küchentisch erst am Abend abräume? Was ist dann? Ich weiß es nicht, aber ich würde es sehr gerne ausprobieren.

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