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Unruhe als Lebenseinstellung - Fataler Konsens der Moderne

Kolumne Stadt, Land, Flucht: Unsere Gesellschaft ist dem Stress verfallen. Mit der permanenten Veränderung kommt die Hoffnung, dass alles irgendwann besser wird. Bei all der Rastlosigkeit bleibt aber die Moral auf der Strecke, fürchtet der Philosoph Ralf Konersmann

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Wir hatten kurz den Job getauscht: er die Kinder, ich die Tiere. Die Pferde mussten auf die Weide, die etwa 400 Meter trotteten sie neben mir her. Wahnsinnig langsam, so kam es mir vor, musste ich doch weiter: Zu der Glucke mit ihren Küken, die sich Zeit nahm und genussvoll im Gras pickte und herumstakste, während ich ungeduldig am geöffneten Gehege wartete, wo sie Schutz vor Katzen und Raubvögeln fände. Dann die Gänse. Es dauerte ewig, bis sie sich endlich in Bewegung setzten, um über die Straße und zwischen den Teichen zu verschwinden.

Und während ich die Tiere mahnte, sich zu eilen, kam ich mir wahnsinnig stressig vor. Dieser Zeitdruck war es doch, dem wir uns hier auf dem Land ein wenig entziehen wollten. Stattdessen war ich nun dabei, den Viechern meine eigene Unruhe aufzuoktroyieren.

Vom Lebensgefühl der „Happy Workoholics“ schreibt der Philosoph Ralf Konersmann in seinem gerade erschienenen Buch „Die Unruhe der Welt“. Er hat sie in Kunstwerken, Schriften, Geschichten und Philosophien aufgesucht und stellt sich die Frage, wann und warum wir eigentlich gelernt haben, diese Unruhe so sehr zu lieben. Verwunderlich ist es doch, liegt ihr kulturgeschichtlicher Ursprung doch in der Bibel, wo die Höchststrafe nach der Vertreibung aus dem Paradies lautete: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.“

Unruhe als Konsens der Moderne
 

Heute aber tritt die Unruhe in allen Lebensbereichen auf. Sie maskiert sich als Aktion, Veränderung, Bewegung, als Wandel, als Zerstreuung, Stress oder Burnout, wie Konersmann schreibt. Er stellt fest, dass sie „nicht in Gestalt der Beschleunigung oder der Gier in die eben noch intakte Welt eingebrochen“ ist. Vielmehr haben wir selbst die Ruhe als lethargisch und lähmend unter Verdacht gestellt, haben das Stehenbleiben und Nichtvorankommen, den Stau und die Flaute zu Inbegriffen des Schreckens gemacht. So wurde die Unruhe zum Konsens der Moderne. Sie ist damit alles, was wir zivilisatorisch erreicht haben und steht für das Versprechen, dass sich alles verändert, verändern muss. Die Unruhe sichert uns zu, dass es irgendwann besser wird.

Ohne die Rastlosigkeit also keine Hoffnung? Konersmann schreibt: „Es ist ihr gelungen, sich uns als die Summe unserer Weisheit zu empfehlen. So regiert sie unangefochten und absolut.“ Auf der Strecke bleibe dabei das moralische Empfinden, die Unruhe laufe leer und „in dem vergeblichen Bemühen, diese Leere mit Amüsement und Zerstreuung zu füllen, wird das Leben kurz“.

Gibt es Rettung? Konersmann plädiert für eine Kultur, die ihre Unruhe nicht immer weiter anheizt und blindlings steigert, sondern als „ihr Eigenes anerkennt und klug begrenzt“. Die Antriebsstruktur soll begriffen und beherrscht werden. „So eile denn zufrieden!“, hat Hölderlin im Jahr 1800, am Fuße der Moderne seinen Mitmenschen zugerufen. Das war offensichtlich leichter gesagt als getan.

Ich versuche es demnächst mal wieder bei einem Spaziergang mit den Pferden.

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