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Umgebracht von Martin Walser

Am 24. März wird er 80 Jahre alt: Martin Walser, der große Erzähler und Provokateur.

Wir parken ein, ich stelle den Motor ab. „Ich bring dich sofort um, Imre!“, sagt Martin neben mir auf dem Beifahrersitz. „Wie konntest du mich hierher entführen?“
Die Umgebung der kleinen Bücherei im verwinkelten Ortskern wirkt im trüben Winterlicht tatsächlich nicht einladend. Ich flehe um Gnade. Das Ambiente drinnen sei ansprechend, das Publikum erwartungsfroh, die Lesungsmatinee werde vorzüglich.
Martin gewährt eine Schonfrist. Schließlich führen wir nach dieser Veranstaltung zusammen weiter. Auf der Fahrt ausreichend Gelegenheit…
„Gestern in Genua, heute in Aichtal. Nicht jede Oase braucht eine Wüste“, begrüßt nach meiner Einführung Martin Walser das Publikum. Inzwischen mit der Situation sichtlich zufrieden, hält er eine begeisternde Lesung aus dem ersten Band seiner Tagebücher „Leben und Schreiben. Tagebücher 1951–1962“.
Staunen nach der Lesung. Was der Schriftsteller alles damals bereits erkannt habe. Das Tagebuch sei eine Quelle der Kreativität, enthalte schon Sätze, die man später zum Schreiben benötige, sei Ernährung der Dauer. Man habe eine Fülle an Notizen, wie ein Maler Skizzen, führt Walser aus.
In Gedanken sehe ich die lange Reihe noch unveröffentlichter Tagebücher. Es sind tatsächlich bereits Bücher. Blindbände von Verlagen, die zum Notieren benutzt werden. Von der ersten bis zur letzten Seite handschriftlich gefüllt. Mit druckkleinen Buchstaben in engen, schnurgeraden Zeilen. Manchmal von Skizzen unterbrochen.
Das Regal mit den Tagebüchern hinter seinem Schreibstuhl. Vom Schreibtisch der Blick auf den See. Das Blinken der Sturmwarnlichter vom gegenüberliegenden Bodenseeufer.
Hier im Dachzimmer seines Hauses in Nußdorf könne er mit seiner Arbeit allein sein, die Welt verlassen oder sie hereinlassen.
Abschied aus der Bücherei. Ehrlicher Dank an Veranstalter, ans Publikum, auch für meine „feinfühlige“ Einführung. Nachher, im Auto, schimpft Martin gespielt. Das sei mal wieder eine Sonntagspredigt gewesen. Zur Entschuldigung murmele ich etwas von Verehrung und Verteidigung. Und ernte einen freundschaftlichen Klaps hinter die Ohren.
Während der Fahrt, während wir uns über Schriftstellerverband und Verlage, über Literaturbetrieb und Literaturkritik, über Politik und Privates unterhalten (und es mich freut, noch nicht den Tod eines Kritikers erlitten zu haben), wehen Erinnerungen an die Windschutzscheibe.
Wie oft diese Anfragen wegen einer Lesung. Ein Oberbürgermeister. Die Festhalle stehe zur Verfügung. Und da ich doch gute Kontakte zu Walser hätte….
Ich wehre ab. Wisse, er sei zu beschäftigt. Solle es doch wenigstens probieren. Also Anruf. „Walser“, höre ich die sanft sonore Stimme. Er sitzt an seinem Schreibtisch. Blick auf den See. Vor sich Papier. Martin schreibt von Hand, schreibt auf die Rückseite bedruckter Blätter. Sparen als eine Tugend, die Freude bereiten kann. „Schau, es geht diesmal wirklich nicht. Ich will schreiben. Lass dir etwas einfallen.“
Ein andermal ist’s dringender. „Walser.“ Er sitzt am Schreibtisch. Mit Blick aufs aufgewühlte Wasser, auf den abschüssigen Garten, der am kiesigen Seeufer zwischen Schilfhalmen ausläuft. Er kam gerade von draußen, wo er eine Weile zur Entspannung mit dem Hund gespielt hat. „Schau…“
Ja, ich habe es geahnt. Aber diesmal gehe es um seinen runden Geburtstag. Der Schriftstellerverband wolle ihn feiern. Unbedingt. Nein, er möge das nicht. Vielleicht eine Veranstaltung zusammen mit seiner Tochter, der Schriftstellerin und Malerin Alissa. Eine Ausstellung ihrer Bilder. Und er liest.
Wenn es unbedingt sein muss!? Ja, muss. Hat doch nicht von ungefähr Joachim Kaiser geschrieben: „Walser ist ein funkelnder Friedenspreisträger. Sein riesiges Romanwerk sichert dem Poeten den Respekt des lesenden Deutschland. Walsers Fähigkeiten, zu schreiben und zu schwärmen, machen Walser-Bewunderer zu Walser-Süchtigen.“ „Schau…“
Wann bringt er mich um?
Die Untersuchungen wird sicherlich der einarmige Kommissar aus „Polizeiruf 110“ führen. Gespielt von Edgar Selge. Mehrmals zum Schauspieler des Jahres gekürt, Goldene Kamera 2007.
Martin lächelt anerkennend, als die Rede auf den Mann seiner Tochter, der Schauspielerin Franziska, kommt. In der Erinnerung sehe ich, selber noch verschlafen, Edgar Selge morgens schon mit dem Racket in der Hand über die Gartenterrasse in Nußdorf sprinten. Natürlich hat er nur in der Krimiserie einen Arm. Tennisspieler. Wie Martin.
Gegenwart. Wir fahren.
„Die, die sich am sehnsüchtigsten um die Vergangenheit bemühen, sind am meisten in Gefahr, das, was sie selber hervorgebracht haben, für das zu halten, was sie gesucht haben. Wir können nicht zugeben, daß es nichts gibt als die Gegenwart. Denn sie gibt es ja auch so gut wie nicht. Und die Zukunft ist eine grammatische Fiktion.“ Über diese Gedanken Martin Walsers habe ich eine philosophische Abhandlung geschrieben. Aber er mag noch beim Thema VS bleiben, von den Anfängen des Schriftstellerverbands erzählen. Wie er damals vor dem Medienzar Berlusconi gewarnt habe. Vor drei Jahrzehnten? Ja. Und bereits eine Kulturgewerkschaft gefordert habe.
Wie sieht er heute unseren VS, den gewerkschaftlichen Verband deutscher Schriftsteller? Nüchtern. Wesentlich nüchterner und illusionsloser als in der Aufbruchstimmung der sechziger, siebziger Jahre. Rückblickend grotesk, wie meinungsbeladen seinerzeit Kongresse verliefen. Der VS habe glücklicherweise eine Versachlichung erlebt. Ein Berufsverband als Interessenvertretung rechtlicher und sozialer Belange, das könne auch nach weit über dreißig Jahren tragfähig bleiben. Den Schutz vor dem Raubbau an Verträgen, den brauche auch ein Martin Walser noch immer. Buchpreisbindung! Verramschung seiner Bücher!
Martin in Fahrt. Organisierbar seien aber nur unsere wirtschaftlichen Interessen. Ohne Meinungsblasen, die an jedem realen Tag zerplatzen. Aber, bohre ich, hast nicht gerade du dich immer engagiert? Gegen Vietnamkrieg. Für Wiedervereinigung. Hast noch heiklere Themen öffentlich angepackt.
Ja. Nur könne man einem anderen nicht vorschreiben, dass er deine Gewissensempfindlichkeit teile. Obschon das eigene Gewissen andauernd Beispiele brauche. Du bist für dich verantwortlich. Das ist Aufgabe genug.
Aber Martin, erwartest du nicht, dass wir Kollegen zu dir halten? Nun hör aber auf zu sentimentalisieren! „Schau…“
Wann bringt er mich um?
Staudurchsagen. Danach singt Roberta Flack „Killing Me Softly With His Song“. Ich werde bald tanken. Martin sagt sofort, wie weit es bis zur nächsten Tankstelle sei. Er kenne die Strecke in- und auswendig, tags und nachts. Auch wenn er inzwischen die Bahnfahrt bevorzuge. Ja, sage ich, die Zeiten, als du mit dem Käfer quer über den zugefrorenen Bodensee heimgefahren bist, sind nicht mehr. Der friert ja nicht mehr zu, meint Martin lapidar.
Der Tank ist voll. Martin zieht Scheine aus der Jackentasche und bezahlt. Das Geld habe einen miserablen Ruf. Alle brauchen es. Alle haben es gern. Aber alle verleugnen es.
Wir fahren. Ich sehe ihn auf dem Frankfurter Parkett, im Fernsehinterview mit einem Börsenfachmann, über seinen Roman „Angstblüte“ reden. Der Hymnus auf die Kunst des Geldvermehrens habe doch eine eminent politische Seite.
Blasse Wintersonne bleicht die Frontscheibe, Farbreflexe tanzen. Die Krokusse am Geröllhang aus „Finks Krieg“ sehe ich. Krokushänge, die mir ähnlich auch Johanna beschrieben hat. Auf unseren Spaziergängen. Diesseits und schweizerseits des Sees. Johanna, auch eine schreibende Tochter des Dichters. Mit ihrem wunderlichen Versuch, da zu sein. Mit ihrem atemschönen Wetterleuchten.
Sie schreibe besser, anmutiger als der Vater. Meinte unter vorgehaltener Hand der Literaturkritiker – hm, darüber halte ich lieber die Klappe. Sonst passiert’s gleich.
Wir plaudern über Intrigen. Martin erzählt viel. Namen bekannter Verleger und Autoren springen von seinen Lippen. Und was er alles viel später erst erfahren habe. Wie der und jener klammheimlich…
Vor drei Jahrzehnten, unterbreche ich seine Ausführungen, hoffte ich, in diesem Club der lebenden Dichter Wahrhaftigkeit zu finden. Schmutzkampagnen passten doch nicht zu Intellektuellen. Martin schüttelt belustigt den Kopf. Weise? Amüsiert über meine Naivität? Vielleicht lässt er gerade den Wörterbaum in sich weiterwachsen, so wie das Gewissen, von dem er schrieb: „Gewissen – das ist ja ein Wort für den Prozeß, in dem entschieden wird, wie das, was du tust und denkst, zu bewerten ist, beziehungsweise ein Prozeß, den du in dir so lange betreibst, bis du es mit dem, was du tust und denkst, aushältst.“
Ich denke, wie oft ist er beschimpft, beleidigt, gar in eine Schmuddelecke gestellt worden. Wie viel Meinungsfreiheit, Verstehen, Toleranz gibt es hierzulande, wenn man ihn anschreit: Du bist kein Linker mehr! Kann ein Schriftsteller mehr sein als ein Wanderfotograf? Wie der in „Ein springender Brunnen“, er muss stets eine Auswahl treffen, deren Trefflichkeit erst viel später evident wird.
Immerzu will ich ihn verteidigen. Den genialen Sprachschöpfer. Den Meister des Stilvergnügens. Den Denker ungeahnt weiter Horizonte. Doch nie spräche der Gelegenheitschauffeur diese kindliche Liebeserklärung bei schneller Fahrt offen aus.
Auf der verspritzten Schutzscheibe tanzt mir mein Lieblingssatz aus seinem „Springenden Brunnen“ entgegen. „Auf einem Floß aus Sätzen über das Meer kommen, auch wenn dieses Floß, schon im Entstehen, andauernd zerflösse und andauernd, falls man nicht untergehen wollte, aus weiteren Sätzen wieder geschaffen werden müßte. Wenn er anfängt zu schreiben, soll schon auf dem Papier stehen, was er schreiben möchte.“
Wir sind angekommen. Abschied. Bitte noch dieses Buch signieren. „Für meinen Erzkollegen…“, schreibt er. Noch. Aber nachdem er diese flüchtigen Fragmente einer Erinnerungsreise gelesen haben wird? „Schau, Imre, nach dermaßen viel Geschwätzigkeit muss ich…“

Imre Török ist Schriftsteller, Publizist und Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller (VS). Er lebt im Allgäu

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