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Trennung von Staat und Religion? - Warum wir die Kirchen brauchen

Die Verdrängung des Religiösen ins rein Private ist weder liberal noch gemeinwohldienlich. Empirische Studien belegen die Bedeutung des Glaubens für die gesellschaftliche Integration. Eine Replik

Autoreninfo

Dr. phil. Andreas Püttmann (51) ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Zuvor war er Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und Redakteur beim "Rheinischen Merkur". Veröffentlichungen u.a.: "Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität" (1994), "Gesellschaft ohne Gott" (2010), "Führt Säkularisierung zu Moralverfall?" (2013).

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In seinem Plädoyer „Nehmt den Kirchen ihre Privilegien“ nimmt Cicero-Kolumnist Timo Stein die Forderung des Zentralrats der Muslime nach einer offiziellen politischen Vertretung in Berlin – vergleichbar denen von EKD und katholischer Bischofskonferenz – zum Anlass, Tabula rasa zu machen: Weg mit der ganzen „Verquickung von Staat und Religion“! Weg mit der von den Kirchen gesuchten „staatlichen Nähe und Alimentierung“! Weg mit der „Sonderrolle beim Arbeitsrecht“! Weg mit „steuerlichen Begünstigungen“, dem Recht, „Steuern zu erheben“ und der Mitwirkung der faktischen „Staatskirchen“ in „staatlichen Beiräten“. Mehr „Augenhöhe“ von Kirchen und Islamverbänden „auf einem möglichst niedrigen Niveau“, im Sinne einer „Gleichstellung nach unten“! Statt weiterer Verteilung des „Subventionskuchens“ bitte eine „Kuchenzurückholungsaktion ganz im Sinne des Grundgesetzes. Säkular und frei“! Das Brüllen des laizistischen Löwen kommt gut an: über 3000 Facebook-Likes!

Stammtisch-Laizismus
 

Im Eifer des Gefechts gerät dem Autor allerdings einiges durcheinander: Eine „Auflösung der Staatsleistungen an die Kirchen“ sieht das Grundgesetz ebenso wenig vor wie es einen „Verfassungsauftrag“ gibt, „die Kirchenstaatsverträge abzulösen“. Vielmehr ist eine „Ablösung“ der durch gigantische Enteignungen von Kirchengütern im 19. Jahrhundert begründeten Staatsleistungen durch abschließende Zahlungen auf Länderebene vorgesehen. Dass es hierzu in bald 100 Jahren noch nicht gekommen ist, liegt mehr an der Trägheit und Uneinigkeit der Politik als am Widerstand „Alimentations“-versessener Kirchen. Verträge zwischen Kirche und Staat widerstreben der Verfassung nicht im Mindesten; auch ist es nicht deren Ansinnen, „den politischen Einfluss jedweder Glaubensrichtung zurückzudrängen. Religion dort anzusiedeln, wo sie hingehört. Zwischen die eigenen vier Wände. Und nirgendwo sonst.“ Das, werter Kollege, ist gerade nicht die Freiheitsphilosophie des Grundgesetzes, sondern ein autoritärer, antiliberaler Stammtisch-Laizismus, der mich frösteln lässt. So eine Haltung gegenüber der öffentlichen Präsenz der Religion darf in Deutschland nie wieder herrschend werden.

Artikel 4 garantiert neben der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch die Freiheit des „religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Abs. 1) – eines naturgemäß öffentlichen Akts. Zur „ungestörten Religionsausübung“ (Abs. 2) gehören nicht nur Kulthandlungen, sondern laut Bundesverfassungsgericht auch religiöse Erziehung, karitative Tätigkeit und „andere Äußerungen des religiösen Lebens“, des Einzelnen wie der religiösen Vereine. Nur logisch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen auch Auswirkungen im Arbeitsrecht haben darf. Wenn die katholische Kirche ihre Einrichtungen nicht mehr nach katholischen Grundsätzen mit vorzugsweise katholischem Personal führen dürfte – mit Differenzierung nach Art der Tätigkeit –, dann wäre es um Freiheit und Toleranz in unserem Land schlecht bestellt. Leitbilder sind immer auch Leitdifferenzen. Eine Kopie des gesellschaftlichen Mainstreams muss und darf eine Kirche nicht sein.

Und wieso sollten die Kirchen ihre einkommensabhängigen Mitgliedsbeiträge nicht von der staatlichen Steuerbürokratie, die dafür gut honoriert wird, einziehen lassen dürfen? Das ist am einfachsten, sozial gerecht und schadet niemandem. Ein Sonderbeitrag von Christen, den konfessionslose Bürger nicht zahlen, obwohl sie auch davon profitieren, wo kirchliche Eigenmittel oder ehrenamtliches christliches Engagement in die soziale Infrastruktur einfließen. Eine unkritische „Staatsnähe“ der Kirchen durch diese Kooperation lässt sich für die Bundesrepublik nicht nachweisen. Dafür haben Bischöfe und Pastorinnen die Politik viel zu oft „beharkt“. In Abhängigkeiten drohte vielmehr eine rein spendenfinanzierte Kirche zu geraten. Indem die Kirchensteuer durch die Finanzierung weit verzweigter Strukturen sozialer Begegnung und Partizipation eine ständige Rückkopplung der Kirche mit der säkularen Gesellschaft garantiert, verringert sie auch das Risiko sektiererischer Selbstreferenzialität und kann damit gerade eine schrumpfende Kirche vor einem Wagenburgsyndrom bewahren, das zur gesinnungsdilettantischen Radikalisierung tendiert.

Mehrheit der Bevölkerung gehört einer christlichen Konfession an
 

Da aus dem Glauben individual- und sozialethische Überzeugungen erwachsen, für die einzutreten das Gewissen verpflichtet, ist es selbstverständlich, dass gläubige Menschen auch ein Interesse an der gesellschaftlichen Ordnung entwickeln und politisch Einfluss nehmen wollen, wie andere weltanschauliche Gruppierungen auch. Daran ist nichts demokratisch Unanständiges, im Gegenteil. Wenn die Kirchen durch ihre schiere Masse – fast 60 Prozent der Bevölkerung gehören einer christlichen Konfession an –, durch die Vielfalt und Intensität ihres Engagements sowie aus einem tief in unserer Geschichte wurzelnden organisatorischen Knowhow und Selbstbewusstsein heraus mehr Einfluss als andere religiös-weltanschauliche Gruppen auszuüben vermögen – so what? Ein so wichtiger nationaler wie globaler Player darf und sollte auch eine Vertretung am Sitz der Bundesregierung unterhalten - selbstverständlich aus dem eigenen Haushalt finanziert. Jeder anderen Religionsgemeinschaft steht es frei, dies ebenso zu tun.

In zweierlei Hinsicht gebe ich Timo Stein Recht: Die Staatsleistungen wirken – Rechtstitel hin oder her – nach so langer Zeit antiquiert und sollten abgelöst werden, auch um dem Soupçon einer zu großen Verquickung der Interessen entgegenzuwirken. Und mit rein traditionalen oder grundrechtlichen Argumenten ist das Staatskirchenrecht auf Dauer nicht zu erhalten. Zwar wird eine striktere Trennung von Kirche und Staat Umfragen zufolge noch mehrheitlich abgelehnt; der Anteil derer, die dem Christentum in Deutschland „gegenüber anderen Religionen eine bevorzugte Stellung“ einräumen wollen, weil es „zum Kern unserer Kultur gehört“, ist zwischen 2004 und 2012 sogar von 41 auf 48 Prozent gestiegen, die Gegenmeinung: „Alle Religionen  in Deutschland sollten gleichberechtigt sein“ von 39 auf 35 Prozent gesunken. Doch sieht das Meinungsbild in der jüngeren Generation schon umgekehrt aus. Der wachsende konfessionslose Bevölkerungsteil muss rational davon überzeugt werden, dass ihm durch das partnerschaftliche Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften keine Nachteile entstehen, womöglich sogar eher ein Nutzen.

In einer Erklärung des Kreisauer Kreises vom Mai 1942 zum Verhältnis von Staat und Kirche in einem künftigen demokratischen Deutschland hieß es: „Wir sehen im Christentum wertvollste Kräfte für die religiös-sittliche Erneuerung des Volkes, für die Überwindung von Hass und Lüge, für den Neuaufbau des Abendlandes, für das friedliche Zusammenarbeiten der Völker“. Heute belegen empirische Studien die Bedeutung des Glaubens für die gesellschaftliche Integration: „Sowohl die Bereitschaft zum sozialen Engagement als auch das zwischenmenschliche Vertrauen – die beiden zentralen Bestandteile des Sozialkapitals – sind unter religiös gebundenen Personen höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Insbesondere das Christentum leistet einen bedeutenden Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft“ (Bertelsmann-Religionsmonitor 2013).

Das durch die Kirchen aufgebaute soziale Kapital wirkt als „Bridging Capital“, das im Unterschied zum „Bonding Capital“, von dem nur die eigene soziale Gruppe profitiert, die Distanz zur weiteren Gesellschaft überbrückt. Christlich Gläubige bringen nicht nur Menschen, die ebenfalls religiös sind und der gleichen Religionsgemeinschaft wie sie selbst angehören, ein hohes Vertrauen entgegen; bei ihnen sind auch die Vertrauenswerte gegenüber Konfessionslosen höher als bei den Konfessionslosen selbst. Zudem haben sie im Durchschnitt weniger Vorbehalte, mit Menschen anderer Religion, Hautfarbe oder Herkunft in Nachbarschaft zu leben.

Kirche tut Gutes
 

Nicht nur mit ihren großen institutionellen Werken der Caritas und der Diakonie, sondern auch durch ihre Beiträge zur Herzens- und Gewissensbildung im Sinne der Nächstenliebe und der Verantwortung vor Gott wirken die Kirchen segensreich in unserer Gesellschaft. Sie sind zudem wichtige Bildungsträger, Akteure der internationalen Verständigung und tragen durch individuelle Sinnstiftung für Millionen Menschen zur Geborgenheit und Lebenszufriedenheit bei; diese wiederum wirkt positiv auf Präferenzen und Änderungsstrategien im sozialen und politischen Raum. Kirchennahe Bürger wählen weniger radikale Parteien von links und rechts.

An ihnen scheiterte der Einzug der NPD in die Landtage von Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Gemeinwohldienste der Kirchen sind daher keineswegs nur an Zahl und Größe diakonischer Einrichtungen, an Kindergärten und Schulen, Entwicklungshilfe und Spendensummen zu messen. Noch wichtiger ist: „Die Vitalität der religiösen Kultur beeinflusst das Wertesystem der Gesellschaft“ (Renate Köcher): von Lebensschutz und Kinderfreundlichkeit über Rechtsgehorsam und  Leistungsbereitschaft bis hin zu Beziehungsstabilität und Verantwortungsgefühl.

Der bekannteste staatsphilosophische Satz der Bundesrepublik stammt vom ehemaligen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (1967). Meistens wurde dieser Satz im Sinne einer Annahme des zweiten Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers verstanden: „Der Staat lebt nicht nach den Weisungen der Kirchen, aber von den Früchten ihrer geistlichen Existenz“. Wer die Abrissbirne gegen das gewachsene Miteinander von Staat und Kirchen in unserem Land schwingt, der könnte – auch wenn sich das erst viel später zeigen mag – an dem Ast sägen, auf dem er selbst sitzt.

Oder andere, schwächere Mitmenschen. Nicht zuletzt die unübertroffenen Zeichen, die jüngst vom Kölner Dom ausgingen gegen ein dumpfes, fremdenfeindliches Ressentiment, für die gleiche Würde aller Menschen und die besondere Zuwendung zu Notleidenden und Drangsalierten, verdeutlichen, was der grundgesetzliche Staat an seinen christlichen Bürgern und ihren Kirchen hat. Ihr Glaube ist eine Humanitätsressource, die tatsächlich förderungswürdiger ist als es der oberflächliche Blick auf kirchliche „Privilegien“ ahnen lässt.

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