
- Totentanz und Pandemie
Die verheerenden Seuchen des Mittelalters brachten das Motiv des „danse macabre“ hervor, in dem der Tod als allegorische Figur dargestellt wurde. Da man der Vergänglichkeit einen Sinn zuschrieb, ließ sich mit ihr leben. Erst die Säkularisierung machte den Tod zum Skandal, der auch dadurch nicht beseitigt wird, dass die digitale Revolution die Illusion der Unsterblichkeit nährt.
Das mittelalterliche Motiv des Totentanzes gewinnt inmitten der Corona-Pandemie bittere Aktualität. Weltweit sind bislang über fünf Millionen Menschen an oder mit Covid-19 verstorben. Diese Zahl ist zwar nur ein Bruchteil der Opferzahlen schwerer Pandemien wie der Schwarzen Pest im Mittelalter oder der Spanischen Grippe vor über 100 Jahren. Aber gemessen am heutigen medizinischen und kulturellen Standard ist sie doch schockierend hoch. Der Tod tanzt mitten hinein ins moderne und postmoderne Leben. Der sogenannte Fortschritt kann seinen Tanz nur verlangsamen, aber nicht verhindern.
Damit ist es der Gesellschaft insgesamt schwerer geworden, den Tod zu verdrängen. In unserer industrialisierten und technisierten Kultur leben wir weithin in einem strukturellen Verblendungszusammenhang, glauben an stetes Wachstum und greifbare Wellness. Aber die Pandemie hat uns aufgestört. Sie trägt mit anderen Faktoren bei zu einem zunehmenden globalen Krisenbewusstsein. Apokalyptische Befürchtungen sprießen unabhängig von religiösen Kontexten empor. Verschwörungsmythen lassen sich als ein verzweifeltes Echo auf den Totentanz im dritten Jahrtausend deuten.
Die Pestwelle des 14. Jahrhunderts machte alle gleich
Aufgekommen war das Motiv des Totentanzes um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als eine furchtbare Pestwelle ganz Europa durchzog. Damals begann man, den Tod als Knochengerippe abzubilden. Bald darauf entstand der „Totentanz“ als eigene Kunst- und Literaturgattung – zuerst in Frankreich, „danse macabre“ genannt. Dargestellt wurden Leute jeden Standes und Alters, die einen Reigen mit dem Tod oder mit einem Toten tanzen. Das Makabre solcher Bilder bestand in der Verbindung von tragischen und fröhlichen Motiven.
Passt das nicht irgendwie zu unserer pandemisch verstörten und doch digital in heiterer Stimmung verharrenden Gesellschaft? Ist nicht der religiös tröstende Horizont von einst gutenteils ausgetauscht durch eine neuartige digitale Religion, wie sie das Buch „Google Unser“ von Christian Hoffmeister darstellt? Doch wie weit reicht der durch Cyber-Attacken zeitnah und durch Vergänglichkeit auf Dauer prinzipiell recht poröse Trost der technologischen Welten?
Die Frage lohnt sich, was Anlass zum heiteren Element in den mittelalterlichen Unglückszeiten gab. Dass der Tod in den Totentanzmotiven als handelnde Person auftrat, ließ ihn letztendlich als gehorsamen Diener Gottes erscheinen, vor dessen Richterstuhl er den Sterbenden ja zu befördern hatte. Jedermann muss „nach seiner Pfeife tanzen“, aber hat er selber nicht seinerseits einen Herrn über sich, auf den man folglich hoffen darf?
So heißt es in einem „Schnitterlied, gesungen zu Regensburg, da eine hochadelige Blume unversehens abgebrochen wurde im Jenner 1637“: „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, hat Gewalt vom großen Gott.“ Der sinnlos wütende Tod – doch nicht einfach ohne letzten Sinn, ohne eine abgrundtiefe Hoffnung! Da gähnt noch kein nihilistischer Schlund, wie er sich namentlich in der Philosophie des 19. Jahrhunderts auftat und heute den metaphysischen Hintergrund des vordergründig frohgestimmten Transhumanismus bildet.
Tod und Humor bildeten keinen Widerspruch
Der Tod, nicht als radikales Ende, sondern religiös als vorläufige Macht verstanden, musste im Mittelalter nicht verdrängt werden: Mit ihm konnte man – wenngleich natürlich nicht ohne Schmerz – durchaus leben. Bei aller Grausamkeit hatte er etwas Spielerisches an sich, das sich im Motiv des Tanzes ausdrückte. Eben nicht nur als Schnitter, sondern auch als Spielmann mit Laute, Dudelsack oder Bassgeige stellte man ihn dar. Denn er ließ über sein Walten hinaus auf das Walten dessen blicken, der Auferstehung vom Tod und ewiges Leben verheißt, ja schon im Glauben anheben lässt.
Der Ernst des Todes und das Element des Humors bildeten damals keinen krassen Widerspruch. So wurden die mahnenden Totentanzbilder in der Regel durch dichterische Verse erläutert, die von innerer Heiterkeit zeugten. Beispielsweise hieß es beim Tod einer Tänzerin: „Nun haben wir so lang getanzt, Bis mich der Tod hat eingeschanzt.“ Oder beim Hingang eines Soldaten: „Bis hierher und nicht weiter, Du guter alter Streiter!“
Es ging in den Totentanzmotiven des Spätmittelalters bis hinein in die Anfänge der Neuzeit keineswegs nur um eine ars moriendi, eine „Kunst des Sterbens“, die erst auf dem Sterbebett zum Zuge kommen sollte, sondern um eine mitten im Leben greifende Vergegenwärtigung der Sterblichkeit und ihrer religiösen Transzendenz.
Insofern plädierten sie für tiefe Lebenskunst statt für Sterbekunst. Unübersehbar stellten sie die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des eitlen Strebens nach menschlicher Pracht, Bedeutung und Sicherung heraus. Möglich war das sozialpsychologisch nur dank der religiösen Hoffnung auf das ohne Ansehen der Person in Aussicht stehende Geschenk künftiger Auferstehungsherrlichkeit.
Erst mit dem Anbruch der Neuzeit begann diese Hoffnung langsam zu schwinden. Oder anders formuliert: Sie wurde zunehmend transformiert in eine innerweltliche Hoffnung. Aus dem neuen Äon des verheißenen Gottesreiches wurde die Neu-Zeit des „mündig“ gewordenen, aufgeklärt seine Zukunft selber gestaltenden Menschen. Der christliche Glaube an die Heilsgeschichte wurde säkularisiert, verweltlicht zum immanenten Fortschrittsglauben. Menschliches Glücks- und Herrlichkeitsstreben gerieten damit allerdings zusehends unter den Bann radikaler Vergänglichkeit – und damit unter den Zwang zur „Zerstreuung“.
Der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal konstatierte schon in der frühen Neuzeit: „Da die Menschen kein Heilmittel gegen den Tod, das Elend, die Unwissenheit finden konnten, sind sie, um sich glücklich zu machen, darauf verfallen, nicht daran zu denken.“ Der Bedeutungsverlust christlicher Heilshoffnung brachte es mit sich, dass man den Tod nicht mehr aushalten konnte. Die Erinnerung ans Sterbenmüssen passte nicht mehr in das Schema innerweltlicher Selbstvervollkommnung auf technisch-industrieller Basis. Man musste den Tod deshalb aus dem Wirklichkeitskonzept der Moderne herausdrängen: Ihr sollte er möglichst nicht mehr dazwischentanzen.
Der Transhumanismus will den Tod überwinden
Die gesellschaftliche Tabuisierung des Todes nahm ihren entscheidenden Aufschwung zu einer Zeit, als die Rede vom „Tod Gottes“ umzugehen begann. Und als im 20. Jahrhundert der Tod in zwei Weltkriegen wie in schlimmsten Epidemien zuschlug, da war das Motiv vom Totentanz kein passendes mehr – mochte auch in dem Roman „Hunde, wollt ihr ewig leben?“ von Fritz Wösse von „einer Orgie millionenfachen Totentanzes“ die Rede sein.
Es war vor allem die bildende Kunst, die den Totentanz für die späte Moderne wiederentdeckt hat. Das Interesse an diesem Motiv hatte um den Jahrtausendwechsel herum merklich zugenommen – zusammen mit einer Tendenz zu wiedererwachender Religiosität. Aber diese Welle ist wieder abgeebbt, seit die digitale Revolution sich anmaßt, Unsterblichkeit technisch realisieren zu können.
Eine Generation nach uns soll es bereits soweit sein, dass menschliches Bewusstsein auf Maschinen übertragen werden und so den Tod überdauern kann. Zumindest für die Reichen, die sich so etwas werden leisten können. Vielleicht werden es dann die Ärmeren sein, die sich damit trösten, was schon in der Bibel zu lesen ist und die Naturwissenschaft längst bestätigt: Himmel und Erde werden vergehen. Also auch alle menschengemachte Technik.
Echte Unsterblichkeit und Auferstehung sind logischerweise allein vom Schöpfer und Vollender des Universums zu erwarten. Nur dort, wo man nach wie vor auf ihn vertraut, kann man dem Tod mit einer gewissen Heiterkeit begegnen – und ihn auch inmitten der Pandemie im Tanzschritt aufwarten sehen. Wer die Musik des Totentanzes zu vernehmen in der Lage ist, der ist musikalisch genug, um zu ahnen: Es gibt auch noch eine andere, nämlich eine himmlische Musik, von der übrigens viele Nahtoderfahrungen aus heutiger und früherer Zeit erzählen. Der Tod hat nicht das letzte Wort: Ein neues Lied zu singen, verheißt das letzte Buch der Heiligen Schrift den Hoffenden.
Den Rhythmus des Totentanzes trägt die Melodie eines Gegentanzes, der die Zyklik natürlicher Vergänglichkeit durchbricht und die der Ewigkeit einsetzen lässt. Christenmenschen kommen von der Auferstehung Jesu her und können im Blick auf die verheißene Erlösung mit Psalm 126 formulieren: Dann „werden wir sein wie die Träumenden, dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein“. Noch hat der Tod Gewalt, aber es gibt inmitten dieser vergänglichen Welt eine glaubwürdige Perspektive des Sieges über den Tod. Sie fordert auch die Zweifler auf, der Musik des Totentanzes zu lauschen und darin einen nicht nur todeswütigen, sondern zugleich hoffnungsmutigen Rhythmus zu entdecken, der ansteckend sein könnte.