Bücher des Monats - Spaß im Walfischformat

Wie Hans-Horst Henschen uns ein monomanisches Werk von Flaubert schenkt, das bisher niemand kannte

Dummheit bedeutet nicht Unwissenheit oder Begriffsstutzigkeit, ein Minus oder einen Mangel also; sie stellt etwas ganz und gar Positives dar: eine moralische Kategorie. Dummheit weiß – oder weiß jedenfalls, dass sie wissen könnte –, zieht es aber vor, dies nicht zu tun, um es bequemer zu haben. Sie tritt zwar auch im Modus der Verbohrt­heit auf, doch meist ist ihr das zu strapaziös: Dummheit findet traumwandlerisch, wie fließendes Wasser, den Weg des geringsten Widerstands. Dummheit ist das, was in den Türen steht, wenn andere durchwollen, und was beim Pianissimo mit Bonbontüten knistert; und stellt man sie zur Rede, versteht sie gar nicht, wie man sich so erregen kann, wo sie doch bloß … Wer sich mit der Dummheit anlegt, den zwingt sie dazu, sie zu hassen, und dieser Hass überschattet sein ganzes Leben.

Diese Vorrede ist nötig, damit einsichtig wird, was Gustave Flaubert getrieben hat – lebenslang, in seinen letzten zehn Jahren jedoch mit einer monomanen Ausschließlichkeit, die man so bewundernswert wie erschreckend finden kann. Das riesige Anti-Dummheitsprojekt, in dessen Dienst er alle seine Kräfte stellt, ergießt sich als ein Strom mit vier Armen: als wüstes unge­hemm­tes Schimpfen, sozusagen als Wildwasser, in seinen Briefen; als die Schlammlawine der Materialsammlung; und in den beiden besser kanalisierten Betten des «Wör­terbuchs der vorgefassten Meinungen» (Dictionnaire des idées reçues) sowie seines letzten Romanvorhabens, «Bouvard et Pécu­chet» (siehe „Literaturen” 9/2003).

Die Arme eins, drei und vier – Briefe, Wörterbuch und Roman – sind schon lange ediert. Vom Wörterbuch hat nur der erste Teil Gestalt gewonnen, die «Opinions chic», und dasselbe gilt vom Roman. Diese beiden Teilprojekte haben sich den Firnis einer Handlung bzw. eines Systems aufgelegt und konnten Bücher werden, mit einem Deckel vorn und einem Deckel hinten zum Zeichen eines wenigstens äußerlichen Abschlusses. So stehen sie im Regal, Fragmente zwar, doch als Torsi von heroischer Endgültigkeit.


Sottise und Bêtise sind zweierlei

Anders ist es dem zweiten und umfänglichsten der vier Arme ergangen, dem so genannten «Sottisier». Die Sottise ist die einzelne Dummheit, als Handlung oder Ausspruch, im Unterschied zur sonst von Flaubert bevorzugten Vokabel, der «Bêtise», wel­che die Dummheit als unverwüstliches Fundamental-faktum meint, jedem Akt vo­raus- und zugrunde liegend. Das «Sottisier» stellt ein riesiges Konvolut aus Exzerpten dar, von dem Flaubert voller Stolz sagt, es sei keine Zeile davon auf seinem eigenen Mist gewachsen («de mon cru»).

«Ich verschlinge Druckseiten», schreibt er in einem Brief, «und mache mir Notizen für ein Buch, in dem ich meine Galle auf meine Zeitgenossen auszuspeien versuchen werde. Diese Kotzerei wird mich wohl mehrere Jahre in Anspruch nehmen.» Nicht unbedingt eine angenehme Vorstellung. Das Resultat ruhte fast ein Jahrhundert in acht großen Schubern und entmutigte die Herausgeber. Maupassant, Flauberts Ziehsohn und literarischer Erbe, besah es sich und ließ es dann resigniert zurückgehen. Erst seit den sechziger Jahren kam es in Frankreich zu ernsthaften Versuchen, dem Monstrum zu Leibe zu rücken. Und nun also gibt es die Ausgabe von Hans-Horst Henschen.


Der Kompilator als Autor

«Ein unbekanntes Werk Flauberts ­– erstmalig in deutscher Übersetzung», verkündet der Eichborn-Verlag auf dem Umschlag. Das ist eine bescheidene Untertreibung. Henschen hat tatsächlich noch viel mehr getan: Er hat eine handhabbare Edition hergestellt, die es auch auf Französisch noch nicht gab. Flaubert hat diejenigen Passagen, die er in Reinschrift kopiert wünschte, markiert – und ausschließlich diese Stellen hat Henschen herausgezogen. Es ist ein sehr acht­barer Kompromiss, der einen Band von «nur» 700 Seiten Umfang ermöglicht, wozu noch ein kleinerer Begleitband mit wichtigen, aber unmarkierten Exzerpt-Bündeln kommt.

Zu den oft obskuren Quellen und Autoren liefert Henschen ausführliche Kom­mentare, die sich zu einer Bio-Bibliografie des französischen Geistes im 19. und teils auch 18. und 17. Jahrhundert summieren. Er hat ein ungeheures Werk an Fleiß und Ausdauer vollbracht, bestimmt nicht gerin­ger als das von Flaubert selbst. Einen «Spaß im Walfischformat» habe er sich gemacht, sagt er; diesen Spaß merkt man dem Stil des Kommentars auch an, wenn er hier und dort über die eng gesetzten wissenschaftlichen Pflichten hinausschießt und etwas «de son cru» hinzufügt, auch mit Tadel über Flaubert nicht zurückhält, wenn dieser sinnentstellend oder gar absichtlich verfälschend zitiert, was gar nicht so selten vorkommt.


Borniertheiten und andere Fürze

Was fängt der Leser damit an? Als «Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit» wird ihm das Buch in die Hand gelegt; aber so etwas kann es naturgemäß gar nicht geben. Nicht, als ob nicht auch die systematische Dummheit existierte; die ist sogar besonders penetrant. Aber im Großen und Ganzen gehört zur Dummheit doch ihre Inkonsequenz, und man weiß nie, in welchem schiefen Winkel sie gleich davonflattern wird.

Flaubert hat versucht, Ordnung in den Wust zu bringen, es gibt Themenbereiche wie «Schönheiten», «Korrigierte Klassiker», «Annoncen, Reklamen, Rundschreiben», «Erhöhung des Niedrigen», «Beschimpfungen, Dummheiten, Niederträchtigkeiten» und viele mehr. Aber das Material hat die starke Tendenz, seine Rubriken zu sprengen. Würde man unter «Schönheiten des Mesmerismus» etwa das Folgende erwarten? «Nach einer Viertelstunde fortgesetzten Magnetisierens ließ das arme Tier eine Flut von Fürzen los, die uns sehr erfreu­ten und seine baldige Heilung herbeiführten» – ein Zitat aus dem «Praktischen Leitfaden des Magnetismus und des Somnambulismus».

Der Leser sollte jedoch auch nicht zu erratisch verfahren, nicht ausschließlich um seiner Belustigung willen auf «Stellen» pirschen gehen, sonst verbirgt sich ihm das konstitutive Merkmal der Masse: Er verfehlt den beharrlichen, ja verzweifelten Ernst der Sache, das, was Flaubert als sein unausgesetztes «Kotzen» bezeichnet. Die einzelne Äußerung eines Abbés oder Paters – die hier zu Dutzenden ihren Auftritt haben –, mag erheiternd wirken; alle zusammen liefern ein Bild der bösen Borniertheit, das der intellektuelle Katholizismus jenes Jahrhunderts bietet.


Wie man Kindersoldaten züchtet

Ganz zu Recht rechnet Flaubert unter die Dummheiten auch die Lüge: «Nie ist es ir­gendeinem Philosophen in den Kopf gekom­men, die Sklaverei zu verdammen, bevor das Christentum es tat», behauptet Joseph de Maistre, der von Flaubert am inbrünstigs­ten gehasste, wenigstens am ausgiebigsten zitierte Autor: Die Dummheit bestätigt sich nicht zuletzt darin, dass sie ihre eigenen Lügen wie Wahrheiten zu glauben vermag.

Wer je Lust verspürt haben sollte, Chateaubriand oder Rousseau im Original zu lesen, hier wird er sie los. Die frühen Sozialisten erscheinen im Morgen-Zwielicht eines adamitischen Totalitarismus, der noch keine praktischen Erfahrungen sammeln konnte und darum zum Phantastischen neigt, aber jedenfalls schon den Hang zur Gewalttat hat. «Die Zebras, verführt und nicht durch heute unpraktikable Methoden gezähmt, dienen gelehrig als Reittiere für die Kinder von zehn bis zwölf Jahren, die so Schwadronen der leichten Reiterei bilden», schreibt Fourier. Ist das eine Dummheit? Es fängt so schön an, mit den Tieren, die sich verführen lassen, mit Zebras und Kindern, die sie reiten, fast wie eine Episode von
«Little Nemo» – doch der Zweck liegt in der He­ranzüchtung von Kindersoldaten.

Auch wenn er dies alles in Rechnung stellt, bleibt im Leser als Bodensatz der amüsanten Aufschlüsse eine gewisse Trauer zurück. Ja, dies ist, ganz wie der Verlag es behauptet, «ein unbekanntes Werk Flauberts». Ein Werk indessen, an dem, ungeachtet der titanischen Mühe, die der Autor aufgewendet hat, alles noch zu tun bleibt.

 

Burkhard Müller, Jahrgang 1959, ist Dozent für Latein an der TU Chemnitz und freier Literaturkritiker. Soeben erschien seine Studie «Der König hat geweint. Schiller und das Drama der Weltgeschichte».

 

Gustave Flaubert
Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Ein Sottisier
Hg., aus dem Französischen übersetzt und annotiert von Hans-Horst Henschen. Mit einem Begleitband: «Transkribierte Handschriften und Kommentare».
Eichborn, Berlin 2004. Zus. 939 S., 36,90 € und 14,90 €

Vor den schon da gewesenen praktischen Revolutionären lernt man erst recht das Gruseln. «Ich habe gerade zweihundert Köpfe in Lyon rollen lassen; ich bin entschlos­sen, Tag für Tag weiter so zu verfahren; Tränen der Freude und der Tugend überschwem­men meine Lider unter dem Ansturm einer heiligen Empfindsamkeit.» So spricht Joseph Fouché, der abgefallene Mönch, der vier Régimes als Polizeiminister diente; und man sieht, wie eine sentimentale Duselei sich aufs Widerlichste mit Brutalität paart.


Ressentiment als Triebfeder

Was ist daran spezifisch dumm? Denn dass die Dummheit an der Niedertracht solchen Sprachhandelns ihren Teil hat, lässt sich schwer verkennen. Aber es gehört zu den Bedingungen der Flaubertschen Produktions­weise, solche Fragen ganz grundsätzlich nicht zu stellen. Flaubert hat in allem, was er tut, ein einziges Mittel zur Verfügung: die Reihung, kommentarlos. Sie muss, so schwach sie von Haus aus ist, für ihn die gesamte Arbeit besorgen.

Im «Sottisier», wie auch im «Wörter­buch der vorgefassten Meinungen», verbietet Flaubert sich (fast) jedes Wort, das über das Zitat hinausgeht. Den energiereichen Affekten, aus denen solche monomane Sam­­melei entspringt, der Wut und dem Hass, verwehrt er die adäquate Äußerung, und so brechen sie, amorph und amorph lä­cher­lich, allein aus seinen Briefen hervor. So formlos treten sie hier zutage, dass man sie ihrerseits in gewisser Hinsicht als dumm bezeichnen könnte. Flaubert lässt sich, wenn er seine Kollektaneen anlegt, einzig von seinem Gefühl leiten, von seinem Ressentiment gegen und seinem Gespür für die Dummheit; aber er bemüht sich nie, dieses Gefühl bewusst und ausdrücklich zu machen, es zu verfeinern und zu bilden.

«Lehrjahre des Gefühls» – ihm wurden sie nicht zuteil. Und so verbindet sich die heldenhafte Mühe, die er auf sich nimmt, mit einem bestürzenden Mangel an Metho­de. Jene Art von Dummheit, die die Seufzer­brücke nach Florenz verlegt oder den Busen als «weiche Fülle dieses zarten Doppelrunds» apostrophiert, kann schlechterdings nicht identisch sein mit dem, was Fouché zum Besten gibt. Flaubert ist außerstande, den Unterschied zu fassen.

Hans-Horst Henschen tritt die Flucht nach vorn an und erklärt gerade dies, das nicht-lineare Chaos der gefundenen Objekte, zu Flauberts zukunftsträchtigem Zug: Er beansprucht Flaubert als Vorläufer der Moderne. Das ist er nicht, oder nur in ihren trübsten Aspekten. Um seine Behauptung zu stützen, beruft sich Henschen auf Walter Benjamin und dessen «Passagen-Werk», das in seinem Material große Überschneidungen mit dem «Sottisier» aufweist. Aber gera­de hier dürfte Benjamin am allerwenigsten modern sein: Noch weiter als bis zur «Berliner Kindheit um 1900» träumt er sich hier zurück, in den Uterus von Paris um 1850. Ihr Ethos des reinen Sammelns weist sie beide, Benjamin und Flaubert, so verschieden die Vorzeichen sonst auch sein mögen, dem Innersten des 19. Jahrhunderts zu.


Alles bleibt noch zu tun

Man versteht Flauberts Kampf gegen die Dummheit in seiner reflexionslosen Unbedingtheit, den Hass auf sie (und auch die Angst vor ihr) nur, wenn man ihm die religiöse Dimension zugesteht. Dummheit ist Sünde, das schlechthin zu Verwerfende: Mehr braucht man von ihr nicht zu wissen. Sie auf den Begriff bringen wollen, heißt sich schon zu tief mit ihr eingelassen haben, ihr halb erlegen sein. Dumm sind die Tausende von Zitaten des «Sottisier» in derselben Weise, wie die Versuchungen des heiligen Antonius in der Wüste böse sind: auf eine peinigend deutliche, drohende und doch wesenlose Art, die den Geist zu nichts als zur heldischen Abwehr mobilisieren darf.

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