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Liebe in Zeiten der Krise / dpa

Sinnlichkeit in Corona-Zeiten - Im Wandel des Miteinander

Die Corona-Krise macht der Zwischenmenschlichkeit und Nähe einen Strich durch die Rechnung. Das soziale Leben spielt sich überwiegend online ab. Wenn der Lockdown endet, was haben wir dann zu erwarten?

Vladimir Vertlib

Autoreninfo

Vladimir Vertlib ist Schriftsteller. Er veröffentlichte unter anderem die Romane  „Lucia Binar und die russische Seele“, „Letzter Wunsch“ und „Schimons Schweigen“ sowie den Essayband „Ich und die Eingeborenen“

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Zweifellos werden die „Corona-Kinder“ in die Geschichte eingehen – als Generation Corona, Generation Lockdown oder Quarantäne oder mit einer ganz anderen Bezeichnung, die wir heute nicht ahnen können. Ähnlich wie die Baby-Boom-Generation der bald nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, aus der sich die meisten „Achtundsechziger“ rekrutierten, werden auch die Corona-Kinder in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich sein. Woher ich das weiß? Nennen wir es Intuition, Lebenserfahrung und historisches Wissen.

Jedenfalls bereue ich es sehr, dass ich selbst altersbedingt wohl nur die Anfangsphase im Leben dieser Generation miterleben und beobachten werde können. Das Faszinierendste und gleichzeitig Tröstliche am Menschsein ist die Tatsache, dass die sinnliche Seite des Lebens unter keinen Umständen verloren geht. Noch nie hat es einen Krieg oder eine Krise gegeben, in der keine Kinder zur Welt gekommen wären.

Eine Krise zum Verlieben

In belagerten Städten, unter Beschuss, auf der Flucht, ja sogar in Ghettos und Konzentrationslagern wurden Kinder gezeugt und geboren. So schlimm können die Lebensumstände gar nicht sein, dass sich Menschen nicht ineinander verlieben, und dass sie einander nicht näher kommen. Die Corona-Krise und der daraus resultierende Lockdown haben uns gerade das wieder und im besonderen Maße deutlich gemacht.

Kein noch so perfektes Gerät, kein noch so ausgefeiltes Programm und keine noch so optimale Auflösung auf einem Bildschirm können uns den Geruch eines Menschen ersetzen, auch dann nicht, wenn wir diesen Menschen eigentlich gar nicht riechen können (oder wollen). Keine technisch noch so perfekt in Szene gesetzte Videokonferenz kann auch nur im Ansatz an die Stelle eines persönlichen Gesprächs treten, bei dem die Menschen miteinander einen Kaffee trinken oder miteinander um den Häuserblock spazieren gehen.

Die Abstinenz der kleinen Gesten

Wie haben wir das in Zeiten des Lockdowns doch vermisst: die kleinen Gesten, den Glanz der Augen im Gesicht eines Bekannten, die Falten auf dem Hals der Großmutter, die kleinen Eigentümlichkeiten, Besonderheiten und Nachlässigkeiten, die kein Bildschirm offenbaren wird, die zufällige Berührung, die Haarspitzen einer Frau, die neben uns im überfüllten Vorortezug steht, auf unserer Stirn und unseren Wangen, den Atem eines Unbekannten im Nacken, den Geruchscocktail aus Schweiß, Parfüm und Bodylotion, den wir immer so gehasst haben und umso gieriger einatmen werden, wenn es wieder so weit ist, dass wir das gleichsam bedenkenlos wie gedankenlos tun dürfen!

Kaum eine Lehrerin, kaum ein Lehrer unterrichtet gerne online, und die Einsamkeit und Sehnsucht der meisten Kinder und Jugendlichen nach der Schule wird bleibende Folgen haben. Das weiß ich nur zu gut, erinnere ich mich doch an den langen und traurigen Sommer und Herbst des Jahres 1975, als ich im Rahmen der langen Migration, die ich als Kind und Jugendlicher durchmachen musste, mit meinen Eltern von Wien nach Amsterdam, später nach Den Haag, nach Paris, nach Genf und schließlich nach Israel fuhr.

Corona macht uns moderner und konservativer

Von Ende Juni bis Mitte November besuchte ich keine Schule, traf keine anderen Kinder, hatte keine Freunde. Mein einziger Kontakt waren meine Eltern, die meiste Zeit jedoch war ich allein mit meinen Gedanken. Ich war neun Jahre alt, und als der Herbst näher kam, war mein sehnlichster Wunsch, endlich in eine Schule zu gehen, egal, wo, egal, in welchem Land, egal, ob ich die Sprache um mich herum verstand oder nicht – nur hinaus aus der Einsamkeit und dem Alleinsein, eingesperrt mit den eigenen Ängsten und Dämonen…

Die Corona-Krise macht uns sowohl moderner als auch konservativer, als wir jemals waren. Das Internet und die sozialen Medien, Skype, Zoom und das, was noch kommen wird, Tools für das Home-Office sowie allerlei Entbehrliches erleben einen Entwicklungsschub großen Stils. Bald wird die Welt kommunikationstechnisch, logistisch und industriell eine andere sein als heute.

Die Menschen werden sich nicht bessern

Es wird sich mehr ändern, als manche befürchten, und weniger, als andere erhoffen. Gleichzeitig aber wird es, sobald endlich eine Impfung gegen Covid-19 auf den Markt kommt, eine regelrechte Flucht ins traditionelle, archaische, atavistische, griffige, hautige, singende, schreiende, hauchende, duftende sinnliche Miteinander geben – in den öffentlichen Raum der Piazza, der Fußgängerzone, des Einkaufstempels, der der Plastikstühle vor der Kneipe, des Kinosaals, der Kneipe, des Theaters, der vollen Straßenbahn und des Fußballstadions, der Bibliotheken und Bars, der Parkanlagen und Schwimmbäder.

Nein, wir werden deshalb zu keinen besseren Menschen, wir werden weder freundlicher noch behutsamer oder empathischer miteinander umgehen, als wir es vorher schon getan haben. Misanthropen werden durch Lockdowns zu keinen Menschenfreunden, und Menschenfreunde nicht zu Heiligen.

Das Glück im Kleinen

Wahrscheinlich werden wir, nach allem, was wir erlebt haben, zu Reibeisen und nicht zu Labsal für die Seelen unserer Nächsten. Doch in unserem Inneren wird die Angst nisten, die Angst davor, diese wunderbare, durch nichts zu ersetzende Sinnlichkeit wieder zu verlieren, und das Wissen, was wir wirklich an einander und miteinander haben, wird unser ständiger Begleiter sein.

Wenn wenigstens einige von uns diese Angst und das Wissen dazu bewegt, die bislang oft übersehenen, scheinbar nebensächlichen oder gar albernen Kleinigkeiten unserer Mitmenschen wahrzunehmen, zu achten und zu schätzen, dann haben wir mehr gewonnen als alle Erfindungen zusammen, mit denen wir in den nächsten Monaten und Jahren zwangsbeglückt werden.

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Michaela 29 Diederichs | Mo., 11. Mai 2020 - 00:01

Was für eine liebevolle Gute-Nacht-Geschichte. Schön.

Raphael Goerke | Mo., 11. Mai 2020 - 06:53

"dass sich Menschen nicht ineinander verlieben, und dass sie einander nicht näher kommen"

Also bitte! Wer glaubt denn an Liebe? In Zeiten, wo Mann u. Frau in Durchschnitt 3-6 "Partner" haben? Wo man dann nach dem zehnten "Ich liebe dich" heiratet.

Es ist Geilheit, wie Schopenhauer bereits richtig darlegte. Und was hier bejubelt wird, ist sogar dysgenisch sowie "dyszivisch", wie Vox Day sagen würde.

Denn nicht nur ist es nicht egal, wer die Kinder hat, diese müßen in einer Familie von Vater und Mutter aufwachsen. Das ist, gerade für Jungen, die beste Umgebung.

Davon abgesehen haben Sie sicherlich kein recht, mir mein von -- psychischen wie physischen -- Krankheiten übersätes Leben aufzubürden.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 11. Mai 2020 - 07:57

nur, warum soll zwischenmenschliche Interaktion erst stattfinden, wenn..
" Gleichzeitig aber wird es, sobald endlich eine Impfung gegen Covid-19 auf den Markt kommt,..."?
Es gibt und wird immer Krankheiten geben. Viren, Bakterien, Krebsarten usw., gegen die haben wir und werden auch keine Impfstoffe erfinden können. Die Natur hat die Krankheit als natürlichen Aussonderungsparameter gesetzt. Die einen überleben es, andere eben nicht. Ich will nicht zynisch klingen. Natürlich soll jeder Mensch die Möglichkeit haben, mit Medikamenten und wenn er an Impfungen glaubt, sich auch durch eine solche schützen. Das Leben ist aber nun mal endlich, deshalb hat die Schöpfung an ein Lebensende den Tod gesetzt. Mit Menschen emphatisch zu sein, Mitgefühl zu zeigen und sich respektvoll zu begegnen, ist keine Frage eines Impfstoffes. Das ist eine Frage von Sozialisation, Erziehung und Charakterbildung. Es braucht ihren scheinbar harmlosen Hinweis zu einen Impfstoff nicht. Liebe/Mitgefühl ist kein Virus