Kurz und Bündig - Siegfried Lenz: Fundbüro

Ziemlich munter erweisen sich in diesem Bücherherbst unter den deutschen Autoren die Mitt­siebziger. Martin Walser hat eine Fortsetzung von «Meß­mers Gedanken» vorgelegt. Günter Grass wartet mit dem Gedichtband «Letzte Tänze» auf, Christa Wolf mit «Ein Tag im Jahr», ihren Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten – ganz zu schweigen von Walter Kempowski und Alexander Klu­ge.

Ziemlich munter erweisen sich in diesem Bücherherbst unter den deutschen Autoren die Mitt­siebziger. Martin Walser hat eine Fortsetzung von «Meß­mers Gedanken» vorgelegt. Günter Grass wartet mit dem Gedichtband «Letzte Tänze» auf, Christa Wolf mit «Ein Tag im Jahr», ihren Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten – ganz zu schweigen von Walter Kempowski und Alexander Klu­ge. Und Siegfried Lenz hat mit seinem neuen Roman über das «Fundbüro», seinem vierzehnten, so mühelos die Bestsellerliste erklettert, als wäre da sein angestammter Platz. Sehr gelassen, ohne stilistischen Aufwand, geradeaus erzählt er diese Geschichte – ökonomisch und mit der Sicherheit einer Erfahrung, die keine bengalischen Effekte benötigt, um sich in der menschlichen Natur zurechtzufinden. Eine glückliche Wahl ist der Erzählort: Das Fundbüro eines Hauptbahnhofs situiert den Roman mitten im Archiv der Vergesser und Verlierer. An jedem Ding haftet eine Geschichte von Verlust und möglichem Wie­der­finden, die Verwalter des Strandguts bilden ein eigenes Soziotop. Da hinein kommt ein Tunichtgut: Der 24-jährige Henry Neff wählt dieses Abseits als seinen sicheren Ort, um nur ja keinem Ehrgeiz oder einer Verlockung zur Karriere zu folgen. Der etwas älteren Mitarbeiterin Paula Blohm begegnet er mit Courtoisie, mit dem Kollegen Albert Bußmann schluckt er das eine und das andere Gläschen weg, und den Chef Hannes Harms traktiert er mit dem seltsamen Ratschlag, er wolle anstelle des zur Dis­position stehenden Bußmann wegrationalisiert werden. Im Roman breiten sich die Geschichten von Verlierern aus, ge­mächlich und gravitätisch, als wäre das «Fundbüro» eine Widerstandszelle gegen die vorbeiflutende Hektik und die Reiseturbulenz des übrigen Lebens. Wer in dieses Büro der Geruhsamkeit gerät, muss nach dem Willen von Henry Neff viel Zeit haben. Er wird aufgehalten und muss seine Ver­lierergeschichte beglaubigen. Ein Artist etwa hat seine verlorenen Wurfmesser zu erproben, um sie zurückzuerhalten. Ruhig, mit vielen Dialogen und wenig Erzählerkommentar, werden solche Episoden aneinander gelagert. Zwischen Schirmen und Koffern, Hockey-Schlägern, Flaschen, Vogel­bauern und künstlichen Ge­bissen nisten die Geschichten, die das Leben über Soll und Haben meist in kleiner Münze schreibt. Das Fundbüro ist ihr Sammelplatz, wo sie sich meist klären und abheften lassen. Lenz erzählt – liebenswürdig, abgeklärt und menschenfroh – aus einer durch und durch mit Freundlichkeit beleuchteten Welt, in der man zwar mal zuschlagen muss, um sich der schlimmen Kerle zu erweh­ren, in der das Zuhauen jedoch auch hilft. Die Hauptfigur hat ihr Herz an die Verlierer verloren, und das Fundbüro mit seinem Schreibpult ist vielleicht auch ein Exempel für das Verschwinden und Wieder­fin­den dieser altmodischen Schreib­tugend: Wenn die Inseln der Ru­he inmitten der Rasanz schon nicht zu retten sind, so sind sie durch das raunende Imperfekt noch ein wenig im Erhaltungszustand zu bewahren.

 

Siegfried Lenz
Fundbüro
Hoffmann und Campe, Hamburg 2003. 335 S., 21,90 €

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