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(picture alliance) Uwe Timm

Uwe Timm - "Schreiben ist ein Häutungsprozess"

In seinen Büchern verarbeitet er auf subtile Weise Zeitgeschichte. Und er ist ein leidenschaftlicher Büchersammler. Bibliotheksbesuch bei Uwe Timm.

Ich bin ein Jäger“, bekennt Uwe Timm. Er zieht einen Band aus dem Regal, Schillers „Räuber“, die erste Bühnenfassung von 1782, die er in einem Antiquariat in Buenos Aires aufstöberte.
Die Beute eines Bibliophilen. Wir stehen im kargen Arbeitszimmer seiner Münchner Wohnung, nur ein einziges Bücherregal findet sich in diesem Raum – „zu viele Bücher würden mich erdrücken“. Die Wände sind schmucklos weiß wie in einer Klosterzelle, die Fenster geben den Blick frei auf den Englischen Garten.
Vorsichtig stellt er das Buch zurück und greift zu den „Leiden des jungen Werther“. „Ich las den Roman zum ersten Mal, als ich zwanzig war“, erzählt Timm, „und er war damals sehr wichtig für mich. Diese ungeklärten, überbordenden Emotionen, darin fand ich mich wieder. Als ich den ‚Werther‘ vor kurzem wieder las, war es eher die Sprachform, die mich faszinierte, die differenzierte Darstellung all der Herzensangelegenheiten, des Schmerzes, der Wünsche …“

Er blättert in dem schmalen Bändchen, ein kostbares Exemplar, die zweite Auflage des Romans von 1775. Schon die Orthografie begeistert ihn: „Der Schrei wird mit einem y geschrieben, die Ecke mit kk, das klingt ganz anders, sinnlicher, fast lautmalend.“ Und noch eine andere Besonderheit fesselt ihn: Goethes Verwendung des Gedankenstrichs. „Der Gedankenstrich kam ja relativ spät in Deutschland auf, über die Engländer, und Goethe benutzt ihn schon fleißig, obwohl das damals noch sehr umstritten war. Hören Sie sich mal diesen Absatz an: ‚Wenn ich nur ihre schwarzen Augen sehe, Lotte, ist’s mir schon wohl! Sieh, und was mich verdrüst, ist, daß Albert nicht so beglükt zu seyn scheinet, als er – hoffte – als ich – zu sein glaubte – wenn – ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrukken – und mich dünkt deutlich genug‘.“ Er lacht. „Ist das nicht wunderbar?“

Uwe Timm las den „Werther“ zum ersten Mal während seiner Zeit am Braunschweiger Kolleg, wo er das Abitur nachholte. Einer seiner Mitschüler war Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 in Berlin von dem Polizisten Kurras erschossen wurde und über den Timm später ein Buch schrieb, „Der Freund und der Fremde“.
Gemeinsam entdeckten sie Beckett, Camus und Ionesco, debattierten über den Existenzialismus.
Es war ein langer Weg dorthin gewesen. Nach der Schule hatte Timm auf Drängen der Familie zunächst eine Kürschnerlehre absolviert und das väterliche Geschäft in Hamburg-Eimsbüttel übernommen. Jahrelang hatte er Pelzmäntel zugeschnitten, Felle begutachtet, eigene Schnitte entworfen. Erst als der Laden schuldenfrei war, erfüllte er sich seinen Kindheitswunsch: Abitur machen, studieren – und Schriftsteller werden.

Alles begann mit einem Buch, dessen Magie den Jungen sofort gefangen nahm: Grimms Märchen. Die Helden seiner Kindheit waren das tapfere Schneiderlein und der Däumling, Figuren, deren Mut und Unerschrockenheit er bewunderte.
Schon der Einband mit der eingeprägten Goldschrift erinnerte an einen Schatz: „Das hatte etwas Geheimnisvolles, weil ich damals glaubte, es seien kleine Diamanten und Gold darinnen, und meine Eltern ließen mich in dem Glauben.“
Er liest die Widmung vor: „Meinem lieben kleinen Uwe Weihnachten 1944 von seinem Vati.“ Da war sein Vater auf Fronturlaub zu Hause gewesen, fortan las ihm seine Mutter täglich Märchen vor.

Uwe Timms Lust an Geschichten wurde früh geweckt. Sein Großvater war Kapitän gewesen und berichtete von seinen abenteuerlichen Reisen, ein wahrer „Hort des Erzählens“ aber wurde die Küche einer Tante im zwielichtigen Gängeviertel. „Mein Vater hatte es mir verboten, doch ich lief immer wieder hin“, erinnert er sich.
„Da saßen die Nutten, die Zuhälter, die Schieber und rauchten Zigaretten. Es war eine sehr offene Atmosphäre, wunderbar für ein Kind. Ich war unendlich neugierig und wurde ganz nebenbei mit elf, zwölf Jahren aufgeklärt.“

Er ordnet die Märchen wieder ein, neben Erstausgaben von Seume, Eichendorff, Arno Schmidt und der Odyssee in der Voß’schen Übersetzung. Darunter stehen Übersetzungen seiner eigenen Bücher. Uwe Timm gehört zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die großen Erfolg im Ausland haben. Seine Novelle „Die Erfindung der Currywurst“ wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Japanische. Auch Romane wie „Rot“, dessen Held ein am Leben und der Liebe scheiternder Beerdigungsredner der 68er-Generation ist, fanden außerhalb Deutschlands ein starkes Echo, vor allem aber seine ebenso einfühlsame wie kunstvolle Annäherung an den älteren Bruder, der sich freiwillig zur Totenkopfdivision der SS meldete und in Russland umkam. „Am Beispiel meines Bruders“ gehört sicherlich zu den hellsichtigsten Analysen, die je über die mentalen Deformationen der Tätergeneration geschrieben wurden. Jahrelang recherchierte Timm, wertete Briefe des Bruders und Zeitdokumente aus. Ein Stockwerk tiefer, in seiner Arbeitsbibliothek, stehen deshalb Bücher wie „Verlorene Siege“ von Erich von Manstein, der als Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don die Krim eroberte. Timm schüttelt den Kopf. „Das Buch ist in den fünfziger Jahren erschienen, und der Mann beschreibt völlig ungerührt, wie man den Krieg hätte gewinnen können, im vollen Bewusstsein, dass es Auschwitz gab, denn die Generalität war ja über die KZs informiert.“

Im Regalbrett darüber Werke Ernst Jüngers. Timm deutet auf das „Kaukasische Tagebuch“ aus den „Strahlungen“. „Ich fand erstaunlich gut, wie er vom gnadenlosen Vernichtungskrieg in Russland erzählt. Da stellt er sogar seinen Heroismus infrage, jenen Begriff, den er für sich geprägt hat.“ Timm hat Jünger einmal getroffen.
„Ich wollte ihn über die Desertation befragen, weil Jünger schreibt, dass ein Mann, der desertiert, seine Würde verliere. Hätte man in der Nazizeit nicht desertieren müssen, wie Andersch beispielsweise? Jünger war listig. Sofort verfiel er in eine grüblerische Haltung, und ich wusste nicht: Zieht er sich jetzt taktisch zurück, oder ist es ein Moment der Schwäche?“

Uwe Timm ist Jahrgang 1940, Ende März wird er siebzig Jahre alt. Als weite Teile Hamburgs im Sommer 1943 durch die berüchtigte „Operation Gomorrha“ von den Alliierten zerstört werden, flüchtet seine Mutter mit ihm durch die brennenden Straßen, nachdem sie den Kinderwagen mit feuchten Handtüchern zugedeckt hat. Bei Kriegsende ist Timm fünf Jahre alt. Doch der Ungeist des Dritten Reichs bestimmt noch lange seine Kindheit. „Das Bewusstsein hatte sich ja nicht geändert“, erklärt er, „trotz der Reeducation-Programme der Alliierten. Mein Vater war nicht einmal ein Nazi, er war deutschnational und preußisch, mit einer Haltung, die aus Pflicht, Tapferkeit und Gehorsam bestand. Gerade der Begriff des Gehorsams ist hochproblematisch. Er führte dazu, dass alle bis zuletzt den Wahnsinn mitmachten und dass es viel zu wenig Zivilcourage und zivilen Widerstand gab.“ Das Buch „Am Beispiel meines Bruders“ erschien erst 2003, nach dem Tod seiner Mutter.
„Ich hätte es nicht schreiben können, solange meine Mutter lebte, weil ich nicht wusste, ob ich bei den Recherchen auf Fakten stoße, die eine Beteiligung meines Bruders bei der Erschießung von Geiseln oder Juden bewiesen hätten.“ Er hält inne, dann sagt er: „Ich hatte eine wunderbare Mutter, mitfühlend, tapfer, aber sie hat mich nie ermuntert, Widerstand zu leisten, wenn mir etwas in der Schule missfiel. Die Devise hieß: Mach dich klein, damit der Rasenmäher über dich hinweggeht.“

In der Schule begegnet er einem Lehrer, der sein Leben ändern wird. Timm hat eine Leseschwäche, ein pädagogisch ambitionierter Deutschlehrer gibt ihm daraufhin Thor Heyerdahls „Kon-Tiki“. Timm soll eine Passage daraus für einen Lesewettbewerb vorbereiten. „Bis dahin habe ich immer stockend und falsch betont gelesen, doch plötzlich hörte ich die Stimme des Erzählers und nahm die Sprache geradezu körperlich wahr. Von da an las ich wie ein Weltmeister alles, was ich kriegen konnte.“ Als er dreizehn ist, legt er sein gesamtes Taschengeld in Kolonialbücher an, vor allem über Afrika. Er schlägt einen dickleibigen Folianten auf, eine Sammlung der Zeitschrift „Kolonie und Heimat“. Später wird aus dieser frühen Leidenschaft der Roman „Morenga“ entstehen.

Nach dem Abitur studiert Timm Philosophie und Germanistik in München. 1966 geht er nach Paris, wo er Sartre kennenlernt. Sein Denken ist immer noch stark vom Existenzialismus geprägt, im Zentrum seiner Lektüre steht Albert Camus, über den er 1971 in München promoviert. Die zerlesenen Bände im Regal mit ihren vielen Anstreichungen zeugen davon. Es ist mehr als wissenschaftliches Interesse, das ihn zu Camus zieht. „Camus lieferte sozusagen die theoretische Unterfütterung der Bindungslosigkeit, dass man zum Beispiel nur flüchtige, wenn auch sehr intensive Beziehungen mit Frauen hatte.“ Er macht eine kurze Pause und lächelt. „Camus war die Legitimation, dass man Frauen unglücklich machen konnte.“ Gleichgültigkeit bis zur Indolenz – wie konnte er dieses Lebensprinzip durchhalten? „Man war eben dieser Fremde, dieser Gleichgültige“, erwidert Timm. „Außerdem passte das zu meinem Wunsch, nichts als schreiben zu wollen. Man kam gar nicht erst in die Gefahr, dass man eine Familie gründen oder einen festen Job annehmen musste.“ Das entsprach auch dem politischen Zeitgeist: „Alle, die ich im SDS kennenlernte, waren vom Existenzialismus beeinflusst, Cohn-Bendit, Mathias Greffrath. Aber es war ein echtes Gefühl, nicht aufgesetzt, und man litt auch. Das Paradoxe war allerdings, dass man das Leiden genoss.“ Die Pose des stolzen Einzelgängers hält an, bis Uwe Timm seine spätere Frau trifft, die Übersetzerin Dagmar Ploetz. Schon nach drei Tagen wissen die beiden, dass sie zusammenbleiben werden, 1969 wird aus dem Bindungslosen ein Ehemann.

Die Präsenz philosophischer Werke ist in dieser Bibliothek nicht zu übersehen. Timm studierte bei Max Müller, einem Spezialisten für Existenzphilosophie, dem er auch eine systematische Aneignung der Philosophiegeschichte verdankt. Er blättert eine mit unzähligen Marginalien versehene Ausgabe von Platons „Politeia“ auf, neben weiteren Platon-Bänden stehen Aristoteles und Augustinus. „Sie sehen, ich habe wirklich geackert.“ Heute gilt Uwe Timm als Meister einer literarischen Erinnerungskultur, der auf subtile Weise Zeitgeschichte verarbeitet. Ein Grund, warum er die Autobiografie Vladimir Nabokovs, „Sprich, Erinnerung, sprich“ schätzt. „Ich habe das Buch während der Arbeit an ‚Am Beispiel meines Bruders‘ gelesen, weil mich Nabokovs Annäherung an Sprache und Bewusstsein interessierte. Er thematisiert den Vorgang des Erinnerns selber und schildert auf stilistisch grandiose Weise, wie wenig sicher man sich sein kann.“

Wie steht es mit zeitgenössischen Autoren? Er liest Ingo Schulze, Durs Grünbein, Christian Kracht, doch zurzeit sucht er eher die Wiederbegegnung mit Büchern, die er als junger Mann las, einen Roman wie Anna Karenina beispielsweise, dessen raffinierte Psychologie er erst jetzt entdeckt habe. Lesen ist für ihn Selbstvergewisserung und Selbstreflexion, so wie auch das Schreiben – eine Forschungsreise in verborgene Zonen des Ich. „Schreiben ist ein Häutungsprozess, denn Erfahrungen finden wesentlich im Kopf statt. Das erst lässt Veränderung und Entwicklung zu – und es hält jung.“

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