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() Von Praunheim mit seinem Lebensgefährten
Rosa v. Praunheim: „Ich stelle die schamlose Wirklichkeit in all ihren Aspekten dar“

Der umstrittene Regisseur Rosa von Praunheim zeigt in seinem neuesten Film „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ fünf Lebenswege von männlichen Prostituierten in Berlin. Im Gespräch mit Cicero Online verrät der Tabubrecher warum Osteuropäer den Berliner Straßenstrich mittlerweile dominieren und wie er es schafft, die Intimsphäre seiner Protagonisten aufzubrechen.

Nach den biederen Jahren des Wirtschaftswunders konfrontierte der Regisseur und Künstler Rosa von Praunheim die breite Öffentlichkeit mit ihren Ressentiments gegenüber Homosexuellen. In seinem neuen Werk illustriert er das in Deutschland nahezu unbekannte Phänomen der männlichen Prostitution. In seinem Dokumentarfilm lässt er ehemalige Strichjungen zu Wort kommen, die ihren Körper am Bahnhof Zoo in der Wendezeit verkauften. Doch er begibt sich auch in die Stricherszene der Gegenwart, indem er Roma aus Rumänien und vom Balkan porträtiert. Denn: Ein hoher Anteil der männlichen Prostituierten auf den Straßen Berlins sind schließlich Roma. Warum florierte die Prostitution ausgerechnet am Berliner Bahnhof Zoo? Als Ende der 70er das Buch und Anfang der 80er der Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ veröffentlicht wurden, wirkte beides wie Reklame. Das zog ungeheuer viele Menschen nach Berlin. Aus der Provinz kamen Leute aus Armut und Abenteuerlust. Sie dachten sich, dass sie einigermaßen erträglich leben könnten, wenn sie ihren Körper verkaufen. Viele 14- bis 16-Jährige wollten dazu raus aus der Kleinstadt und dem spießigen Elternhaus. Der Straßenstrich am Bahnhof Zoo hat sich in zweierlei Hinsicht gewandelt. Die Prostituierten zogen sich insgesamt von dort zurück und statt der Deutschen bieten jetzt hauptsächlich Ausländer ihren Körper an. Welche Erklärung haben Sie dafür? Jetzt werben die Deutschen für ihre Dienste im Internet. Sogar Jugendliche machen das. Die sogenannten Taschengeldjungs verdienen sich im Netz ein wenig Kleingeld dazu, Mädchen auch. Viele der Ausländer wie Osteuropäer haben mit der deutschen Sprache große Schwierigkeiten. Insofern ist es für sie fast unmöglich, sich im Internet anzubieten. Etwa 70 Prozent der Stricher in Deutschland sind deswegen Osteuropäer, darunter sind besonders viele Roma. Prostituiert sich tatsächlich fast die gesamte männliche Bevölkerung einiger südosteuropäischer Roma-Dörfer auf den Straßen Berlins? Nein, das kann man so nicht sagen. Im Film zeige ich, wie die Berliner Stricherhilfe Sub/Way Berlin e.V. auf einer Landkarte verzeichnet hat, aus welchen Gegenden die männlichen Prostituierten kommen. Es gibt eben einige Dörfer, insbesondere in Rumänien, wo sich das häuft. Drei Roma haben Sie in ihrem Film interviewt… Nazif, ein ehemaliger Bürgerkriegsflüchtling, der in Wien gefilmt wurde. Und zwei Roma, die aus Rumänien stammen. Wobei ich Romica in Berlin und Ionel in seinem Heimatort in Rumänien porträtiere. Sie vermitteln in ihrer Doku den Eindruck, dass die Rumänen aus freiem Willen nach Berlin gegangen sind. Ist es in der streng hierarchischen Gesellschaft der Roma und Sinti nicht wahrscheinlicher, dass der Clanführer mit den Jugendlichen Geld verdienen will? Als wir Ionel besuchten, wurden uns sogar die Fünfjährigen angeboten, Jungs wie Mädchen. Die Prostitution fängt dort schon in der Kindheit an. Dermaßen groß ist die Armut. Dass sich so viele in Deutschland prostituieren hat eigentlich mit dem finanziellen Erfolg anderer Dorfbewohner zu tun. Es passiert häufig, dass ein Bruder seinen jüngeren Cousin nachholt und der wiederum die Reise, Unterkunft usw. abarbeiten muss. Er wird dann in das System der Prostitution eingeführt. Da gibt es viel Leid. Prostitution ist leider immer eine Folge der Armut. In den ärmsten Ländern wie Thailand oder den Philippinen werden Kinder zum Sex angeboten. Den Rumänen drohen doch sicher wegen ihres Outings zuhause Probleme? In der osteuropäischen Kultur überwiegt ein archaisches Männerbild. Die meisten Stricher sind ja heterosexuell. Sie verachten Schwule. Romica hat Frau und Kind. Wenn ein Stricher beweist, dass er Kinder zeugen kann, hat er einen angesehenen Status. In dem rumänischen Dorf spricht zudem niemand offiziell darüber, obwohl deren Bewohner wissen, dass die meisten Jungs in Deutschland auf den Strich gehen. Ein solches Verhalten gab es ja hierzulande im 19. Jahrhundert auch. Vieles durfte man machen, aber es durfte keinesfalls öffentlich werden. Gleich nach Beginn des Films zeigen Sie eine Aufnahme aus den 60ern. Ein Kriminalrat erzählt, was für eine immense Gefahr die Stricher in Berlin seien. Danach wechseln Sie in die Gegenwart. Sie wollen wohl damit suggerieren, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber männlichen Prostituierten auch in Deutschland immer noch gering ist? Rein gesetzlich hat sich seitdem etwas verändert. Prostitution ist nicht mehr strafbar und Prostituierte können sich selbstständig machen. Das funktioniert aber meistens nicht. Die Stricher sind ganz oft Migranten, die einen noch ungeklärten Aufenthaltsstatus haben. Die meisten haben nicht mal eine eigene Wohnung. Besonders die Freier, die die Dienste von Strichern in Anspruch nehmen, verabscheuen die Stricher. Und die Freier werden innerhalb der Schwulenszene verachtet. Die wenigsten älteren Schwulen geben zu, dass sie Dienste in Anspruch genommen haben und tratschen auch über die, die das machen. Was führte eigentlich dazu, dass ihre deutschen Protagonisten sich prostituierten? Ich habe hauptsächlich Armutsprostitution porträtiert. Viele fangen ja früh an. Sie werden missbraucht und früh sexualisiert oder werden eben als Kinder von irgendwelchen Schleppern angefixt. Das zieht sich dann bis zum späteren Leben durch. Das ist das, was ich besonders furchtbar finde und das tut sehr weh. Es gibt auch Beschaffungsprostitution oder Luxusstricher, die als Call Boys 700 oder 800 Euro verdienen und übrigens älter als die Stricher sind, die eigentlich nur im jugendlichen Alter gewollt werden. Haben Sie auch Stricher kennengelernt, die die Prostitution nutzen, um ein konkretes Ziel wie das Studium zu finanzieren, um danach wieder aufzuhören? Das ist wieder eine andere Kategorie. Ein Studium beinhaltet ja eine gute Ausbildung, auf die man immer wieder zurückgreifen kann. Bei den meisten Strichern ist es so, dass sie höchstens für 3,50 Euro Teller waschen können. Wenn du so gering bezahlt wirst, ohne Ausbildung, ohne Qualifikation, kann Prostitution schon sehr reizvoll sein. Aber die, die das während des Studiums gemacht haben, haben es ja eigentlich nicht nötig. Es gibt auch eine Minderheit, die selbstständig arbeitet und der das Spaß macht. Mein Hauptprotagonist Daniel sagt, er fände ältere Männer erotisch. Das ist allerdings eine große Ausnahme. Solche Dienstleistungen sind für den Stricher ja selten angenehm. Das fordert viel Überwindung, Anpassung und Technik. Ich habe großen Respekt davor und finde es toll, dass Menschen das können. Auf der anderen Seite ist das auch ein Akt der Ausbeutung. Empfanden ihre Protagonisten den Film als eine Form von Therapie? Auf keinen Fall. Daniel, der sehr früh missbraucht wurde, hatte einfach das Bedürfnis, anderen seine Geschichte mitzuteilen. Das ist auch manchmal nicht ungefährlich. Die ganze Pädophilen-Szene ist ja ein zwielichtiges Milieu. Die Protagonisten ihres Dokumentarfilms „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ reden mit Ihnen ungehemmt über ihre sexuellen Erfahrungen und Neigungen. Wie schaffen Sie es eigentlich, die Intimsphären aufzubrechen? Das ist eine Spezialität von mir. Vertauschten wir die Rollen und ich würde Sie befragen, bekäme ich die tollsten Sachen über ihr Sexleben raus. Ich bin einer der besten Interviewer, die es überhaupt in Deutschland gibt. Seit 40 Jahren erzählen mir selbst fremde Menschen die intimsten Sachen. Dafür gibt es bestimmte Techniken. So wie Sie jetzt gucken, mit einem süffisanten Lächeln. Das kann gefährlich sein. Man muss seinem Gegenüber absolut das Vertrauen geben, sich für ihn zu interessieren. Stimmen Sie mir zu, dass Sie trotz des umstrittenen Themas sehr würdevolle Portraits ihrer Protagonisten zeichnen? Würde ist ein spießiger bürgerlicher Begriff. Ich stelle Realität dar, die schamlose Wirklichkeit in all ihren Aspekten. Vieles bleibt in der Gesellschaft im Ungewissen. Also müssen besonders Filmemacher und Journalisten das Leben darstellen, wie es ist. Nur wenn wir Bilder vermitteln, schaffen wir auch Empathie und Nähe. Vielen Dank für das Gespräch Das Interview führte Daniel Schrödel

Informationen zu aktuellen Kinotournee des Dokumentarfilms „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“

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