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Kulturwissenschaftler - „Twitter ist das Ende der großartigen Fotografien“

Das Foto als Epos, als Ikonografie des Krieges: Diese Zeiten seien heute vorbei, sagt der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen. Den Realititätshorizont schaffen vielmehr Hunderttausende Twitter-Fotos. Ein Interview über die Widersprüche der Medienrealität

Autoreninfo

Philipp Rhensius ist Journalist und Soziologe. Er schreibt vor allem über soziologische und politische Themen sowie über Musik, Theater und die Politik des Alltags. Seine Texte erscheinen u.a. in der taz, SPEX und auf Spiegel Online.

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[[{"fid":"61459","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":420,"width":257,"style":"width: 140px; height: 229px; float: left; margin: 5px 10px;","class":"media-element file-full"}}]]Für seinen Essay „Der Schatten des Fotografen“ erhielt Helmut Lethen den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse. Darin deckt er am Beispiel berühmter Bilder vor allem die Widersprüche auf, die diese Werke in den Medien verursachen. Nicht etwa die Hektik und das Chaos der Front habe etwa Robert Capas ikonografisches Bild so trüb werden lassen, schreibt Lethen, sondern der Laborassistent in London, der die Negative zu stark überhitzt hatte. Der Germanist wurde bekannt durch seine Bücher „Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“ und „Der Sound der Väter, ein Essay über Gottfried Benn“. Heute ist Lethen Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien.

Herr Lethen, Ihr Buch ist eine Suche nach dem Realen in der Fotografie. Was genau suchen Sie?
Das Buch behandelt drei Jahrzehnte meines Lebens. Es geht darum, wie ich in diesen verschiedenen Stadien der Wirklichkeit von Bildern nachgehe. Ich habe die Parole der Kulturwissenschaften, wonach wir die Wirklichkeit nur aufgrund von medialen Konstruktionen erfahren, in verschiedenen Stadien meines Denkens nachgezeichnet. Damit steht das Buch in der Traditionslinie von Siegfried Kracauers Buch „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“. 

Während Sie einerseits von der Sehnsucht nach der Wirklichkeit verfolgt werden, beschreiben Sie andererseits historische Bilder, die die Realität nur verzerrt abgebildet haben. Wie das Foto „Landing of the American troops on Omaha Beach“ des Kriegsfotografen Robert Capa. Es zeigt einen Soldaten bei der Landung der Alliierten an der Küste der Normandie im Sommer 1944 und ist eines der ikonografischen Bilder, die die Vorstellung vom Zweiten Weltkrieg maßgeblich prägten. Für das Foto existieren bis heute viele Lesarten der Wirklichkeit, die zudem eine große politische Bedeutung hatten.
Das Foto hatte auch deshalb bei seiner Veröffentlichung am 19. Juni 1944 im Life-Magazin eine solche Wirkung, weil die offizielle amerikanische Propaganda davon ausging, dass die Landung in der Normandie ein relativ leichtes Unternehmen gewesen sei. Das Foto zeigt hingegen das ganze Chaos der Situation. Zwei Drittel der Landungssoldaten sind getötet worden. Wenn Sie sich die Friedhöfe in der Normandie anschauen, erkennt man, dass die Soldaten fast alle zwischen 18 und 19 Jahre alt waren. Die älteren Soldaten wurden geschont, da die Führung bereits wusste, dass es ein Himmelfahrtskommando werden würde.    

Ihr Essay erinnert an einen Bildungsroman mit autobiografischen Bezügen. Wie kamen Sie darauf, die wissenschaftliche Perspektive mit einer persönlichen zu verbinden?
Ich hatte anfangs den Verdacht, dass genau das ein Konstruktionsfehler sein könnte. Ich kenne alle theoretischen Einwände gegen Autobiografen und weiß, wie problematisch es ist, wenn man sich aufgrund der ständigen Selbstbeobachtung permanent auf der Grenzlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit bewegt. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass es eine gute Idee war zu fragen: Wie sind Erkenntnisse lebensgeschichtlich verankert und wie ändern sich Erkenntnisse mit der Änderung der Lebensgeschichte?

Enthält das Buch deshalb keine abschließende These?
In einem Bildungsroman rennt man meistens los mit einer Idee und stößt sich den Kopf an den Mauern der Widerstände. Zum Schluss kommt man geläutert zur Ruhe. Ich hingegen komme aber gar nicht voran, da ich mich unentwegt im Kreis drehe. Mit dem Philosophen Roland Barthes habe ich einen Theoretiker gefunden, der diesen Pendelschlag zwischen der Kraft des Wirklichen und der Erkenntnis, dass alles eine Konstruktion ist, aushält.

Sie schreiben, dass Sie Situationen des Mords und extremer Gefahr nur aus „Erzählungen, Fotografien und Gemälden, Büchern oder Fernsehen kennen“. Sie zitieren außerdem den Kunsthistoriker Hans Belting: „Bilder sind Nomaden der Medien, die in jedem neuen Medium ihre Zelte aufschlagen, bevor sie ins nächste Medium weiterziehen.“ Wie haben sich Kriegsbilder in Zeiten des Internets geändert?
Heute spielen die großen Kriegsfotografen eigentlich keine Rolle mehr. Robert Capas berühmtes Bild benötigte 13 Tage, bis es im Life-Magazin veröffentlicht wurde. Heute sind Twitter und Handyfotos die neuen Nachrichtenquellen, denn sie sind in Sekundenschnelle da. Man wartet nicht mehr auf den großen Kriegsreporter. Der Schrecken ist zwar in große Ferne gerückt, aber die Geschwindigkeit der Medien rückt die Bilder umso näher.

Ein weiterer Leitgedanke Ihres Buches stammt von Ernst Cassirer, dem großen Philosophen der symbolischen Form.
Er fragt sich, wofür die symbolischen Praktiken des Bildermachens und des Schreibens eigentlich da sind. Er sagt: Mit diesen Praktiken rücken wir uns die Phänomene weit vom Leib, um danach intimer mit ihnen umgehen zu können. Da ist wieder diese Pendelbewegung.

Robert Capas Foto, aber auch Dorothea Langes „Migrant Mother“, auf der eine zum Opfer der Weltwirtschaftskrise stilisierte Mutter mit ihren Kindern abgebildet ist, hatten einen hohen ikonografischen Wert. Können Bilder aus Syrien oder Kiew heute noch eine, wie Sie schreiben, „magische Geschlossenheit“ herstellen?
Das ist schwierig zu beantworten. Heute wird der Realitätshorizont vielmehr von hunderttausenden Twitter-Fotos markiert als von singulären großartigen Fotografien. Allerdings war es bei Langes Foto auch so, dass es bereits nach drei Tagen veröffentlicht wurde und dann sofort Nahrungsmittellieferungen in die verarmten Regionen bewirkte. Das lag aber auch daran, dass das Foto im Rahmen der staatlichen Kampagne gegen die Dürrekatastrophe in Kalifornien geschossen wurde. Das Bild erschien dann mit einem ökonomischen Kommentar und löste direkte Reaktionen aus.  

Ein anderes Foto mit enormem Konfliktpotenzial war das vom Polizeipräsidenten Saigons, der einen unbewaffneten Vietcong erschießt.
Gut, dass Sie das erwähnen. Denn während dieser Polizist vor dem Vietcong seine Pistole zieht, ist er umringt von rund zwei Dutzend Fotografen, die nur darauf warten, dass er abdrückt. Ich war ja sehr engagiert in der Anti-Vietnamkriegsbewegung. Das Foto hat eine unglaubliche Wirkung auf uns gehabt und großen Zorn ausgelöst.

Galt diese Wut nur der Erschießung oder auch dem Umstand, dass die Fotografen die Tötung quasi live mitverfolgten?
Nein, komischerweise nicht. Damals waren wir alle naiv. Alle Fotos waren für uns direkte Fenster zur Wirklichkeit. Es wurde nicht gezweifelt, auch wenn es genug Grund zur Skepsis gegeben hätte. Aber zu Ihrer Frage von vorhin: Ich glaube schon, dass Bilder auch heute noch Wirkung haben. Die Fotos der Giftgasopfer in Syrien zum Beispiel waren blitzschnell da und haben Reaktionen ausgelöst. Aber es gibt keinen so geschlossenen Kosmos mehr.

In einem Kapitel dekonstruieren Sie das Foto „Migrant Mother“, das als ikonografisches Bild der Weltwirtschaftskrise auch politisch instrumentalisiert wurde. Sie beschreiben, wie die Fotografin das Bild inszeniert hat, indem sie die Frau anwies, nicht zu lächeln.
Bei „Migrant Mother“ war es ja so, dass die außerordentliche Wirkung des Bildes zustande kam, weil man die abgebildete Frau, die ihr Geld als Erbsenzählerin verdiente, als Marienikone inszenierte. Sie hatte nach wenigen Tagen bereits einen Kultstatus. Diese Frau war aber auch eine Agitatorin, eine zornige Frau. Doch diese Attribute fehlen auf dem Bild. Stattdessen wird eine Frau in der Demut des Opferstatus gezeigt. Das wiederum löst die staatlichen Hilfsmaßnahmen aus.

Die Opferhaltung erinnert an die immer noch verbreiteten Fotos von oft aus Afrika stammenden hungernden Kleinkindern, die als Repräsentanten einer leidenden Bevölkerung herhalten müssen und dennoch nur Klischees reproduzieren.
Die Ohnmacht löst eine Reaktion aus, aber der Ohnmächtige bleibt immer der Befürworter der Fürsorge einer staatlichen Instanz oder einer NGO. Die kämpferische Person wird nur selten abgebildet. In den World Press Photos wird man sie wohl nie finden. Denn dort gibt es nur den Opferdiskurs.

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs unterzogen alliierte Soldaten die Deutschen einer Art Schocktherapie. Im Rahmen der so genannten „Reeducation“ zeigte man ihnen so genannte Atrocity-Filme, in denen Verbrechen in den KZs zu sehen waren. Sie schreiben, dass dies kontraproduktiv war. Inwiefern?
Es war inszeniert als ein Beschämungsritual und der Mensch lernt in Beschämungssituationen nur sehr wenig. Denn er muss sich dagegen immunisieren. Beschämungen entstehen ja dann, wenn durch fremde Blicke das Selbstwertgefühl vernichtet wird. Das Publikum wurde permanent beobachtet und von Kameras aufgenommen, mit denen man alle Reaktionen festhalten wollte. Und das war nicht produktiv.

Sie schreiben, dass Sie von den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs erst Mitte der 50er Jahre, etwa über Alain Resnais Film „Nacht und Nebel“ erfuhren. Später erzählen Sie von der Wehrmachtsausstellung von 1995, in der die Verbrechen der Wehrmacht in der NS-Zeit erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden. Sie empfanden die Ausstellung als eine „hautnahe Berührung mit der Wirklichkeit“. Man könnte davon ausgehen, dass es vor allem die gezeigten Bilder waren, die das in Ihnen auslösten. An einer anderen Stelle heißt es jedoch, dass die geschriebene Zahl der Toten die „Evidenz des Augenscheins“ überdeckt. Sind Worte doch stärker als Bilder?
Wenn man ein Buch geschrieben hat, denkt man ja weiter. Ich halte es für keinen richtigen Schluss, den ich dort gezogen habe. Ich habe ihn gezogen aufgrund der Foto-Serie von den Kleiderbündeln in der Schlucht von Babij Jar in der Ukraine, die ein Propagandafotograf geschossen hat. Dort wurden innerhalb von 24 Stunden 33.771 jüdische Menschen auf archaische Weise getötet. Die Fotos zeigen die Kleiderbündel und in diesen abgelegten Kleider pulsiert ja noch das Leben, das daraus verschwunden ist. Dann kommentiere ich die Vollzugsmeldung, dass das Exekutions-Kommando ohne jede Störung funktioniert hat und verweise darauf, dass diese Zahl nicht fotografiert werden kann. Aber der Augenschein der Kleiderbündel bleibt erhalten.

Etwas Ähnliches beschreiben Sie auch im Zusammenhang mit dem Cover-Foto Ihres Buchs: Es ist das Bild einer jungen Frau, die in einer scheinbaren Idylle durch ein Flussufer schreitet.
Man bekommt aufgrund der Foto-Oberfläche nicht heraus, was los war. Doch heute weiß man, dass es aus dem Zweiten Weltkrieg stammt und dass die Frau eine lebende Minendetektorin ist. Die Wehrmachtssoldaten machten keine weiblichen Gefangenen. Juden konnten als lebende Minendetektoren eingesetzt werden. Daher kann man das Bild eigentlich nie mehr mit unschuldigem Auge ansehen. Aber, und jetzt kommt ein Schluss, den ich im Buch nicht mache: Es bleibt eine Frau, die im Sonnenlicht über einen Fluss geht. Der Augenschein bleibt, auch wenn er plötzlich in der Finsternis eines Militärarchivs umkippt.

Sie würden der Darstellung von Krieg also nicht ihre Ästhetisierung absprechen? Wie etwa im Antikriegsfilm „Apocalypse Now“ von 1979, in dem zwischen den Kampfszenen idyllische Sonnenuntergangsszenen mit lebhafter Popmusik unterlegt werden.
Das ist wieder diese Pendelbewegung, die wir aushalten müssen. Wir dürfen uns nicht auf eine Wahrnehmung fixieren.

Was würde denn passieren, wenn man diese Wahrnehmung fixiert?
Das Foto von der Normandie zeigt, was dann passiert. Bertolt Brecht hat dem Bild kurz nach der Veröffentlichung einen Vierzeiler gewidmet. Er ist skeptisch gegenüber dem Wahrheitsgehalt des Fotos sowie dem amerikanischen Befreiungspathos der Invasionstruppen. Er weiß, dass die Amerikaner versucht haben, die sowjetischen Truppen ausbluten zu lassen und deshalb erst so spät in die Normandie gekommen sind. Brecht stellt klar, dass eigentlich kein einziges Moment des Fotos wahr ist. Hier hat die Schrift das Foto vollkommen verdunkelt.

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