Politik, Medien und Öffentlichkeit - Die Echokammern des Tugendterrors

Ob bei den Reformen im Sexualstrafrecht oder beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Immer öfter führt die tugendhafte Haltung dem Gesetzgeber die Feder, ersetzen Verdachtsmomente konkrete Straftatbestände. Das hat fatale Folgen für den Rechtsstaat

Wohin der Weg des „Nein heißt Nein“ führt, lässt sich an Schweden ablesen / picture alliance
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Autoreninfo

Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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„Ich sage, dass, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten.“

Der Mann, dem dieses Zitat zugeschrieben wird, wusste sich im Besitz der absoluten Wahr-heit. Er war dazu angetreten, die Ideale des großen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau in die Tat umzusetzen. Nicht einfach der Wunsch der Mehrheit sollte gelten. Sondern der Wille der Tugendhaften. Ein Paradies der Gleichheit sollte entstehen, basierend auf dem von Rousseau entworfenen Gesellschaftsvertrag. Abweichler waren nicht vorgesehen. Deshalb fielen etwa 40.000 Menschen, die sich der „freiwilligen Übereinkunft“, der volonté générale, widersetzten, der Guillotine zum Opfer. Hinzu kam eine unbekannte Anzahl von Menschen, die von der grassierenden Lynchjustiz hinweggerafft wurden. La Terreur, die Schreckensherrschaft (1793/94), stellte die blutigste Phase der Französischen Revolution dar. Ihr geistiger Vater: Maximilien Robespierre, genannt „der Unbestechliche“.

Robespierre und sein „Wohlfahrtsausschuss“ verzerrten das aufklärerische Bild von den höchsten Tugenden zur blutroten Karikatur. Mehr als 20.000 Überwachungsausschüsse begingen ihr Hochfest der Gesinnungsjustiz und fahndeten in ganz Frankreich nach mutmaßlichen Anhängern der alten Ordnung. Für ein Todesurteil genügten schon vage Verdachtsmomente wie der Besitz einer Tasse mit dem Bild der Königin oder leise angemeldete Zweifel am Sinn der Revolution. Tatsächlich ist die sukzessive Ausweitung scheinbarer „Tatbestände“ ein wesentliches Merkmal jeder Form der Gesinnungsjustiz. Zu verurteilen ist demnach die „Haltung“ des Beschuldigten, nicht etwa eine konkret bewiesene Straftat mit einem Mindestmaß an Erheblichkeit. Wir müssen erkennen: Wo nur die tugendhafte Haltung dem Gesetzgeber die Feder führt, verliert die Beweisführung schlagartig an Bedeutung. Und wo ebenso tugendhafte Journalisten dieser Entwicklung sekundieren, ist bald alle Hoffnung verloren. 

Der Tugendfuror greift um sich

Aus ihrer Geschichte zu lernen, fällt der Menschheit erfahrungsgemäß schwer. Auch heute wieder grinst die Fratze der scheinbaren Tugend durch die langsam erblindenden Fensterscheiben der Zivilisation. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz bekämpft statt handfester Tatbestände nun unerwünschte Emotionen wie „Hass“. Damit steht dieses Gesetzeswerk für einen – zumindest in der Bundesrepublik Deutschland – beispiellosen Kulturbruch.

Und auch das Sexualstrafrecht rückt mehr und mehr von rationalen Prinzipien ab, indem es dem Motto „Nein heißt Nein“ trotz faktischer Unmöglichkeit der Beweisführung nun Gesetzesrang zuerkennt. Die nachträgliche Behauptung einer Frau, mit den sexuellen Handlungen „eigentlich“ doch nicht einverstanden gewesen zu sein, kann dem Mann nun eine Anklage einbringen. Dies gilt auch dann, wenn es keine Verletzungen gab und Gewalt nicht im Spiel war. Dass diese Konstellation wohl kaum für eine gerichtliche Verurteilung ausreichen wird, liegt auf der Hand. Aber darauf kommt es dann längst nicht mehr an. Das soziale Umfeld, das Internet und die Medienöffentlichkeit werden ihr Urteil zu fällen wissen: gesellschaftliche Vernichtung als Kollateralschaden. 

Wohin dieser Weg führt, lässt sich an Schweden ablesen, einem Land mit erklärt feministischer Regierung, deren Tugendfuror noch stärker ausgeprägt ist: Hier sollen Männer im Vorfeld sexueller Handlungen künftig eine Einverständniserklärung ihrer Partnerin einholen, da ihnen andernfalls eine Verurteilung wegen Vergewaltigung droht. Vorsichtige Gemüter empfehlen, dies schriftlich zu tun, um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen schon im Vorfeld zu vermeiden. Schöne neue Welt!

Politik, Medien und Öffentlichkeit spielen sich die Bälle zu

Dass Gesinnungsschnüffelei, Verleumdung und Tugendterror wieder um sich greifen, daran hat die Medienlandschaft ihren klaren Anteil. Verantwortungsloser Kampagnenjournalismus nach dem Strickmuster von #MeToo greift bedenkenlos die vorherrschende Internetprangerstimmung auf und zieht seinen Nektar aus dem vergifteten gesellschaftlichen Klima. An die Herstellung von Rechtsfrieden ist nicht zu denken, wo angebliche oder tatsächliche Fälle in außergerichtlichen Pressetribunalen verhandelt werden, sekundiert von der virtuellen Hysterie des Internets.

„Familienministerin Schwesig (SPD) schlägt sich auf die Seite von #TeamGinaLisa“, meldete Spiegel Online im Sommer 2016 über Twitter, was von der damaligen Amtsinhaberin auf demselben Wege eifrig mit dem Hashtag #neinheisstnein bestätigt wurde.

Dass ausgerechnet der Fall von Gina-Lisa Lohfink sich anschließend als juristische Blamage erwies, sollte da nicht weiter stören. Der Prozess lieferte das willkommene Marketing für die kurz darauf erfolgte Verschlimmbesserung des Sexualstrafrechts. Wo sich verantwortungslose Politik, sendungsbewusste Medien und eine aufgepeitschte Öffentlichkeit in dieser Weise die Bälle zuspielen, entstehen die Echokammern des Tugendterrors. „Gesicht zeigen“ lautet die Devise aller Beteiligten.

Journalismus oder Aktivismus?

Die Ära, in der seriöse Medien die Grenzen ihrer Zuständigkeit kannten, scheint bald der Vergangenheit anzugehören. In Zeiten der kollektiven Gesinnungskuschelei ist es um die Neutralität von Journalisten schlecht bestellt. Die warme Einigkeit, zu der #MeToo alle „Wohlmeinenden“ einlädt, verführt allzu leicht zum Aktivismus. Selbst die Zeit kann der Verlockung nicht mehr widerstehen, ein Paid-Content-Tribunal zu veranstalten, um der #Me-Too-Kampagne mit Dieter Wedel endlich auch einen prominenten deutschen Namen zuzuführen. Vergessen ist da die wohltuende Umsicht, mit welcher die Zeit im Verlauf des Prozesses gegen Jörg Kachelmann noch 2011 konsequent vor der existenzvernichtenden Wirkung unbewiesener Vergewaltigungsvorwürfe gewarnt und die konsequenten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Beschuldigten moniert hatte. Es ließe sich wohl darüber philosophieren, ob dieser tragische Absturz eines ehemaligen Leitmediums dem veränderten gesellschaftlichen Klima zuzuschreiben ist, oder ob es sich genau umgekehrt verhält.

Der ehemalige Bundesrichter und Ex-Zeit-Online-Kolumnist Thomas Fischer schrieb vor wenigen Tagen in einem Gastbeitrag auf meedia.de:

„Das Tribunal, dessen vernichtendes Ergebnis allseits schon festzustehen scheint und das von der Zeit-Redaktion sogar immer wieder ausdrücklich als Voraussetzung (!) der Veröffentlichung genannt wird (‚wir halten die Frauen für glaubhaft; deshalb berichten wir‘), ist auf Maßlosigkeit angelegt. Es löst die Abgrenzungen zwischen Straftaten und Belästigungen, krimineller Energie und Alltag, Personen und Systemen auf und romantisiert die ‚Aufdeckung‘ längst verjährter (angeblicher) Straftaten zum Dienst an einer besseren Welt.“ 

Wehe dem, der als Beschuldigter in die Fänge solch scheinbar edler, hilfreicher und guter Medienschaffender gerät. Unabhängig davon, was er nun tatsächlich getan oder nicht getan hat, wird er seines Lebens nicht mehr froh in dieser neuen, besseren Welt!

„Ich sage, dass, wer immer in diesem Augenblick zittert, schuldig ist, denn die Unschuld hat von der öffentlichen Überwachung nichts zu befürchten.“ – Am 28. Juli 1794 starb Maximilien Robespierre in Paris ohne vorherigen Prozess unter der Guillotine.

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