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Plural-Egoismus - Das Gerede vom „Wir“ beschneidet die Freiheit

Wenn das Wir entscheidet, wird das Ich bevormundet: Die inflationäre Rede vom „Wir“ bemäntelt oft ein großes Ego. Es ist Zeit für eine neue Philosophie der Freiheit 

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Sofern sich 2013 nichts Umwerfendes mehr ereignen sollte, stehen Wort und Unwort des Jahres bereits fest: das Wir und das Ich. Letzteres hat gute Chancen, auf die Liste der bedrohten Wörter zu gelangen. Denn wer Ich sagt, ist ein Egoist und Ellenbogenmensch, ein Raffke und Gierschlund. Das Wir hingegen ist die neue Zeit. Es verheißt Aufbruch und Aufstieg, ein Zeitalter der Menschlichkeit und Solidarität. So lauten die Slogans überall, mit denen derzeit Herz und Hirn verkleistert werden.
 
Einmal wollte die SPD mit der Zeit gehen und lieh sich für den Bundestagswahlkampf das Motto einer Leiharbeitsfirma und behauptet nun, „Das Wir entscheidet“. Wer dieses absolut souveräne, radikal dezisionistische Wir sein soll, wen es umfasst, wen es ausschließt, lässt sie im Dunkeln. Der Verdacht liegt nahe, es könnte mit dem Wir ein sozialdemokratisch verwalteter Staatsapparat sein.
 
Jeder Appell an ein Wir trägt diesen definitorischen Makel. Der Wir-Rausch schwemmt die Begriffe hinweg. Er basiert auf einer hochverdichteten, hochproblematischen Redefigur, die nie auskommt ohne Kasernenton – das Wir braucht oder muss – und nie ohne den meist verschwiegenen Zusatz „… und die anderen“. Das Wir gemeindet ein und verstößt im Namen eines kraftmeierischen Ich, das scheinbar von sich absieht, um desto größer sich aufzublähen, bis hin zum Praeceptor Germaniae, der im Pluralis Majestatis verkündet, wo es langgehen soll.
 
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Sanfte Töne, in denen das Wir sich ausspricht, sind kein Widerspruch. Jedes öffentlich eingeklagte Wir ist ein Peitschenknall, mit dem das Individuum zurechtgestutzt werden soll. Auch Altbischöfin Margot Käßmann steht da nicht abseits. In ihrem neuen Buch annociert sie Wege, wie „wir die Welt verbessern können“. Die Käuferschar liest von „Bildern der Zukunft, die wir dringend brauchen“, auch „brauchen wir Alternativen und ermutigende Beispiele“, sollten wir „gegen das Unrecht“ antreten und könnten etwa „das Auto abschaffen, bewusst einkaufen, Unterschriften gegen Rüstungsexporte sammeln, uns bei der ‚Tafel‘ ehrenamtlich engagieren“. Margot Käßmann sieht es so. Bei der Volte aber vom Ich, das wirbt, zum Wir, das fordert und Unterschiede einebnet, bleiben die Freiheitsrechte des Individuums gerne auf der Strecke. Das Ich, das sich zum Wir verkleidet, ist sich selbst nicht genug. Es ist auf Gefolgschaft aus und Akklamation, nicht auf Diskurs und Dialog. Es ist ein Imperator in der Hosentasche.
 
So viel Wir war selten. Autoren und -innen wissen genau, „warum wir uns vom Kapitalismus befreien müssen“ (Jutta Ditfurth), „warum wir uns ändern müssen“ (Alois Glück), „warum wir wieder lernen müssen zu empfinden“ (Arno Gruen), „warum wir in die Natur zurückfinden müssen“ (Helmut Schreier), „warum wir einen neuen Generationenvertrag brauchen“ (Claus Hipp). Gewiss, auch das Marketing führt Regie. Wer den Eindruck erweckt, die Menschheit, das maximale Wir, hinter sich zu scharen, erscheint als Kassandra mit Kennermiene, als globaler Kümmerer. Gerade die Deutschen schätzen es oft, wenn man sich um sie kümmert und sie bei der Hand nimmt. Wenn indes nun auch der ehemalige Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzende Edzard Reuter in der Beletage des Schurigelns angekommen ist, eine „Republik der Egoisten“ verurteilt und „unsere Denk- und Handlungsweisen“ zu ändern befiehlt, denn „wir sind drauf und dran, unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen“, – dann klopft der Unernst an die Tür. Weit eher ist Deutschland bekanntlich das Land des sozialen Engagements, unbeschadet individueller Ego-Exzesse.
 
Weit fortgeschritten in der Disziplin des entgrenzten Wir-Geredes ist das erfolgreiche Autorenduo Michael Hardt und Antonio Negri. Die Vordenker der „Occupy“-Bewegung versprechen in ihrem neuen Buch Aufschluss: „Wofür wir kämpfen“. Dieses Wir, das laut Titel einer (natürlich mit Ausrufezeichen hinausposaunten) „Demokratie!“ den Weg bahnen will, ist über die erste Person Plural der Professoren hinaus die Avantgarde des Volkes, „Multitude“ geheißen. Ihr rufen die beiden zum Wir erhöhten Iche zu: „Wir können nicht heilen, solange die am Hebel sitzen“ – die Mächtigen aller Couleur. Damit „das Gemeinschaftliche“ herrsche, „müssen wir die Freude an der politischen Beteiligung neu entdecken“ und die parlamentarische Demokratie überwinden. Dazu gebe es „keine Alternative. Wir sind auf der Titanic, und Verarmung und Vereinzelung machen unser Leben grau und leer.“ Pardon: Jedes Leben lebt sich individuell, „unser Leben“ kann nicht grau und leer sein – wer also ist Wir? 
 
Kein ganz neuer Hut ist die Feier des Wir bei tendenzieller Abwertung des Ich, das doch Ort sämtlicher Weltwahrnehmung und -gestaltung bleibt. Der Journalist Christian Schüle skizzierte 2009 einen Weg „Vom Ich zum Wir“, forderte „Rückbindung an die Gemeinschaft“ und eine „Charta des Gemeinwohls“, eine neue „Wir-Norm“. Auch Hardt/Negri wünschen sich eine „Verfassung für das Gemeinsame“. Der Rede vom Wir ist die Liebe zum Kodex fest eingeschrieben. Ein Jahr nach Schüle verlangte der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski schlicht, doch mit Ausrufezeichen mehr „Wir!“ Der „Solitär“ müsse sich zum „Solidär“ entwickeln, das „Zeitalter gemeinsamen Lebens“ beginnen.
 
Opaschowski verschwieg die Abgründe nicht. Das Wir-Bewusstsein sei nötig „im Kampf ums Leben und Überleben in schwierigen Zeiten“. Im Wir-Gefühl werde „das Vertraute über alles andere gestellt und das Bodenständige und das Immer-so-Gewesene wieder geschätzt“. Im Zentrum eines solchen Denkens stünden „Heim und Heimat“ und „die Gleichgesinnten“. Hardt/Negri sprechen dann aus, was Nicht-Gleichgesinnten droht: „Wir müssen die Kirchen der Linken räumen, ihre Türen verrammeln und sie niederbrennen!“
 
Derlei Aufruf ist gewiss nicht für bare Münze zu nehmen, die Rhetorik aber lässt tief blicken. Wo ein Wir herrscht, hat jedes Ich, das nicht mitmacht, schlechte Karten. Maximilien de Robespierre rief im Namen des großen Wir und der ihm unterstellten Tugenden einen „Despotismus der Freiheit“ aus. „Wir“, sagte er am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, „wollen in unserem Lande die Moral gegen den Egoismus (…), die Grundsätze gegen die Gewohnheiten, die Pflicht gegen die Höflichkeit (…) eintauschen“. Bedroht sei dieses brachiale Wir von Menschen, die er für vogelfrei erklärte, namentlich dem „Schwarm von Ausländern, Priestern, Adligen und Intriganten, die sich heute auf dem Boden der Republik breitmachen“. Kein anderes Wort als das abgründige Wir ist deshalb auch der Refrain jener zutiefst deutschen Collage, die Elfriede Jelinek 1990 unter dem Titel „Wolken. Heim.“ aus Texten Hegels, Hölderlins, Fichtes zusammenstellte. „Wir sind bei uns“, hieß es da immer wieder, „wir sind wir und wohnen gut in uns.“
 
Natürlich: Niemand wird sich einen grenzen- und verantwortungslosen Egoismus wünschen, und nicht jeder, der zur Herrschaft des Wir aufruft, trägt den Dolch im Gewande. Alle Rede vom Wir aber vernebelt das Subjekt, grenzt aus und beschneidet die Freiheit. Zudem – darauf hat der Philosoph Michael Pauen hingewiesen – „stammt die Ablehnung des Egoismus aus Zeiten, die auch der individuellen Entfaltung skeptisch gegenüberstanden“.
 
Was heute nottut, scheint mir, ist nicht der zwiespältige und oft verlogene Appell an ein diffuses Wir, der eigene Interessen bemäntelt. Was heute nottut, scheint mir, sind eine neue Philosophie und eine neue Praxis der Freiheit, die eben immer eine hochindividuelle Sache ist. Nur dann kann Platz geschaffen werden für eine vom moralistischen Wir-Radau verhinderte neue Moral. Alle Moralität, wusste schon der große liberale Historiker Lord Acton, beruht auf Freiheit. Nicht vom Wir der Politik, dem Wir einer Partei, dem Wir eines Staates, dem Wir einer Nation oder dem Wir eines frei schaffenden Missionars wächst der Weltgesellschaft Freiheit zu, sondern vom einzelnen Menschen, der Person. 
 
Darum plädiere ich dafür, weniger Käßmann, Hardt, Negri und SPD zu lesen und mehr Jens Bjørneboe. Der weithin vergessene norwegische Freiheitsdenker sagte schon 1956, das „Zeitalter des Bevormundermenschen“ sei angebrochen. Dagegen gebe es aber ein Kraut: den einzelnen Menschen. Viele Zeitgenossen hätten die eigentliche Idee der Freiheit leider vergessen, das Bewusstsein, dass Freiheit täglich erobert werden muss. Stattdessen werde „das Zeitalter des Bevormundermenschen als etwas Natürliches anerkannt, sogar von denen, die darunter leiden“. Der nächsten Generation, schloss Bjørneboe, sei es deshalb aufgegeben, „Ritter und Verteidiger des Menschen zu werden.“ Die Zeit ist da. 
 

 

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