„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“, soll August Heinrich Hoffmann von Fallersleben einmal gesagt haben. Fallersleben, auf den die deutsche Nationalhymne zurückgeht, kämpfte dereinst für bürgerliche Freiheitsrechte, ist in öffentlich zugänglichen Quellen zu lesen – und da passen Petzen freilich nicht so recht ins Programm. Nun lässt sich mit Fug und Recht leider behaupten, dass der Hang zur Blockwarterei tief verankert scheint in der deutschen Seele. Ob Fallersleben das bewusst war, ist nicht überliefert, aber Gründe zu dieser Annahme gibt es reichlich.
Wohin der deutsche Hang zum Denunziantentum führen kann, haben wir beispielsweise in der DDR gesehen, die ohne ein weit verzweigtes Spitzelsystem vielleicht schon viel früher zu Ende gegangen wäre. Und wir durften Ähnliches – wenn auch in sehr stark abgemildeter Form freilich – während der vergangenen zweieinhalb Jahre Corona-Pandemie erleben, als sich Nachbarn wie Wildfremde rege beteiligten an der Durchsetzung noch der dümmlichsten oder zumindest strittigsten Corona-Maßnahmen, darunter Ausgangssperren oder Besuchsobergrenzen in den eigenen vier Wänden.
Kurzum: Der Autor dieser Zeilen, in Süddeutschland geboren, meinte seit Mitte 2020 zumindest einen kleinen Eindruck bekommen zu haben, wie das damals in der DDR alles funktionieren konnte, dass sich am Ende sogar Ehepartner bespitzelt haben. Und weil die Deutschen eben nicht nur einen Hang zum Denunziantentum, sondern folgerichtig auch eine gewisse Sensibilität dafür entwickelt haben, wenn es irgendwo nach selbigem riecht, ist das etwas heikel – und taugt nicht besonders gut als Thema, wenn man als Politiker oder Landesregierung gemocht werden will.
Bereits eine Vielzahl an Einrichtungen vorhanden
Das bekam jüngst auch das Familienministerium des Landes Nordrhein-Westfalen zu spüren. In NRW gibt es bereits eine Vielzahl an Einrichtungen, die sich mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Fällen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beschäftigen, darunter allein 42 Beratungsstellen für „insbesondere von rassistischer Diskriminierung Betroffene“. Dieses Angebot soll nun – weil Steuergelder ja auch irgendwo hinfließen müssen, bevor sie schlecht werden – um weitere vier Meldestellen ergänzt werden: eine für „Queerfeindlichkeit“, eine für „antimuslimischen Rassismus“, eine für „Antiziganismus“ sowie eine, die „anti-Schwarzen, antiasiatischen und weitere Formen von Rassismus“ protokollieren sollen.
Der Ansatz ist, anderes soll niemandem unterstellt werden, wohl gut gemeint. Allerdings, und das ist der eigentliche Grund für diesen Beitrag, findet sich im Konzept, das das Familienministerium unter Führung der zuständigen Ministerin Josefine Paul (Grüne) für diese Meldestellen vorsieht, eine Formulierung, die aufhorchen lässt. Demnach sollen diese Meldestellen nämlich auch „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ erfassen, analysieren und protokollieren. Nanu, fragt sich nun manch Beobachter zu Recht: Was sollen das denn für Vorfälle sein? Und warum werden sie im Auftrag einer Landesregierung überhaupt protokolliert, wenn sie gar nicht strafbar sind?
Ein Hauch von Gesinnungsschnüffelei
Kaum war eine entsprechende Pressemitteilung in der Welt, regte sich nicht zuletzt in den sozialen Medien bereits Widerstand. Von „DDR-Verhältnissen“ und einer „Stasi 2.0“ war die Rede. Der Autor dieser Zeilen findet zwar, dass das vielleicht ein bisschen sehr überspitzt ist, die Skepsis gegenüber den neuen Meldestellen – oder zumindest gegenüber dem, was sich über selbige aus der Pressemitteilung des zuständigen Ministeriums entnehmen lässt – ihre Berechtigung hat.
Denn die Rede von den „Vorfällen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ hat schon so einen Hauch von Gesinnungsschnüffelei und lässt auf den ersten Blick den Verdacht aufkommen, es ginge den Verantwortlichen und Beteiligten nicht nur darum, echte Fälle von Rassismus und anderem zu dokumentieren, sondern auch unliebsame Meinungen, die im Zuge der Debatten um Ausländerkriminalität oder das von der Bundesregierung geplante Selbstbestimmungsgesetz geäußert werden, bereits als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu etikettieren und in die Statistik aufzunehmen.
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Cicero hat deshalb bereits in der vergangenen Woche eine Anfrage an das, so der volle Name, Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen gestellt. Unter anderem wollten wir wissen, ob das Ministerium in der Lage ist, konkrete Beispiele für „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ zu nennen und auf welcher juristischen Basis diese neuen Meldestellen eigentlich in welcher Tiefe und Breite dokumentieren werden. Wir wollten wissen: Was genau hat das Ministerium mit diesen Meldestellen vor?
Landesregierung kann „Hassrede“ nicht definieren
Nun müsste man eigentlich davon ausgehen, dass ein Ministerium erst ein umfangreiches Konzept ausarbeitet – das unter anderem bereits allerlei Fragen und Nachfragen, die sicherlich kommen werden, beantwortet –, bevor ein Vorhaben öffentlich gemacht wird. In einer ersten Antwort an Cicero heißt es unter anderem: „Neben Antisemitismus sind auch Antiziganismus, antimuslimischer Rassismus, anti-Schwarzer Rassismus und Queerfeindlichkeit ernstzunehmende Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, die wir in Nordrhein-Westfalen nicht tolerieren.“ Und weiter: „Ziel der Meldestellen ist es, Diskriminierung sichtbarer zu machen und das sogenannte ,Dunkelfeld‘ zu erhellen.“
Bekanntermaßen ist das Ziel aber das eine, der Weg dorthin wiederum etwas anderes. Und genau hier scheint es bei der Landesregierung rund um die neuen Meldestellen noch einige Fragezeichen zu geben. Zwar wird versichert, dass die Vorfälle nur anonymisiert protokolliert, also personenbezogene Daten nicht erhoben werden, und dass keine Kompetenzüberschreitungen mit den Strafverfolgungsbehörden bestünden – ergo: die protokollierten Vorfälle nicht an diese weitergeben werden. Es heißt aber auch: „Weitere Aspekte können sich erst nach der Etablierung der Meldestellen, die derzeit in der Aufbauphase sind, ergeben.“
Konkrete Beispiele für „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ nannte das Ministerium erstmal nicht. Als Antwort auf eine erneute Rückfrage hieß es dann:
„Unser Erkenntnisziel liegt darin, auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage zu erfahren, wo, in welcher Form und wie oft Diskriminierung passiert, angefangen bei strafrechtlich nicht relevanten Vorfällen wie zum Beispiel das Zuraunen von Unflätigkeiten, das Ausspucken auf die Straße im Vorbeigehen, obszöne Gesten bis hin zu strafrechtlich relevanten Vorfällen wie Hausschmierereien, über Tierkadaver vor Moscheen und Grabstein-Schädigungen sowie Hate-Speech und Hass-Kommentaren, in denen Personen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe (etwa Religion, sexuelle Orientierung oder Identität, Geschlecht oder Ethnie) diskriminiert werden.“
Interessant ist nun, dass das Ministerium bei der Definition, was „Hassrede“ sein soll – schließlich dürfte es hier mit Blick auf die sozialen Medien vor allem im Internet zu entsprechenden Vorfällen kommen, die dann wiederum bei den Meldestellen auflaufen – auf die Landeszentrale für politische Bildung NRW (LpB.nrw) verweist, also sich selbst offensichtlich nicht in der Lage sieht, den Begriff „Hassrede“ zu definieren, was allerdings durchaus wünschenswert wäre, wenn man „auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage“ irgendwelche Erkenntnisse gewinnen will.
Schließlich entstehen die neuen Meldestellen im Auftrag der Landesregierung und werden auch von ihr finanziert. Und am Ende – das ist nur logisch – muss eben irgendwer, der entsprechende Befugnisse innerhalb dieser Meldestellen hat, entscheiden, was noch freie Meinungsäußerung ist – und was schon „Hassrede“ und damit protokolliert wird. In welcher Form auch immer. Interessant dürfte zum Beispiel sein, wie sich Äußerungen in den sozialen Medien protokollieren lassen, ohne auch nur einen Hauch von personenenbezogenen Daten zu erheben. Und wer filtert die in erster Instanz dann eigentlich verlässlich raus, bevor der Vorfall irgendwo gespeichert wird?
Ergebnisse werden auch Einfluss auf die Politik haben
Die LpB.nrw jedenfalls schreibt, dass unter „,Hassrede‘ in der Regel abwertende, menschenverachtende und volksverhetzende Sprache und Inhalte“ verstanden werden, „welche die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten.“ Gleichzeitig wird eingeräumt: „Es gibt jedoch keine klare, allgemein akzeptierte Definition, und ,Hatespeech‘ ist kein juristisch definierter Begriff.“ Heißt im Klartext: Was das Ministerium „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ nennt, ist bisweilen dann Ermessenssache, man könnte auch sagen, Sache des Gefühls. Denkt man das in Zusammenhang mit den Meldestellen konsequent weiter, wird deutlich, dass die gesammelten Fälle am Ende nur bedingt aussagekräftig sein werden. Wenn sie das aber nicht sind, wie soll dann eine nüchterne und wissenschaftlich fundierte Analyse aussehen?
Das Ministerium lässt gleichwohl wissen: „Die Landesregierung will damit die Voraussetzungen schaffen, mit Prävention, Intervention und Sensibilisierung erfolgreicher gegen Diskriminierung vorgehen zu können.“ Heißt, dass die Ergebnisse der neuen Meldestellen mindestens indirekt auch Einfluss haben werden auf künftige politische Entscheidungen der schwarz-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen. Warum auch das ein bisschen problematisch ist, zeigt weiter ein Blick auf jene Partner, die für den Aufbau der neuen Meldestellen ausgesucht wurden. Diese sind vor allem Interessens- und Lobbyorganisationen, darunter der Verein Geschlechtliche Vielfalt Trans* NRW, der sich als „Landesverband der lokalen und regionalen Trans*-Gruppen“ versteht, oder der Landesverband der Netzwerke von Migrant*innenorganisationen NRW, das unter anderem sogenannte „Diversity-Berater*innen“ ausbildet.
Jahresberichte werden reichlich Diskussionsstoff bieten
Nun steht außer Frage, dass solche Organisationen und Vereine in den Aufbau entsprechender Meldestellen involviert werden müssen. Schließlich hat jemand, der selbst trans ist oder „migrantisch gelesen“ wird, wie es mittlerweile häufiger heißt, vielleicht auch die feineren Antennen für transfeindliche oder rassistische Umtriebe. Allerdings muss sich die Landesregierung in NRW zumindest den Vorwurf gefallen lassen, dass es, wenn schon „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ dokumentiert werden sollen, eigentlich auch nicht-interessensgeleitete Korrektive bräuchte, damit die involvierten Interessensverbände den Bogen nicht überspannen.
Wenn Sie den Autor dieser Zeilen fragen, ist so eine am Ende halbwegs nüchterne Ergebnisanalyse kaum möglich und ganz sicher wird dadurch keine „solide wissenschaftliche Grundlage“ geschaffen, weil ein Prinzip wissenschaflichen Arbeitens eben darin besteht, dass Dritte die Ergebnisse einer Person oder Institution erstmal auf ihre Plausbilität abklopfen müssen, bevor diese Ergebnisse veröffentlicht werden. Insbesondere, wenn die ersten Instanzen, was bei Lobbyverbänden und -organisationen der Fall ist, selbst Partei sind.
Bereits heute, Fragezeichen hin oder her, scheint deshalb klar: Die ersten Jahresberichte der neuen Meldestellen werden für reichlich Diskussionsstoff sorgen. Auch zur Frage wahrscheinlich, ob hier versucht wird, die freie Meinungsäußerung in der gesellschaftlichen Debatte über zum Beispiel Identitätspolitik zumindest einzudämmen, indem interessengeleitet und par orde du mufti definiert wird, was noch im Bereich des Sagbaren liegt – und was nicht. Was wohl Fallersleben dazu sagen würde?
Im Cicero-Podcast spricht Sandra Kostner (hier Klicken für Links zu Spotify und Co) vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit über den wachsenden Einfluss von Ideologien in Forschung und Bildung.