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Abschied und Neuanfang - Warum wir „Scheiße“ ruhig sagen dürfen

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Für unsere Autorin ist es an der Zeit, mit alten Gewohnheiten zu brechen. Doch ein Neuanfang bedeutet auch, Sicherheiten zu zerstören. In ihrer letzten Kolumne schreibt Marie Amrhein über bröselnde Gewissheiten und darüber, warum eine Krise vor allem eines ist: ein Wendepunkt

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Scheiße ist so ein Thema bei uns auf dem Hof. Hühnerscheiße liegt im Garten, Gänsescheiße klebt an meinen Schuhen, Pferdescheiße stapelt sich auf dem Misthaufen. Die Fliegen scheißen sogar an die Lampe – von unten nach oben. Ich frage mich seit geraumer Zeit, wie sie das machen. Scheiße ist hier kein Schimpfwort, es ist in erster Linie eine Bestandsaufnahme.

Viele Neu-Eltern meiner Generation aber verbieten ihrem Nachwuchs, das S-Wort in den Mund zu nehmen. Die apodiktische Schelte, „Scheiße sagt man nicht“, schmieren mir in der Folge schon naseweise Vorschulkinder aufs Brot. Ach je, dabei wüsste ich so viele hässliche Dinge, die ich meine Kinder bitte nie werde sagen hören müssen und „Scheiße“ gehört definitiv nicht dazu.

Kleinkarierter Mist


Warum die Bestürzung über ein Wort, das an Vulgarität und Tabulosigkeit in der Praxis ständig übertroffen wird? Warum der kleinkarierte Mist, vererbte Verbote aus dem Affekt anzuwenden, ohne sie zu hinterfragen? Viel zu vieles, das seit Jahrzehnten von Eltern und Großeltern gepredigt wird, übernehmen wir noch heute.

Wir schreiben uns Aufklärung auf die Fahnen und verschanzen uns dann doch mit unseren Glaubenssätzen in unseren kleinen Universen. Ist dann auch egal, ob die hinter akkuraten Buchsbaumhecken, Verschlägen von Bauwagenbrettern oder hohen Mauern im Villenviertel liegen.

Antworten statt Fragen


Das Gefühl, auf dem rechten Weg zu sein und statt vieler Fragen nur noch Antworten zu kennen, ist en vogue. Dabei wäre gerade heute ein guter Moment, ein paar Glaubenssätze auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Rechts wie links zu schauen, mal mit einem AfD-Wähler ins Gespräch zu kommen oder auch einen Merkel-Fan zu befragen, warum er mit Zuversicht durchs Leben geht, wo andere nur Schatten sehen. Vermutlich ließe sich dann vieles voneinander lernen.

Ich habe dieses Anliegen in den knapp fünf Jahren meiner Kolumnistenschreiberei schon ein paar Male zu Papier gebracht. Aber je länger die sogenannte Flüchtlingskrise anhält, desto virulenter wird die Neigung meiner Mitmenschen, an alten Überzeugungen festzuhalten und irrationale Ängste das Leben beeinflussen zu lassen. Und das gerade in den Regionen, in denen der Zuzug von Ausländern bisher den geringsten Einfluss auf das Leben der dortigen Menschen hatte.

Wenn Gewissheiten bröseln, wackelt die Seele


Es wäre wirklich an der Zeit, alte Gewohnheiten aufzubrechen, um Raum zu schaffen für neue Dinge. Aber das bedeutet, zuallererst einmal Sicherheiten zu zerstören. Und wenn Gewissheiten bröseln, wackelt die Seele. Auf der anderen Seite aber gibt es neue Erfahrungen und Erkenntnisse, die auf uns warten. Die krisis – im Griechischen – ist nicht nur Höhe- sondern vor allem auch Wendepunkt. Das kann man sich ruhig mal klar machen.

Ich habe das Gefühl, auch für mich ist es an der Zeit, inne zu halten, zu überdenken, zu hinterfragen. Deswegen war dies hier meine letzte Kolumne. Die Seele wackelt mitunter ein bisschen. Vor allem aber bin ich gespannt, was nun kommen mag.

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