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"Narzisstisch und beziehungsgestört!"

Der renommierte Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz setzt sich seit Jahrzehnten mit den Wechselwirkungen von Psyche und Gesellschaft auseinander, unter anderem in seiner berühmten DDR-Diagnose "Der Gefühlsstau". Jetzt hat er sich mit der Lust beschäftigt. Und zieht eine fatale Bilanz.

Wie würden Sie unsere Gesellschaft aktuell beschreiben – als sexualisierte Gesellschaft? Wir sind eine – bezogen auf Sexualität – hysterisierte und narzisstisch beziehungsgestörte Gesellschaft. Deshalb blühen die Geschäfte mit Sex-Ersatz wie Prostitution, Pornografie und einem Sexmarkt mit „Spielzeugen“ und Potenzmitteln. Aber Viagra beispielsweise ist kein Potenzmittel und kein Beziehungsmedikament, sondern fördert nur die Durchblutung für eine Erektion. Was man(n) damit anfängt, löst nicht das Problem der Lust und der Beziehungsstörungen. Der schlaffe Penis ist oft weiser – organische Ursachen ausgenommen –, als das narzisstisch gestörte Paar wahrhaben will. Welche Ursachen hat die umfassende Sexualisierung der Gesellschaft? Eine sexualisierte Gesellschaft – wie die gegenwärtige – signalisiert eine Form der Luststörung. Was an individueller Hingabe und Liebe nicht mehr gelingt, das soll durch äußere Attribute und hysterisierte Geilheit ausgeglichen werden. Ein solcher Ersatz zeigt immer die Tendenz zu süchtiger Steigerung der Darstellungen und dem Gerede und Getue und vor allem ein nicht zur Entspannung führendes sexuelles Erleben. Wirkliche Lust entspannt und verhält sich zyklisch im Rhythmus individueller Anspannung und Entspannung. Demonstrierte Lust bleibt unbefriedigend und muss deshalb ständig gesteigert und unendlich wiederholt oder ausgedehnt werden. Dazu darf auch die Konsum- und Wachstums-„Lust“ gezählt werden. Eine autoritäre Gesellschaft schüchtert die Menschen in ihrer Beziehungskultur ein und lässt sie vorsichtig und misstrauisch werden. Eine Wachstums- und Leistungsgesellschaft zwingt die Menschen in Konkurrenz und pervertiert Beziehungskultur zu Gier- und Neidstrukturen. Welche Rolle spielen die politischen Verhältnisse? In einem Ihrer Bücher geht es um den „Gefühlsstau“ der DDR-Bürger. Wie sieht Ihre Diagnose heute aus – im Osten, im Westen? Wir Deutschen in Ost und West haben unsere psychosozialen Beschädigungen – die im Nationalsozialismus ihren pathologischen Höhepunkt fanden – nicht wirklich verstanden oder gar aufgelöst. Die Spaltung Deutschlands hatte geholfen, individuelle Fehlentwicklung und Schuld kollektiv auf die poltisch-gesellschaftliche Gegenseite zu projizieren. Psychoanalytisch gesprochen handelt es sich auf beiden Seiten um erhebliche narzisstische Störungen, die im Westen im neuen Größenselbst des „Wirtschaftswunders“ und im Osten im Größenselbst der „sozialistischen Ideale“ ausagiert wurden. Der materielle Wohlstand in der BRD hat dazu beigetragen, die Illusion einer „Heilung“ als Realität anzunehmen. Das politische und ökonomische Desaster des „real existierenden Sozialismus“ hat die narzisstische Krän kung verstärkt, im Sinne einer „Retraumatisierung“. In der unbewältigten narzisstischen Problematik ergänzen sich West und Ost wie „Obertan“ und „Untertan“ – und keiner ist wirklich besser dran –, es sind nur zwei Seiten derselben lusttötenden Medaille. Ihr nächstes Buch heißt „Die neue Lustschule“. Müssen wir die Lust erlernen? Ist sie nicht eine anthropologische Tatsache? Die Lustmöglichkeit ist eine anthropologische Tatsache wie die Möglichkeit zu sprechen oder Gefühle zu entwickeln. Aber ihre Entfaltung muss erlernt und geübt werden, da es viele äußere Einflüsse auf Lustentfaltung und Lusterfahrung gibt – Erziehung, gesellschaftliche Normen, moralische Werte, aber auch viele innere Einflüsse, wie Ängste, Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle. Halten Sie die schulische Aufklärung für ausreichend? Oder müsste es ein Fach Sexualität geben, das alle Aspekte – von Verhütung bis zu Gefühlen und Beziehungskultur – abdeckt? Die schulische Aufklärung ist völlig unzureichend. Sexualität ist die wichtigste Basis für die Gesunderhaltung des Menschen und für eine befriedigende Beziehung. Deshalb wäre ein Fach „Sexualität“ das allerwichtigste Lehrfach über die gesamte Schulzeit. In ein solches Fach gehören Gefühlskunde, Beziehungskultur, Ernährungslehre ebenso wie Entspannungstechniken, Sexualfunktionen, sexuelle Techniken und Varianten, Schwangerschaft, Verhütung, Infektionsschutz, Partnerschaft und Elternschaft. Politiker wirken oft asexuell – umso überraschter war man dann vom Doppelleben etwa eines Herrn Seehofer. Wäre ein bisschen mehr Alltagserotik auch in der politischen Sphäre ein inspirierendes Moment? Politiker mit gestörtem Sexualleben können keine gute Politik machen, sie sind nicht mit der Lust, der Liebe und der Natur im Kontakt – das wird ihre politischen Entscheidungen entsprechend beeinflussen und belasten: Viele Politiker dürften ein Doppelleben führen, weil sexuelle Bedürfnisse und Probleme leider immer noch verborgen werden müssen – was für eine bigotte Kultur spricht. Es ist ausgesprochen unwürdig und peinlich, wenn Politiker wie Clinton oder Seehofer ihre sexuellen und Beziehungswünsche verbergen und verleugnen müssen. Wer sich so selbst verleugnet, verliert an Vertrauen. Ein offener erotischer Umgang miteinander als Motivation für das Verhalten und für Entscheidungen wäre nicht nur ein inspirierendes Moment in der Politik, sondern würde auch einen viel respektvolleren und toleranteren Umgang mit dem politischen Gegner ermöglichen. Verbannte Erotik macht Zusammenleben kämpferisch-aggressiv und befördert Abwertungen, Kränkungen und Verletzungen. Idee und Ausführung eines Angriffskrieges können nur sexuell frustrierte Menschen entwickeln und befürworten. Foto: Picture Alliance Das Gespräch führte Christine Eichel

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